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# taz.de -- Nachruf auf Harper Lee: Ihrer Zeit voraus
> Harper Lee, US-Südstaaten-Autorin des Welterfolgs „Wer die Nachtigall
> stört“ und frühe Chronistin von Rassismus ist mit 89 Jahren gestorben.
Bild: Harper Lee im Jahr 2006.
Das muss man erst einmal schaffen: 1960 mit „Wer die Nachtigall stört“
einen Roman veröffentlichen, dessen ungewohnt offene Behandlung des Themas
Rassismus dem guten weißen Amerika einen geruhsamen Schlaf ermöglicht und
seither ein internationaler Bestseller ist. Und, kaum sind 55 Jahre
vergangen, im letzten Jahr mit genau demselben Thema, demselben Personal
und Setting, mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“ einen weiteren Bestseller
liefern. Harper Lee hat das getan.
Die 1926 in Monroeville, Alabama, geborene Autorin studierte zunächst
Rechtswissenschaften, gab das Studium aber auf, als sie feststellte, dass
sie weniger die Rechtsprechung als viel mehr das menschliche Drama hinter
den juristischen Fällen interessierte. Im Jahr 1957 finanziert ihr ein
befreundetes Ehepaar den Lebensunterhalt und ermöglicht ihr so die Arbeit
an ihrem Romandebüt.
„Wer die Nachtigall stört“ beschreibt aus Sicht der Erstklässlerin Scout,
wie ihr Vater, der Anwalt Atticus Finch, in den 1930er Jahren einen
Schwarzen verteidigt. Dieser ist der Vergewaltigung einer Weißen angeklagt
– die Verteidigung treibt den tief verwurzelten Rassismus im beschaulichen
Ort Maycomb (in dem sich Monroeville widerspiegelt) in Alabama an die
Oberfläche.
Die Ansiedlung der Geschehnisse in die Zeit der Weltwirtschaftskrise,
entfernt von den Rassenunruhen der 1960er Jahre, und das Aussprechen von
unangenehmen Wahrheiten aus Kindermund waren probates Mittel, die
Gesellschaft um 1960 mit einem am liebsten verdrängten, aber
allgegenwärtigen Thema zu konfrontieren.
## Angst vor dem Erwartungsdruck
Nach dem Welterfolg von „Wer die Nachtigall stört“ sah Harper Lee von
weiteren Veröffentlichungen ab – auch aus Angst, dem Erwartungsdruck nicht
standhalten zu können. Dies befeuerte Vermutungen, ihr Jugendfreund Truman
Capote könnte am brillanten Buch mitgetan haben. Capote, der als Scouts
Jugendfreund Dill in „Wer die Nachtigall stört“ verewigt ist, hat diese
Vermutungen stets befeuert.
Harper Lees 2015 zu Recht als literarische Sensation gefeierter zweiter
Roman „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist nicht nur dazu angetan, diese
Vermutung zu entkräften. Lee hatte das Manuskript, das als verschollen
galt, schon vor ihrem Bestseller geschrieben. Seine Handlung spielt in den
1950er Jahren. Die erwachsene Scout erkennt, dass ihr Vater auch ein
Rassist ist, und emanzipiert sich von ihm.
Auch dieser Roman ist eine glückliche Wendung für die literarische Welt: In
Harper Lees Kosmos ist nicht mehr alles schwarz oder weiß. Dass die
Umgangsweise mit dem Thema Rassismus oft bigott ist, entspricht ansatzweise
heutiger Wahrnehmung. Ob seine Autorin der Veröffentlichung zugestimmt
hätte, wäre sie nach einem Schlaganfall nicht gesundheitlich eingeschränkt
gewesen, bleibt ungeklärt.
Als Einzelgängerin lebte Harper Lee einen Großteil ihres Lebens
zurückgezogen in Monroeville. Und dennoch: Sie hat der Welt zwei Romane
geschenkt, die große Weitsicht beweisen. Am Freitag ist sie mit 89 Jahren
in ihrem Heimatort gestorben.
22 Feb 2016
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Literatur
Tagebuch
Punkrock
Jim Jarmusch
Übersetzung
London
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