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# taz.de -- Bücher über die Ukraine: Und plötzlich ist Krieg in Europa
> Deutsch-ukrainische Geschichte: Der Historiker Karl Schlögel und die
> Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa suchen nach Ursachen des Konflikts.
Bild: Gedenken an die Toten des Maidan mit einer Lichtinstallation in Kiew.
Gleich mit zwei Büchern meldet sich der gestandene Osteuropa-Experte Karl
Schlögel in diesem Bücherherbst zu Wort. Dass es zwei sind, muss man als
Ausdruck einer intellektuellen Dringlichkeit sehen, die den Autor seit dem
Beginn der Proteste auf dem Maidan in Kiew umtreibt, und als Bearbeitung
einer, wie er bekennt, großen persönlichen Verunsicherung.
Denn, fragt sich Schlögel relativ verzweifelt sowohl in „Entscheidung in
Kiew. Ukrainische Lektionen“ als auch in dem langen Gespräch mit der
Literaturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, das in dem Band „Der
Russland-Reflex“ festgehalten ist, wieso reagierte die deutsche
Öffentlichkeit auf die Ereignisse auf dem Maidan vor zwei Jahren, die
Annexion der Krim durch Russland und den nicht erklärten Krieg in der
Ostukraine so vergleichsweise cool?
Ihm selbst sei das nicht gelungen. Schließlich ist eingetreten, was seit
Jahrzehnten niemand für möglich gehalten hat, was zu verhindern seine
Arbeit beflügelt habe und wogegen man sich durch die Europäische Union
immunisiert glaubte: Es ist Krieg in Europa. Und den meisten falle dazu
nicht mehr ein als das Klischee von den Ukrainern als ewigen Nationalisten
und Antisemiten – „ausgerechnet den Deutschen, die zweimal im 20.
Jahrhundert die Ukraine besetzt und verwüstet hatten“, erinnert Schlögel.
„Entscheidung in Kiew“ soll den weißen Flecken auf der Landkarte füllen,
der die Ukraine bisher war. Der 1948 geborene Historiker, der schon als
Schüler die Sowjetunion bereiste, sich seither intensiv mit Osteuropa
beschäftigt und mehrere Jahre in Moskau gelebt hat, nimmt sich da selbst
gar nicht aus.
## Lemberg, Charkiw, Donezk
Die Lektionen, die der Untertitel verspricht, erteilt der Professor
emeritus nicht nur, vor allem empfängt er sie von der Ukraine, indem er sie
gründlich bereist. In längeren kultursoziologischen Beschreibungen lässt er
Städte wie Kiew, Charkiw, Lemberg, Czernowitz oder Donezk für die Leser
lebendig werden.
Auf solche Städteporträts hat sich Schlögel spezialisiert, programmatisch
hat er das festgehalten 2003 in „Im Raume lesen wir die Zeit“. Die
politischen und sozialen Subjekte bleiben bei dieser Methode allerdings, da
bildet das Ukraine-Buch keine Ausnahme, etwas unterbelichtet, weshalb die
eingangs genannten Vorurteile über Ukrainer auch nur bedingt entkräftet
werden können.
Einen packenden, gut lesbaren Zugang zur Geschichte der Region, zu
„Entkulakisierung“, zur Hungerkatastrophe der Stalinzeit, zur deutschen
Besatzung, zum Holocaust, aber auch zum Donbass-Mythos und dem späteren
Verfall der dortigen Industrieproduktion bieten die Städteporträts aber
allemal.
Auf keinen Fall sollte man sich die lange, die ersten 80 Seiten des Buches
umfassende essayistische Einleitung zu diesen Porträts entgehen lassen.
Denn sie enthält die gründliche Rückschau eines Mannes aus der
68er-Bewegung – einst erklärter Maoist, trotzdem nie ideologischer
Holzkopf, Kritiker des real-existierenden Sozialismus, glaubt man der
Selbstauskunft – auf das eigene Leben und Arbeiten, das mit der Zeit des
Friedens in Europa zusammenfiel und stark aus der biografischen Verwicklung
der Eltern in den Nationalsozialismus motiviert war. Über dieses nicht ganz
unexemplarische Leben legt Schlögel jetzt Rechenschaft ab – gründlich und
völlig frei vom Ton der Rechtschaffenheit.
Einen biografischen Weg beschreitet Schlögel auch zusammen mit Irina
Scherbakowa in „Der Russland-Reflex“. Da gehen – sehr berührend zu lesen…
ein Osteuropa-Historiker aus Deutschland und eine Germanistin aus Russland
mit jüdischen Wurzeln im gemeinsamen Gespräch noch einmal dem eigenen
lebenslangen Einsatz für deutsch-russische Verständigung nach.
Und beide bekennen ein Entsetzen darüber, dass diese Verständigung
inzwischen nur noch pervertiert daherkommt, als oberflächliche
Russlandversteherei, immer in der Nähe des Einverständnisses mit Putins
Politik des Autoritarismus im Innern, der Leugnung seines
Informationskriegs und Blindheit gegenüber der unverfrorenen
Destabilisierung von Ländern im tatsächlichen oder gewünschten
Einflussgebiet.
16 Oct 2015
## AUTOREN
Christiane Müller-Lobeck
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