# taz.de -- Nobelpreis für Literatur 2015: Aus dem Alltag des Homo sovieticus | |
> Sie ist die Archäologin der großen und kleinen Katastrophen im | |
> Kommunismus. Das sind die Themen der Schriftstellerin Alexijewitsch. | |
Bild: Ausgezeichnet: die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch. | |
BERLIN taz | Das Treffen mit der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana | |
Alexijewitsch findet im Januar 2011 in der Küche einer Wohnung im Berliner | |
Stadtteil Charlottenburg statt. Die damals 65-Jährige nimmt sich [1][Zeit | |
für das Gespräch] mit der taz und wägt jeden ihrer Sätze mit Bedacht ab. | |
Sie spricht leise, pointiert, dabei fixiert sie ihr Gegenüber genau. Ihre | |
Neugierde auf das Andere ist spürbar, genauso wie die Fähigkeit zuzuhören. | |
Alexijewitsch ist keine von denen, die viel Aufhebens um ihre Person machen | |
würde. Doch ob sich diese Bescheidenheit auch in den kommenden Tagen und | |
Wochen wird aufrecht erhalten lassen? | |
An diesem Donnerstag gab die Schwedische Akademie in Stockholm ihre | |
Entscheidung bekannt, Alexijewitsch mit dem diesjährigen | |
Literaturnobelpreis auszuzeichnen – für ihr „vielstimmiges Werk, das dem | |
Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der | |
Begründung heißt. | |
Im Gespräch mit der taz zeigte sich schnell, dass Alexijewitsch noch ganz | |
unter dem Eindruck der Ereignisse am 19. Dezember 2010 in der | |
weißrussischen Hauptstadt Minsk stand. An diesem Tag fanden | |
Präsidentschaftswahlen statt. | |
## Proteste niedergeschlagen | |
Hoffnungen auf eine, wenn auch nur bescheidene, Liberalisierung ob der | |
Zulassung oppositioneller Kandidaten wurden am Abend von Dauerherrscher | |
Alexander Lukaschenko im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen. Die | |
Staatsmacht löste Massenproteste gegen den Wahlausgang gewaltsam auf, | |
Hunderte Demonstranten landeten im Gefängnis. | |
„Dass die Macht so erbarmungslos vorgegangen ist, hat mich schockiert. Ich | |
und meine Freunde hätten uns nie vorstellen können, dass das, was wir bei | |
Alexander Solschenizyn im ‚Archipel Gulag‘ gelesen hatten, nach der | |
Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei uns noch einmal | |
Realität werden könnte“, sagte Alexijewitsch damals. Und: „Dieser 19. | |
Dezember wird ein großes Trauma bleiben.“ | |
Traumata, vor allem ausgelöst durch Erlebnisse in Kriegszeiten, gebrochene | |
Biografien, geheime Sehnsüchte – die großen und kleinen Katastrophen im | |
Alltag des Homo sovieticus sind die Themen, die Alexijewitsch seit über 30 | |
Jahren umtreiben. Oder wie es der Historiker Karl Schlögel in seiner | |
Laudatio auf Alexijewitsch formulierte, als diese [2][2013 mit dem | |
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde]: „Als Archäologin der | |
kommunistischen Lebenswelt scheint ihre ganze Anstrengung dahin zu gehen, | |
jenen ihre Stimme zu leihen, die bisher keine Chance hatten, gehört zu | |
werden.“ | |
Geboren wird Swetlana Alexijewitsch am 31. Mai 1948 im westukrainischen | |
Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) als Tochter einer Ukrainerin und eines | |
Weißrussen. Nach dem Ende des Militärdienstes ihres Vaters zieht die | |
Familie nach Weißrussland. 1972 schließt Alexijewitsch ein | |
Journalistikstudium in Minsk ab. Danach arbeitet sie für die Land-Zeitung | |
in Minsk sowie das Literaturmagazin Neman. | |
## Annäherung an „das wahre Leben“ | |
In dieser Zeit versucht sie sich an Genres wie Kurzgeschichten, Essays und | |
Reportagen. Und entwickelt eine Methode, die ihr die größtmögliche | |
Annäherung an das „wahre Leben“ erlaubt. „Ich habe das Genre menschlicher | |
