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# taz.de -- Memoiren von Rockstar Chrissie Hynde: Anführerin der Gitarrengang
> Chrissie Hynde, US-Powerpop-Ikone und Augenzeugin des britischen Punk,
> hat mit „Reckless“ eine unterhaltsame Autobiografie veröffentlicht.
Bild: Unerschrocken: Chrissie Hynde auf der Bühne mit den Pretenders, 1979.
Erstaunlich, an was sich Chrissie Hynde alles erinnern kann. Denn glaubt
man der 1952 geborenen Sängerin und Gitarristin der britischen Powerpopband
Pretenders (deutsch Heuchler), hat sie ihr Leben von früher Jugend an bis
mindestens 1983 drogenumnebelt verbracht. Dann kam ihre erste Tochter zur
Welt.
An diesem Punkt endet Hyndes Autobiografie „Reckless. Mein Leben“. Dass sie
sich bereits ein Jahr später vom Vater des Kindes, Ray Davies – Sänger der
Kinks –, trennt und noch im selben Jahr Jim Kerr von den Simple Minds
heiratet und mit ihm auch eine Tochter bekommt, deutet sie nur an. Auch
politisches Engagement, Eintreten für Vegetarismus und spätere
Musikaktivitäten, etwa ihr 2014 veröffentlichtes Soloalbumdebüt, sind kein
Thema.
Im Original tragen ihre mit zahlreichen Fotos bebilderten Erinnerungen den
Untertitel „My Life as a Pretender“. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass
für Chrissie Hynde mit „Pretenders II“ von 1981, dem zweiten und letzten
Album in Originalbesetzung – Gitarrist James Honeyman Scott starb 1982 an
einer Überdosis, der zuvor wegen seiner Drogensucht entlassene Bassist Pete
Farndon 1983 – die Zeit des Heuchelns vorbei war.
## In der Gummireifenstadt
Die Zeit vor jenen Tiefschlägen beschreibt sie als Suche einer
Ausgegrenzten nach sich selbst. Erst in der Retrospektive wird deutlich,
dass sie ihr (unbewusstes) Ziel, Anführerin einer „Motorradgang, nur mit
Gitarren“ zu werden, nie aus den Augen gelassen hat. Geboren und
aufgewachsen in Akron im US-Bundesstaat Ohio, nennt sie die
Gummireifenstadt am Eriesee im Mittelwesten ihren dritten Elternteil. Hynde
fallen als Erstes Bäume ein, wenn sie an die Industriestadt denkt. Ihre
leiblichen Eltern sind adrett, sauber und wertkonservativ. Doch sie weigert
sich, das geordnete Leben eines Mittelklassemädchens zu führen.
Dass Chrissie Hynde anders tickt als die „beliebten Mädchen“, ist ihr früh
bewusst: Mode und Jungs lassen sie lange kalt: „Wir hatten Besseres zu
tun.“ Die von ihr ohnehin argwöhnisch betrachteten Freiheiten der sexuellen
Revolution genießt sie erst spät. Ihre Liebe gilt der Musik. Radiosender
stellen Anfang der Sechziger ihr Programm auf Beatmusik um: Was Hynde als
„Underground“ bezeichnet, sind Songs von den Beatles, Rolling Stones und
Kinks, etwas später Velvet Underground und David Bowie.
Der britische Sound entflammt in ihr eine Sehnsucht: 1973 kommt sie
erstmals nach London. Bis dahin besucht sie so ziemlich jedes Rockkonzert
in Akron und lernt viele Musiker kennen. Ein Mehrwert von „Reckless“ ist,
dass Hynde ihre Erinnerungen mit der Beschreibung des gesellschaftlichen
Wandels in den USA der sechziger Jahre verzahnt und den Generationskonflikt
anschaulich darstellt. Schon die Tatsache, dass sie im Autoland USA immer
zu Fuß unterwegs ist oder wie jemand aus der Unterschicht den Bus nimmt,
ist subversiv.
## Fastfood und Musikjournalismus
Während des Studiums jobbt sie in Fastfoodläden, später in London schreibt
Hynde auf Vermittlung ihres Freundes, des Musikjournalisten Nick Kent, für
den NME und arbeitet als Verkäuferin, unter anderem in der Boutique SEX von
Vivienne Westwood und Malcolm McLaren. Auch hier spannt Hynde den Bogen
weiter, beschreibt den Kulturschock, den sie als US-Amerikanerin in Europa
erlebt.
Die Swinging Sixties hat Hynde nur am Radio erlebt, aber bei der Geburt von
Punk in London ist sie hautnah dabei. Sid Vicious will sie sogar heiraten,
um ihren Aufenthaltsstatus in England zu sichern. Daraus wird aber nichts,
weil die Sex Pistols plötzlich berühmt und berüchtigt werden. Mit Mick
Jones von The Clash brütet sie über Songs, begleitet die Band auf Tour. Sie
liebt die aggressive politische Kraft von Punk. „Das Einzige, was nervte,
war das ewige Anrotzen.“ Clash-Sänger Joe Strummer habe nach Konzerten
ausgesehen, wie eine mit Taubenscheiße bekleckerte Statue.
Uneitel erzählt Hynde Episoden vom eigenen Scheitern. Umjubelte Konzerte,
die die großartige Sängerin mit der dunklen, gleichwohl sachlichen und
wollüstigen Stimme mit den Pretenders gibt, empfindet sie als Desaster.
Erlebnisse mit Schulfreundinnen schildert sie im selben unaufgeregten Ton
wie später die mit berühmten Freunden. Hyndes Erinnerungen sind auch ein
Plädoyer dafür, einen vorgezeichneten Lebensweg zu verweigern und
stattdessen selbstbewusst und unerschrocken für Ideale einzustehen – selbst
wenn unklar ist, wie das gelingen soll. Was leider fehlt, ist eine
Zeitleiste und eine Namensliste, die die erwähnten MusikerInnen vorstellt.
9 Mar 2016
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Punkrock
Memoiren
Elvis Costello
deutsche Literatur
Punkrock
Grace Jones
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