| # taz.de -- Hörspiel „Manhattan Transfer“: Stereotype als Stilmittel | |
| > Der Roman „Manhattan Transfer“ zeichnet ein Porträt des New York der | |
| > Zwanzigerjahre. Die Hörspielfassung erscheint neu – samt rassistischer | |
| > Begriffe. | |
| Bild: Die Skyline von New York City in 1925 | |
| Barack Obama hielt Anfang diesen Jahres ein Plädoyer für „Diversity“, also | |
| die Vielfalt und die diskriminierungsfreie Darstellung in Filmen. Es war | |
| ein Beitrag anlässlich der Debatte über die Oscarnominierungen, bei denen | |
| nur weiße Menschen bedacht worden waren. „Ich denke, wenn die Geschichte | |
| aller erzählt wird, führt das zu besserer Kunst“, sagte der US-Präsident. | |
| Losgelöst von der Besetzungspolitik Hollywoods kann man diese Forderung | |
| auch auf die Literaturebene übertragen. Bereits vor gut 90 Jahren scheint | |
| sich in diesem Sinn der Roman „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos das | |
| Prinzip zu eigen gemacht zu haben, vielleicht nicht jedermanns, aber doch | |
| die Geschichte von vielen unterschiedlichen Menschen zu erzählen. | |
| „Manhattan Transfer“ beginnt im ausklingenden 19. Jahrhundert und endet | |
| Mitte der 1920er Jahre. | |
| Über diesen Zeitraum folgt der Roman zahlreichen Figuren | |
| unterschiedlichster Herkunft und sozialer Stellung, zoomt immer wieder an | |
| sie heran und bis in ihre Köpfe hinein. John Dos Passos zeichnete mit | |
| revolutionärer, cinematografischer Erzähltechnik ein lebendiges Bild von | |
| New York als Einwanderermetropole und schuf nach „Ulysses“ von James Joyce, | |
| einer Hommage an Dublin, den zweiten wichtigen Großstadtroman des | |
| zwanzigsten Jahrhunderts. | |
| In einer konzertierten Aktion erscheinen nun im Mai die Neuübersetzung des | |
| Romans im Rowohlt Verlag, die Hörspielinszenierung des Südwestrundfunks | |
| (SWR) und Deutschlandfunks (DLF) und die entsprechende Hörbuch-CD bei | |
| Hörbuch Hamburg. Diese Neuentdeckung erfolgt lange nach der Erstübersetzung | |
| ins Deutsche, die Paul Baudisch 1927 vorgenommen hatte. | |
| ## Hörspiel als eigenes Werk | |
| Doch eine Inszenierung von „Manhattan Transfer“ anhand der | |
| Baudisch-Übersetzung wäre nicht infrage gekommen, wie sich Leonhard | |
| Koppelmann, Hermann Kretzschmar und Manfred Hess einhellig äußern. Das für | |
| das Hörspiel verantwortliche Trio hegte zwar schon länger den Gedanken, das | |
| ungelesene, literaturhistorisch bedeutsame Werk einem breiten Radiopublikum | |
| näher zu bringen, schritt allerdings erst zur Tat, als es gelang, gemeinsam | |
| mit dem Rowohlt Verlag die Erbengemeinschaft für eine Neuübersetzung zu | |
| begeistern. Diese liegt nun von Dirk van Gunsteren vor. | |
| Die Radiofassung ist allerdings keine Eins-zu-eins-Umsetzung des Romans, | |
| sondern als eigenständige Arbeit zu betrachten. „Wir wollten keine Lesung | |
| machen“, sagt Manfred Hess vom SWR, Dramaturg des Stücks und gemeinsam mit | |
| seiner Kollegin Sabine Küchler vom DLF verantwortlicher Redakteur. So ist | |
| ein rund sechsstündiges Hörspiel entstanden, das die Dreiteilung des Romans | |
| beibehält. Die Auslassung wird hier gekonnt als Stilmittel eingesetzt. Aber | |
| „es tut einem natürlich weh um jede Szene“, sagt Leonhard Koppelmann, | |
| Bearbeiter und Regisseur, zum Kürzungsprozess. Zum konkreten Vorgehen | |
| erläutert Koppelmann, dass er aus der zersplitterten Erzählweise des Romans | |
| Storylines für einzelne Figuren konzipiert hat. | |
| Ein wichtiger Erzählstrang ist Ellen Thatcher gewidmet, die zu Beginn der | |
| Geschichte das Licht der Welt erblickt und der man bis zum Schluss immer | |
| wieder begegnet. Ihre Rolle wird im Hörspiel von Maren Eggert gesprochen, | |
| die sich – so beschreibt sie es – über Ellens Schicksalsschläge den | |
| unterschiedlichen Altersstadien dieser Figur annähert und so Zugang zur | |
| Darstellung der Schauspielerin und späteren Journalistin findet. Eggert ist | |
| neben Axel Prahl, Sophie Rois und Ulrich Noethen eine von zahlreichen | |
| prominenten SchauspielerInnen, die den Figuren ihre Stimmen leihen. Mit | |
| ihnen erarbeitete Leonhard Koppelmann in den Räumen von Deutschlandradio | |
| Kultur am Berliner Hans-Rosenthal-Platz die Szenen – bis zur Sendereife, | |
| denn von im Schnitt montierten Dialogen hält er nicht viel. Die | |
