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# taz.de -- Bedrohliche Hörbücher: Zwischen Genie und Wahnsinn
> Ein Klassiker und eine Produktion, die ein Klassiker werden könnte: das
> Dschungelbuch und ein Familiendrama als Hörbücher.
Bild: Bagheera und Akela aus dem Dschungelbuch zum Anschauen und -hören in ein…
Wenn einen die Leute für irre halten, ist alles was man tut, irre“, sagt
ein 19-Jähriger, der sich Matthew Holmes nennt. Er sitzt in der
geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik im englischen Bristol
und schreibt seine Geschichte auf. Sein älterer Bruder Simon kam zehn Jahre
zuvor ums Leben, während des Sommerurlaubs an der See. Es war ein Unfall,
aber Matthew glaubt, für das Unglück verantwortlich zu sein. Was auch daran
liegen mag, dass er sich stets für seinen Bruder, der das Downsyndrom
hatte, verantwortlich fühlte.
Der britische Autor Nathan Filer arbeitete als Krankenpfleger in einer
psychiatrischen Klinik, bevor er „Nachruf auf den Mond“ schrieb. Er lässt
Matthew seine Geschichte chronologisch erzählen, mit Flashback-Einschüben
an die Kindheit. Er erzählt, wie Simon fast täglich zu ihm spricht. „Er hat
sich mich ausgesucht. Nicht Mom, nicht Dad. Er war überall.“ Der
Schauspieler Hanno Koffler, der schon als Sprecher von Wolfgang Herrndorfs
„Tschick“ eindrucksvoll bewiesen hat, dass er das Lebensgefühl eines
Jugendlichen glaubwürdig vermitteln kann, balanciert mit seiner Lesung
gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn.
Denn die Überlegungen und Erkenntnisse, die Matthew anstellt und hat, sind
luzide und erhellend. Und letztlich ist es auch Matthew selbst, der sich
von seinen Wahnvorstellungen, die in seiner Erzählung ohnehin völlig
plausibel erscheinen, befreit.
Beeindruckend ist, wie Filer seinen Erzähler Matthew leichtfüßig und
unschuldig die zweite Familientragödie miterzählen lässt: dass die Eltern
es nicht vermögen, den von Schuldgefühlen geplagten Sohn zu entlasten und
damit – das würde Matthew so nie behaupten – eine Mitverantwortung tragen
an der psychischen Erkrankung ihres übrig gebliebenen Sohnes. Dies und die
Darstellung des Dienst nach Vorschrift machenden klinischen Apparats kann
auch als subtile Kritik des Autors an unserem Umgang mit menschlichen
Tragödien begriffen werden, es verleiht der packenden Erzählung zusätzlich
Tiefe.
Im Allgemeinen gilt „Das Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling als Klassiker
der Kinderliteratur. Doch das Hörspiel, das der Deutsche Audio Verlag
anlässlich von Kiplings 150. Geburtstag neu veröffentlicht hat, spricht –
obwohl es als Hörspiel für Kinder untertitelt ist – auch Hörer in
fortgeschrittenem Alter an. Die vom WDR hergestellte Produktion ist extrem
üppig angelegt. Stilisierte, aber herrlich bedrohliche Dschungelsounds, die
von sogenannten Dschungelkompositionen mit klassischer Instrumentierung
aufgenommen und weitergetragen werden, verdichten sich in einem Klangraum,
der von Abenteuer und Freiheitsdrang kündet, ohne je ins Folkloristische
abzuglitschen.
Die konzise Hörspielbearbeitung von Karlheinz Koinegg wird zudem von ihren
Sprechern getragen. Regina Lemnitz glänzt als eine Erzählerin, die
dringliche Spannung erzeugt und die innere Zerrissenheit Mowglis, als er
den Dschungel verlassen muss, rührend und ohne Pathos hörbar macht.
Der große Traugott Buhre lässt Baloo zu Recht um einiges patenter
erscheinen als in anderen Interpretationen, und wie Jens Wawrczeck der
Hyäne Tabaqui den Hang zum Wahnsinn in die Stimme legt, ist geradezu
furchteinflößend, für kindliche Gemüter fast schon eine Spur zu bedrohlich.
Zudem lässt Luca Krämer die Renitenz und manchmal nervige naive
Besserwisserei des vorpubertären Mowgli ziemlich lebensecht klingen.
1 Oct 2015
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Tschick
Psychiatrie
Coming-of-Age
Hörbuch
Disney
London
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