| # taz.de -- Hörbücher von Alexijewitsch und Stanišić: Wo der Sinn des Leben… | |
| > Die Nobelpreisträgerin spricht mit den Lebenden und den Toten von | |
| > Tschernobyl. Saša Stanišić beschreibt die Verlassenheit der ostdeutschen | |
| > Provinz. | |
| Bild: Ist das Fürstenfelde? Oder Weißrussland? Blühende Landschaften gibt es… | |
| „Wirwussten nicht, dass der Tod so schön sein kann.“ Eine Augenzeugin | |
| beschreibt den Anblick des leuchtenden Reaktors von Tschernobyl. „Sogar | |
| hier arbeiten sie an unseren Mythen: ‚Wir überleben überall, sogar auf | |
| toter Erde.‘“ Als am 26. April 1986 in Tschernobyl die Erde brannte und das | |
| Reaktorunglück ganze Landstriche auf Jahrhunderte unbewohnbar verseuchte, | |
| kamen offiziell nur 31 Menschen ums Leben. | |
| Die „Gespräche mit Lebenden und Toten“, die die Nobelpreisträgerin Swetla… | |
| Alexijewitsch führte, literarisch verdichtete und mit dem Untertitel „Eine | |
| Chronik der Zukunft“ versah, erzählen eine andere Wahrheit. Davon, wie | |
| fahrlässig der sichere Tod der Helfer in Kauf genommen wurde, wie | |
| stümperhaft Schutzmaßnahmen vorgenommen wurden – sei es aus Unwissenheit | |
| oder weil die Gefahr vertuscht werden sollte. Wer sich schützen wollte, | |
| galt als feige. | |
| Und sie erzählen von Liebe. Von Frauen, deren verstrahlte Männer ihnen | |
| unter ihren pflegenden Händen zuerst aufgeschwollen und dann zerbröselt | |
| sind. Von Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten, aber noch nicht | |
| ahnten, dass sie ihre Heimat verloren haben: „Du darfst alles benutzen. | |
| Aber bitte nicht plündern. Wir kommen wieder.“ | |
| „Gespräche mit Lebenden und Toten“ ist das bisher einzige vertonte Werk | |
| Alexijewitschs, was verwundert, da der dokumentarische Ansatz ihrer Romane | |
| im Hörspiel seine perfekte Ausdrucksform findet. Diese 1999 als „Hörbuch | |
| des Jahres“ ausgezeichnete Collage entfaltet durch ostentative Sachlichkeit | |
| große Wucht. Geräusche untermalen nicht den Text, sondern wirken für sich: | |
| Rinnendes Wasser evoziert Bilder vom Inneren des Reaktors, Vogelgezwitscher | |
| verweist auf das Unfassbare, dass eine optisch unversehrte Natur verseucht | |
| ist. | |
| ## Eine universelle Ohnmacht | |
| Konstantin Graudus, Viola Morlinghaus, Ilse Strambowski und Peter Gavajda | |
| tragen die Erinnerungen, selbst die fürchterlichsten, sachlich und klar | |
| vor. Mitunter sind sie ineinandermontiert oder Sätze brechen mittendrin ab | |
| – womit deutlich wird, dass es sich nicht um Einzelschicksale handelt und | |
| die den Erzählungen innewohnende Ohnmacht, Stichwort Fukushima, universell | |
| ist. (Swetlana Alexijewitsch, „Tschernobyl – Gespräche mit Lebenden und | |
| Toten“, 1 CD, 78 Min.) | |
| Dass es mit den angekündigten „blühenden Landschaften“ im Osten | |
| Deutschlands nichts geworden ist, beschreibt Saša Stanišić in „Vor dem | |
| Fest“ überzeugend, mit Humor und Sympathie. Die vom rbb kulturradio | |
| produzierte Hörspielfassung des 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse | |
| ausgezeichneten Romans transportiert die Stimmung im sich in Auflösung | |
| befindlichen Fürstenfelde eindrücklich. Es ist der Tag vor dem Fest, alle | |
| Bewohner des uckermärkischen Ortes sind in Aufruhr, als würde am Tag des | |
| Fests der Sinn des Lebens kulminieren, dem Tag des Jüngsten Gerichts nicht | |
| unähnlich. | |
| Die Geräuschkulisse aus Trompete und Glockenspiel erzeugt eine spooky | |
| Atmosphäre, unwirklich und entrückt. Wie in einer Revue gehen die Szenen | |
| ineinander über, führen Dialoge oder Begegnungen von einem Schicksal zum | |
| nächsten. | |
| Alles befindet sich im Endstadium oder ist innerlich bereits von Gott und | |
| der Welt verlassen: die 90-jährige Malerin, die als einziges Sujet | |
| Fürstenfelde kennt und trotzdem vom Jubiläums-Journalisten auf ihre | |
| Herkunft in „Deutsch-Jugoslawien“ festgenagelt werden soll (woraus sie sich | |
| geschickt herauslaviert, wahrscheinlich in langen Jahren des zivilen | |
| Ungehorsams in der DDR geschult). Die junge Anna, die es kaum erwarten kann | |
| wegzukommen, nach Rostock, zum Studieren (“Mein einziger Fehler ist, meine | |
| Jugend nicht woanders verbracht zu haben“). Der ehemalige NVA-Offizier | |
| Schramm, dessen Versuch, Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen, zur | |
| existenziellen Frage gerät: „Kippen oder Kugel?“ | |
| Als Erzähler hält Markus Meyer mit leicht phlegmatischer Stimme alles | |
| zusammen, zieht die Hörer mit. Als befände man sich knapp unter der | |
| Oberfläche des großen Sees, in dem der einzig wirklich lebensfrohe | |
| Anwohner, aber gleichzeitig auch leicht debile Lada immer mal wieder Autos | |
| versenkt. | |
| 2 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sylvia Prahl | |
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