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# taz.de -- Schriftstellerin über Weißrussland: „Der Homo sovieticus lebt b…
> Swetlana Alexijewitsch erklärt, warum Diktator Lukaschenko so populär
> ist; dass die Opposition das nicht im Blick hatte und die Proteste des
> 19. Dezember deshalb zum Trauma werden mussten.
Bild: Blumen für den Diktator bei seiner Inaugurationsfeier am 21. Januar 2011…
taz: Frau Alexijewitsch, Sie waren in Minsk, als die Staatsmacht am 19.
Dezember 2010 die Demonstrationen gegen Fälschungen bei der Präsidentenwahl
gewaltsam niederschlagen ließ. Hatten Sie mit dieser Reaktion gerechnet?
Swetlana Alexijewitsch: Dass die Macht mit dieser Härte und so
erbarmungslos vorgegangen ist, hat mich vollkommen schockiert. Ich saß mit
meinen Freunden in der Küche, wir sprachen über die Ereignisse und waren
fassungslos. Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass das, was wir
bei Alexander Solschenizyn im „Archipel Gulag“ gelesen hatten, nach der
Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei uns noch einmal
Realität werden könnte.
Dabei vertreten selbst einige Kritiker von Staatspräsident Alexander
Lukaschenko die These, dass er auch ganz ohne Fälschungen die Mehrheit der
Wählerstimmen bekommen hätte.
Diese Meinung teile ich. Ich bin in den vergangenen Monaten viel durch
ländliche Gebiete gereist, und da wollte ein Großteil der Menschen für
Lukaschenko stimmen.
Wie erklären Sie sich diesen Zuspruch?
Wenn man die heutige Situation in Weißrussland mit der vor 16 Jahren
vergleicht, so hat sich das Land sehr zum Positiven verändert. Viele Leute
leben besser. Sie haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, fahren
bessere Autos und machen Urlaub in Ägypten oder in der Türkei. Das heißt,
sie haben etwas zu verlieren. Natürlich halten viele Lukaschenko für einen
Banditen und mögen ihn nicht mit seiner Kolchosbauernart, seinem Mangel an
Intelligenz und seiner Dickköpfigkeit, dieser ganzen Unzivilisiertheit.
Doch andererseits tut er auch etwas für die einfachen Bürger. Lukaschenko
hat eine sozial orientierte Diktatur errichtet, unter der er mit der
Bevölkerung einen Sozialvertrag geschlossen hat.
Worin besteht das Wesen dieser Diktatur?
Als unter Michail Gorbatschow die Perestroika, die Umgestaltung der
Sowjetgesellschaft, begann, wollte der Sowjetmensch etwas Besseres als den
Sozialismus, aber keinen Kapitalismus. Doch der Kapitalismus kam, und die
Menschen sind unzufrieden. Und was hat Lukaschenko getan? Er hat zwar
einige Änderungen eingeführt, doch im Grunde den Sozialismus konserviert.
Es ist, als sei bei uns die Zeit stehen geblieben. Wir haben saubere
Straßen, saubere Dörfer, die Kolchosen funktionieren. Lukaschenko hat
gezeigt, dass der Sozialismus bei uns noch Potenzial hat. Außerdem kommt er
aus einem Dorf und weiß, was die Menschen dort brauchen und wollen: eine
bestimmte Auswahl an Nahrungsmitteln, Kleidung, eine Wohnung, Arbeit und
dass ihre Kinder lernen können. Im Moment interessiert sie nur das
Materielle. Und Lukaschenko reagiert darauf. Über Demokratie hingegen redet
keiner.
Also hat er in Weißrussland überlebt, der Homo sovieticus?
Absolut. Der Mensch gibt für zwanzig Jahre sein Leben in die Hand einer
Person und ist mit allem einverstanden. Doch dafür verlangt er Garantien.
Und diese Garantien gibt Lukaschenko. Der Homo sovieticus in Weißrussland,
das ist kein freier Mensch, das ist ein Mensch, der gar nicht weiß, was
„frei“ bedeutet. Wenn es verschiedene Sorten Wurst gibt, dann ist das für
ihn Freiheit.
Kommen wir zum 19. Dezember zurück: Wenn Lukaschenko die Wahlen ohnehin
gewonnen hätte, warum hat er dann mit dieser Härte reagiert?
Er hat an diesem Abend wohl die Nerven verloren, weil er nicht erwartet
hatte, dass so viele Menschen auf die Straße gehen würden. Außerdem hat er
immer das Schicksal seines Freundes, des gestürzten kirgisischen
Präsidenten Kurmanbek Bakijew, vor Augen.
Was meinen Sie damit?
Bakijew hält sich derzeit in Minsk auf, und die neue kirgisische Regierung
verlangt seine Auslieferung. Mehrmals hat Lukaschenko im Fernsehen gesagt:
„So wie Bakijew werdet ihr mich nicht hinwegfegen.“ Ich war immer erstaunt,
dass niemand diese Drohungen ernst genommen hat. Denn es war klar, dass
Lukaschenko ohne Blutvergießen die Macht nicht abgeben wird. Dennoch
dachten die Menschen, dass sie am Abend des 19. Dezember in Minsk eine
Revolution machen könnten. Warum, ist mir rätselhaft.