| Erzähleraufnahmen wurden in den DLF-Studios in Köln eingesprochen, Mischung | |
| und Mastering erfolgten in Baden-Baden beim SWR. | |
| Die Aufnahmen für die in diesem Hörspiel außergewöhnlich starke Musikebene | |
| entstanden in Frankfurt beim Hessischen Rundfunk (HR). Für die Komposition | |
| ist der hier ebenfalls als Kobearbeiter tätige Hermann Kretzschmar | |
| verantwortlich. Die gut hundert kurzen Stücke hat er gemeinsam mit Kollegen | |
| des Ensemble Modern sowie der HR-Bigband interpretiert, um auch in der | |
| Umsetzung der Komposition das konzeptuelle „Changieren zwischen Neuer Musik | |
| und Jazz“ zu ermöglichen. Kretzschmar hebt besonders hervor, dass | |
| „Manhattan Transfer“ ein wichtiger Musikroman ist. Und tatsächlich wird | |
| dort auf jeder zweiten Seite ein Schlager, ein Musical oder eine Oper | |
| erwähnt. Kretzschmar verweist unter anderem auf „Shuffle Along“, das erste | |
| von Schwarzen geschriebene und komponierte Erfolgsmusical in den USA, in | |
| dem unter anderem Josephine Baker auftrat. | |
| Aber: Ganz so progressiv und einer Multiperspektivität verpflichtet, die | |
| sich an Diversity orientiert, ist John Dos Passos’ Roman abgesehen von der | |
| Erzählweise, vielleicht doch nicht. Problematisch ist besonders die | |
| Darstellung von Schwarzen, Juden oder auch anderen Minderheiten wie den | |
| irischen Einwanderern. Zwar hat man beim Lesen manchmal das Gefühl, Dos | |
| Passos will lediglich den schon damals existierenden gesellschaftlichen | |
| Antisemitismus und Rassismus widerspiegeln. | |
| Dafür pflegt er jedoch selbst in den relativ neutralen Erzählpassagen eine | |
| zu große Vorliebe für rassekundlich geprägte Figurenbeschreibungen, wobei | |
| Schädelform und Physiognomie auch immer einen Schluss auf Charakter und | |
| Moral der beschriebenen Person zulassen. Sehr oft trifft man auf die | |
| klischeehafte jüdische Hakennase, deren Träger meist die stereotypen Rollen | |
| kleiner schlitzohriger Gauner oder einflussreicher gieriger Geldsäcke | |
| zugewiesen bekommen. Auch findet man in „Manhattan Transfer“ sexbesessene | |
| Schwarze, hysterische Frauen und theatralisch auftretende Schwule. | |
| ## Belastete Wörter | |
| Dass Wörter wie „Judenmädel“ und „Negerblut“ im Deutschen noch stärk… | |
| in anderen Sprachen vorbelastet sind, hätte Dirk van Gunsteren bei seiner | |
| Übersetzung berücksichtigen können. So aber stellt sich beim Lesen seiner | |
| Neuübersetzung öfter ein mulmiges Gefühl ein und der Kontext deutscher | |
| Geschichte überlagert die Lektüre dieser Großstadterzählung. Auch sonst hat | |
| van Gunsteren nicht auf antiquierte Sprache verzichtet und benutzt Worte | |
| wie „Scharteke“ (Schimpfwort für eine alte Frau) oder „Dummerjahn“ | |
| (neckische Beleidigung). Bei der Hörspielbearbeitung wurde zwar einiges an | |
| van Gunsterens Antiquitäten entsorgt, jedoch tauchen auch hier historisch | |
| stark belastete Worte auf. Warum? | |
| „Eine Literaturadaption ist kein pädagogisches Korrektiv des Autors oder – | |
| wie in diesem Falle – des Übersetzers“, sagt Redakteur Manfred Hess. Dem | |
| Original aus dem Jahr 1925 zu folgen sei oberste Verpflichtung. „Wir | |
| zensieren nicht und gehen vom selbstbewussten und kritischen Rezipienten | |
| aus, der diese Begriffe historisch einzuordnen in der Lage ist. Er braucht | |
| keine Bevormundung.“ Sprache sei Spiegel der Wirklichkeit, sagt Hess, und | |
| diese Übersetzung versuche meisterhaft, die Wirklichkeit zwischen 1900 und | |
| 1924 in New York in dem Text von 1925 für das deutsche Publikum zu zeigen. | |
| Dass die New Yorker Wirklichkeit tatsächlich stark eingefangen wird, | |
| schrieb 1989 auch schon der spätere Literaturnobelpreisträger Mario Vargas | |
| Llosa in seinem Essay „Hauptstadt der Masse und der Zerstörung – Manhattan | |
| Transfer“: „Mögen die einzelnen Personen in ‚Manhattan Transfer‘ auch … | |
| blass und flüchtig sein, um in der Erinnerung fortzudauern […], so wird | |
| doch die große kollektive Gestalt, die Stadt New York […] in einem | |
| wunderbaren Porträt festgehalten.“ Und ein dicht erzähltes, beeindruckendes | |
| Porträt der Metropole ist auch das Hörspiel. | |
| 21 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Rafik Will | |
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