# taz.de -- Tagebuch von Nick Cave: Rauchen und schreiben im Hotel | |
> Was dem Rockstar während einer Konzerttournee einfällt: In Nick Caves | |
> zweisprachigem Buch „Das Spucktütenlied“ geht es melancholisch und lustig | |
> zu. | |
Bild: Hat gut lachen: Nick Cave | |
Wäre Nick Cave Mitte 20, hätte er sein „Spucktütenlied“ wahrscheinlich in | |
Form eines Blogs veröffentlicht. Als der Musiker und Autor 2014 mit seiner | |
Band The Bad Seeds durch Nordamerika tourte, notierte er während der vielen | |
Flüge auf Spucktüten Gedanken, Tour-Erlebnisse und Erinnerungen – eine | |
Materialsammlung für zukünftige Songs, die in kleinen Häppchen im Netz | |
sicher Gefallen gefunden hätte. | |
Doch Nick Cave wird im nächsten Jahr 60 und ist ein Rockstar der alten | |
Schule, und so hat der Australier seine Skizzen zu einem mächtigen, | |
bewusstseinsstromartigen Hybrid-Epos verdichtet, das zwischen zwei | |
Buchdeckel gehört. | |
Im „Spucktütenlied“ wechselt er ansatzlos von Prosa zu Lyrik, webt | |
Songtexte und Autobiografisches ein. Dabei offenbart er Selbstironie, wenn | |
er sich beim Haarefärben im Spiegel betrachtet, seine Stirn „mehrstufig“ | |
findet und sein Gesicht mit dem von Kim Jong Un vergleicht. Oder eleganten | |
Humor, wenn ihn die Lektüre der Hotelbibel inspiriert, eine wertende | |
Spucktütenliste der verschiedenen Fluggesellschaften aufzustellen. | |
Überhaupt sind Listen Thema, besonders schön ist die über unterschiedliche | |
Arten von Aufschiebung ausgefallen. In anderen Listen kommen Themen aus der | |
griechischen Mythologie oder dem Alten Testament zum Tragen, die dann in | |
die Prosa hineintentakeln. Respektlos und ehrfurchtsvoll zugleich schildert | |
er eine frühere Begegnung mit seinem Helden Bryan Ferry. | |
## Leichen pflastern den Highway | |
Eben hingeschriebene Songtexte kritisiert er gleich im Anschluss und | |
erlaubt so Einblick in seinen Denkprozess. Die allen seinen Texten | |
innewohnende Melancholie und Morbidität bricht sich vor allem in der | |
Schilderung der Flüsse Bahn, die er in jeder der angesteuerten Städte | |
aufsucht, und den nächtlichen Fahrten auf den Highways, die von Leichen | |
gepflastert sind. | |
Wie in seinem zweiten Roman, dem „Tod des Bunny Munro“, mischen sich in die | |
Erzählung des real Möglichen surreale Episoden. Immer wieder trifft er auf | |
ein Mädchen mit jeweils zum Auftrittsort passenden Emblemen auf dem Rock, | |
das sich anschickt, von einer Brücke zu springen. Eine Fortschreibung der | |
autobiografischen Episode zu Beginn, in der ein Junge von einer | |
Eisenbahnbrücke springen muss, weil ein Zug naht. Aus heutiger Sicht | |
gespenstisch, weil es wie eine dunkle Vorahnung wirkt: Im vergangenenen | |
Jahr ist Caves Sohn von den Klippen in Brighton gestürzt und starb. | |
Ohne es in Worte zu fassen, ist das „Spucktütenlied“ vor allem eine | |
Schilderung der Einsamkeit und Eintönigkeit auf Tour. Über seine | |
Bandkollegen verliert er kaum ein Wort, es ist, als wäre er allein | |
unterwegs: Er raucht allein, ist allein im Hotelzimmer, im Bus zupft er an | |
Fäden seines Jackenärmels, „zupf, zupf“, seine Frau geht zu Hause nicht a… | |
Telefon. Lustiges Rock-’n’-Roll-Leben klingt anders. | |
Zunächst verwirrt, dass die Spucktüten-Skizzen nicht mit dem nachfolgenden | |
Text übereinstimmen, erst beim Blättern zum nachstehenden englischen | |
Original ist die ausformulierte Version zu lesen. Es wäre sinnvoll gewesen, | |
den deutschen und den englischen Text Seite für Seite gegenüber | |
abzudrucken. | |
Zudem kann Eike Schönfelds Übersetzung durchaus neben dem Original | |
bestehen. Er hat Sound und Stimmung harmonisch ins Deutsche übertragen, | |
Nick Caves selbstironischer Witz und werkbestimmende Melancholie sind auch | |
in Schönfelds Fassung allgegenwärtig. | |
Insbesondere an den humorigen Stellen hätte die direkte Gegenüberstellung | |
einen Mehrwert generiert, etwa wenn es für ein mehrdeutiges englisches Wort | |
kein entsprechendes deutsches gibt und sich der Übersetzer wohl oder übel | |
für eine Deutung entscheiden muss. So verliert man sich im ewigen Hin- und | |
Herblättern. | |
22 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Sylvia Prahl | |
## TAGS | |
Tagebuch | |
Nick Cave | |
Dokumentarfilm | |
Soundtrack | |
Jazz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neues Album von Nick Cave: Finstere Trauerarbeit | |
Sänger Nick Cave veröffentlicht das stoisch-impressionistische Blues-Album | |
„Ghosteen“. Es ist nach dem Tod seines Sohnes entstanden. | |
Dokumentarfilm über Nick Cave: Schreckliche Gefühle | |
Nick Cave hautnah: Der Sänger von „The Bad Seeds“ erklärt das neue Album | |
mit Hilfe eines Films. Trauriger Anlass ist der Unfalltod seines Sohns. | |
Soundtrack von Jarvis Cocker: I just want to ffffotograph you | |
Der britische Popstar Jarvis Cocker hat einen tollen Soundtrack komponiert | |
– für den abgründigen Film „Likely Stories“. | |
Konzert von Little Annie: Uhrmacher sind Bitches | |
Beim Blues kann man keine Milch trinken: Die New Yorkerin Little Annie | |
kommt mit ihrem Album „Trace“ auf ein Konzert nach Deutschland. | |
Nachruf auf Harper Lee: Ihrer Zeit voraus | |
Harper Lee, US-Südstaaten-Autorin des Welterfolgs „Wer die Nachtigall | |
stört“ und frühe Chronistin von Rassismus ist mit 89 Jahren gestorben. |