Sind der 19. Dezember 2010 und die sich daran anschließende enorme
Repression eine Zäsur?
An so ein Minsk wie zum Jahreswechsel und zu Weihnachten kann ich mich
nicht erinnern: dunkle Fenster, kaum Tannenbäume, kaum Betrunkene. Während
des Feuerwerks waren fast alle Cafés, Restaurants und Taxis leer. So etwas
gab es noch nie; die Leute waren in einem Schockzustand, sie haben sich vor
Angst verkrochen. In den Minuten, als die Menschen zusammengeschlagen
wurden, hat Lukaschenko alles verloren: sein Gesicht, sein Volk und alles,
was er mit Europa erreicht hatte. Der 19. Dezember wird ein großes Trauma
bleiben.
Worin besteht dieses Trauma?
Die Weißrussen haben immer gegen einen äußeren Feind gekämpft, gegen die
Polen, die Russen, die Deutschen. Aber jetzt auf dem Oktoberplatz haben
Weißrussen Weißrussen geschlagen. Weißrussen haben Weißrussen verhaftet und
sie ins Gefängnis gesteckt. Die Feinde sind Weißrussen. Unsere national
eingestellte Elite verbreitet jetzt Gerüchte, dass die Unruhen vom
russischen Geheimdienst provoziert worden seien. Der Gedanke ist leichter
zu ertragen, dass das Fremde waren. Lukaschenko hat uns dazu gebracht, uns
gegenseitig zu bekämpfen.
Woran lässt sich das ablesen außer an den Repressionen?
In meinem Haus in Minsk lebt neben mir eine Frau, die früher als
Verkäuferin gearbeitet hat. Wir haben uns immer freundlich gegrüßt. Nach
dem 19. Dezember begrüßte sie mich nicht mehr. Ich fragte sie, warum. Und
sie sagte: „Eure Zeit ist abgelaufen. Bald werden sie euch alle ins
Gefängnis werfen. Jetzt ist es genug damit, das weißrussische Volk in den
Dreck zu ziehen!“ Kurze Zeit später ging ich zu einem Kindergarten in
Minsk. Dort stand ein Mann mittleren Alters und sprach mich an: „Wissen
Sie, dass in diesem Kindergarten Kinder von Mitarbeitern der Miliz und von
Lukaschenkos Beamten sind? Da müsste man eine Granate hineinwerfen! Diese
Milizionäre … ich hasse sie alle.“ So reden die Leute jetzt, es ist
grauenhaft. Das Land ist geteilt, es gibt nicht mehr ein Weißrussland,
sondern zwei. Das hätte sich früher niemand vorstellen können.
Birgt denn dieses Zäsur oder dieses Trauma nicht doch ein Potenzial für
Veränderungen?
Das Volk will Veränderungen, aber nicht um den Preis des Blutvergießens.
Für die Weißrussen, die immer unter fremder Herrschaft gelebt haben, ging
es immer ums Überleben, das ist so eine Art bäuerlicher Philosophie des
Überlebens. Aber kämpfen werden sie nicht. Einige tun das, aber das Volk
unterstützt sie nicht. Im Baltikum ist das anders, dort gab es eine klar
formulierte nationale Idee. Nehmen Sie die Bewegung Sajudis in Litauen, die
hatte Rückhalt in der Bevölkerung. Weißrussland aber ist eine verspätete
Nation.
Die EU plant, Sanktionen gegen Weißrussland zu verhängen. So soll die Liste
von Politikern, die nicht nach Europa reisen dürfen, erweitert werden.
Im Westen herrscht die Auffassung vor, dass nur eine Revolution die Lage
verändern kann. Schuld ist auch die Opposition, die immer wieder sagt: Wir
werden wie im Westen leben. Doch daran glaubt niemand, denn die Menschen
wissen: Die Minsker U-Bahn fährt nicht nach dem New Yorker Fahrplan,
sondern nach ihrem eigenen. Das meint Lukaschenko, wenn er sagt: Wir leben
so, wie wir das verstehen. Und das Volk folgt ihm darin.
Also haben auch die Opposition und die Demonstranten unterschätzt, wie viel
Rückhalt Lukaschenko in der Bevölkerung genießt?
Vor allem die jungen Leute, die demonstriert haben und nun im Gefängnis
sitzen, waren ihrer Zeit voraus. Es wäre notwendig gewesen, nicht ein
halbes Jahr, sondern fünf Jahre vor den Wahlen mit der Arbeit anzufangen.
In einem halben Jahr gewinnt man das Volk nicht für sich. Und die
Opposition? Nehmen Sie den Dichter Uladzimir Nekljajew, einen der
Präsidentschaftskandidaten. Ein Kolchosarbeiter denkt über den: Schreib
lieber deine Gedichte, du kannst doch nicht einmal eine Kuh melken. In der
weissrussischen Mentalität zählt nicht der Verstand an sich, sondern eine
gewisse Wendigkeit.
Das heißt?
Man darf das Volk nicht überrennen. Man kann ja klüger als das Volk sein,
doch letztlich müssen doch die Menschen die Revolution machen.
25 Jan 2011
## AUTOREN
Barbara Oertel
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Weißrussland
Swetlana Alexijewitsch
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Swetlana Alexijewitsch
Swetlana Alexijewitsch
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