| # taz.de -- Konzert von Little Annie: Uhrmacher sind Bitches | |
| > Beim Blues kann man keine Milch trinken: Die New Yorkerin Little Annie | |
| > kommt mit ihrem Album „Trace“ auf ein Konzert nach Deutschland. | |
| Bild: Auf dem Weg zu einem neuen Jazz: Little Annie | |
| „Eigentlich wollte ich mit diesem Album den Jazz neu erfinden. Aber davon | |
| ist meine Musik weit entfernt“, sagt Little Annie. Das stimmt allerdings | |
| nur halb. | |
| Denn die New Yorker Avantgarde-Ikone denkt auf ihrem neuen Album „Trace“ | |
| Jazz weiter Richtung Zukunft und stellt ihn ganz selbstverständlich neben | |
| Dub und elektronische Experimente. Ihr markanter Torchgesang verleiht den | |
| Songs erhabene Größe. | |
| Sechs von ihnen sind in Zusammenarbeit mit dem kanadischen | |
| Multiinstrumentalisten Ryan Driver entstanden. Mit „Break It You Buy It“ | |
| perlt ein Jazzstandard aus dem Lautsprecher, angespornt von Rumbarhythmen. | |
| Bei „You Better Run“ sieht man die alterslose Chanteuse auf einer | |
| Coffeehouse-Bühne vor sich, begleitet von einem Piano und von ins | |
| Dramatische tendierenden Streichern. Textzeilen wie „You better run, before | |
| you run out of time“ brechen allerdings das Klangbild. | |
| Im anschließenden „Midlife Lazarus“ zitiert Little Annie die musikalische | |
| Essenz der eben genannten Jazzsongs und schaltet um auf einen erfrischend | |
| enervierenden Lyrikvortrag. Befeuert ist er von einem größenwahnsinnigen | |
| 80er-Jahre-Gitarrenriff, das den Hallvorrat der nächsten fünf Jahre in vier | |
| Minuten verbraucht. Ein schräge Akkorde singender Chor entlässt das Ganze | |
| schließlich in höhere Sphären. | |
| ## Wehe, wenn sie wispert | |
| Für den Titelsong „Trace“ kehrt Little Annie zurück zum Vibrafon-getragen… | |
| Jazzstandard und fügt ihrem Gesang wispernd etwas Verletzliches hinzu. | |
| „Ryan holte mich aus der Komfortzone und zwang mich, schön zu singen. Ich | |
| neige ja eher zum Knurren.“ Das war nicht immer so. | |
| Als sie 1981 unter dem Namen Annie Anxiety ihr Debüt „Barbed Wire Halo“ | |
| veröffentlichte, war das noch glasklar intonierter Art-Punk (ihr erstes | |
| Projekt Annie and the Asexuals fungierte als Hausband des New Yorker Clubs | |
| Max’s Kansas City, hinterließ aber keine Aufnahmen). „Barbed Wire Halo“ | |
| erschien in London auf dem Label der Anarchopunks Crass, in deren Umfeld | |
| sie sich pudelwohl fühlte. Es folgten Kollaborationen mit so | |
| unterschiedlichen Künstlern wie Current 93 und Lee „Scratch“ Perry. | |
| 1991 sang sie den Track „Things Happen“ der Industrialpioniere Coil – mit | |
| vielversprechend gereifter Stimme. Kurz darauf veröffentlichte Annie den | |
| Industrial-Dub-Meilenstein „Short and Sweet“. Damit hatte sie die Mixtur | |
| aus Knurren und Torchsong perfektioniert. Wer diese eigenwillige Musik | |
| einmal gehört hat, wird sie nie vergessen können. Little Annie wurde so | |
| Aushängeschild von Adrian Sherwoods Dubreggae-Label On-U-Sound. Während | |
| einer längeren musikalischen Schaffenspause wendete sich „Little“ Annie | |
| Bandez der Malerei zu, begann zu fotografieren, schauspielerte auf New | |
| Yorks Bühnen, schrieb Lyrik und Prosa. | |
| ## Gedeckelter Wahnsinn von Sounds | |
| Im Jahr 2002 war sie wieder da, nahm unter anderem Songs mit | |
| Bad-Seeds-Gitarrist Kid Congo Powers, Antony Hegarty, Baby Dee und Paul | |
| Wallfisch auf. Zusammen mit Wallfisch hat sie auf dem neuen Album „Trace“ | |
| den unheimlich anmutenden Song „Dear John (Don’t You Know That The Show | |
| Must Go On)“ komponiert. Er gemahnt in seiner Melancholie und | |
| Ausweglosigkeit an Nick Cave & the Bad Seeds Mitte der Neunziger, setzt | |
| aber auf betörende Bläsersätze und einen engelsgleichen Chor. | |
| Im Jahr 2013 veröffentlichte Little Annie ihre Autobiografie „You Cant’ | |
| Sing the Blues While Drinking Milk“. Ihre sich ins Gedächtnis fräsende raue | |
| und bisweilen dämonische Stimme und die Leidenschaft, mit der sie ihre | |
| Songs interpretiert – oder sich wie auf „Trace“ des Jazzstandards „You | |
| Don’t Know What Love Is“ bemächtigt –, lassen darauf schließen, dass sie | |
| andere Getränke lieber mag. | |
| „She Has a Way“ und „Bitching Song“ entstanden zusammen mit dem New Yor… | |
| Elektroniktrio Opal Onyx und führen zurück zum Dub. Untermalt von pumpenden | |
| Beats schneidet ihre eiskalte Stimme aus dem Off in den Raum und entspricht | |
| damit dem Text: „She always had a way with make up – to cover her bruises / | |
| You almost had to kill her to break through her calm demeanor.“ | |
| Der Comic-Relief folgt auf dem Fuß: „Bitching Song“ ist eine Aufzählung v… | |
| Berufsgruppen, die dem Phänomen Bitch zuzuordnen sind. Da sind | |
| Bibliothekare „Bitches with Books“ und Uhrmacher „Bitches, who are running | |
| out of time“. Begleitet wird diese Liste des gedeckelten Wahnsinns von | |
| Sounds, die man von den übelsten Fahrgeschäften auf dem Rummel kennt – und | |
| die gern von Bitches besucht werden. | |
| ## Natur- und Wetterphänomene | |
| Auf dem Albuminnencover sind Fotos abgedruckt, die Natur- und | |
| Wetterphänomene zeigen und ihren kürzlichen Umzug nach Miami dokumentieren. | |
| Das ebenfalls von Little Annie gestaltete Cover-Artwork ist ein Hybrid aus | |
| Naiver Malerei und Existenzialismus, pockennarbige Rosen sprießen aus einem | |
| Abgrund, der an New Yorker Hochhausschluchten erinnert. | |
| „Ich finde das Bild schön und aufdringlich zugleich. Rosen sind zart, aber | |
| auch stark. Es ist, als würdest du deiner Verletzlichkeit und deiner Stärke | |
| im selben Moment bewusst.“ Genau diese Mischung macht „Trace“ zu einem ga… | |
| großen Album. | |
| 26 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Sylvia Prahl | |
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