Stimmen gewählt“, schreibt sie auf ihrer Homepage. „Meine Bücher erspähe | |
und erlausche ich auf den Straßen und am Fenster. Reale Menschen erzählen | |
von den großen Ereignissen ihrer Zeit – vom Krieg, dem Zusammenbruch des | |
sozialistischen Imperiums, Tschernobyl. Das alles in seiner Gesamtheit | |
ergibt die Geschichte des Landes.“ | |
Die Methode, Einzelschicksale literarisch zu einer Chronik der Sowjetunion | |
und ihrer Nachfolgestaaten zu verdichten, wendet Alexijewitsch erstmals in | |
ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ an, das sie 1983 | |
vollendet. Darin dokumentiert sie die Erlebnisse von Soldatinnen, | |
Partisaninnen und Zivilangestellten während und nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
Wegen dieses Buchs, das erst 1985 erscheinen kann, wird Alexijewitsch | |
angeklagt, die Ehre des großen Vaterländischen Krieges beschmutzt zu haben. | |
Das Tauwetter unter Michail Gorbatschow ermöglicht es Alexijewitsch freier | |
zu arbeiten. In „Zinkjungen“ (1989) kommen Veteranen aus dem sowjetischen | |
Krieg gegen Afghanistan sowie Mütter gefallener Soldaten zu Wort. Auch | |
dieses Werk bringt Alexijewitsch mehrere Gerichtsverfahren in Minsk ein. | |
1994 kommt in Weißrussland Alexander Lukaschenko an die Macht. Das hat auch | |
direkte Konsequenzen für Swetlana Alexijewitsch. Ihr nächstes Werk, | |
„Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“, aus dem Jahr 1997 – ein | |
erschütterndes Dokument über die Tragödie derer, die direkt von der | |
Reaktorkatastrophe betroffen waren –, kann in ihrem Heimatland nicht mehr | |
erscheinen. | |
## Telefon abgehört | |
Auch gegen Alexijewitsch persönlich verstärken sich die Repressionen. Sie | |
wird beschuldigt, für die CIA zu arbeiten. Ihr Telefon wird abgehört, sie | |
darf nicht mehr öffentlich auftreten. Mit Unterstützung des Netzwerks | |
International Cities of Refuge Network (ICORN) geht sie 2000 für einige | |
Jahre nach Paris – der Beginn eines elfjährigen Exils. Heute lebt | |
Alexijewitsch wieder in Minsk. | |
2013 erscheint der Band „Secondhand-Zeit“, der von den postsowjetischen | |
Wirren sowie zerplatzten Hoffnungen und Träumen der Protagonisten handelt. | |
Im gleichen Jahr sorgt Alexijewisch in der FAZ in intellektuellen Kreisen | |
ihrer Heimat für Aufruhr. Dort wird sie mit der Aussage zitiert, sie | |
schreibe auf Russisch, weil Weißrussisch eine Bauernsprache sei und | |
literarisch unausgereift. Die Schriftstellerin dementiert, die | |
Interviewerin habe sie falsch verstanden. Kurz darauf stellt sie klar: „Ich | |
habe zwei Mütter: Das weißrussische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und | |
die russische Kultur, in der ich erzogen wurde.“ | |
Seit der Annexion der Krim durch Russland setzt sich Alexijewitsch noch | |
intensiver als bisher mit den Entwicklungen in ihrem Nachbarland | |
auseinander. Dabei spart sie nicht mit Kritik am russischen Präsidenten | |
Wladimir Putin. Vor allem er habe seinen Anteil daran, dass es derzeit | |
einen Hass auf den Westen wie nie zuvor gebe und die staatliche | |
Hetzpropaganda bereits ganz tief in das Bewusstsein der Menschen | |
eingedrungen sei, sagte sie. | |
Am kommenden Sonntag wählen die Weißrussen einen neuen Präsidenten. Der | |
wird der alte sein: Alexander Lukaschenko. Es wäre schon verwunderlich, | |
sollte Swetlana dieses Ereignis nicht wieder genauestens verfolgen – trotz | |
der hohen Auszeichnung. | |
Und sie dürfte wohl auch an ihrem aktuellen Buchprojekt festhalten. Der | |
Arbeitstiel lautet: „Hundert Erzählungen über die Liebe.“ | |
8 Oct 2015 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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