# taz.de -- Ukrainischer Kriegsdichter: Schüsse sind sein Versmaß | |
> Erst auf dem Maidan, später Soldat: Beim ersten Einsatz setzte sich eine | |
> Gottesanbeterin auf den Gewehrlauf. Da begann er, Gedichte zu schreiben. | |
Bild: Ukrainische Soldaten bei der Rast | |
Kiew taz | Übersetzt bedeutet sein Name: Musiker. Neuerdings nennt man ihn | |
Dichter. Kriegsdichter Maxim Musyka. Als er das hört, lacht er auf. | |
„Krieger ja, Dichter nein!“ | |
Seit anderthalb Jahren kämpft Kapitän-Leutnant der ukrainischen | |
Seestreitkräfte Maxim Musyka im ostukrainischen Kriegsgebiet Donbass. In | |
Momenten der Ruhe entstehen in seinem Zelt „stille Schöpfungen“ – seine … | |
Verse und Strophen gefassten Erlebnisse und Gefühle. Unter diesem Titel kam | |
im Februar Musykas erster Gedichtband heraus. | |
Musyka ist für wenige Tage in Kiew. Er braucht nach einer Verwundung ein | |
ärztliches Attest. Für das Gespräch mit ihm wählte er ein kleines | |
Restaurant im Kiewer Stadtzentrum, wo Kriegsveteranen mit Töpfen und | |
Pfannen hantieren. Nach der Rückkehr aus dem Osten versuchen sie, hier | |
einen Weg ins friedliche Leben zu finden. An den Wänden hängen | |
Erinnerungsstücke vom Militär, im Saal essen Uniformierte zu Mittag. | |
Es ist ein soziales Projekt, die Einnahmen kommen den Verletzten und den | |
Familien der Gefallenen zugute. Viele im Saal kennt Musyka, er grüßt sie, | |
gibt ihnen die Hand, der Chef wird herzlich umarmt. Im Gespräch fallen | |
Namen der Militärpositionen, die mir nichts sagen. Er, kampferfahren, mit | |
kurzen Haaren, breiten Schultern, festem Händedruck. Ich, ein Zivilist ohne | |
Armee-Erfahrung: Zwischen uns liegen Welten. | |
## Surreales unter Beschuss | |
„Mein erster Kampf war der Sturm von Sawur-Mohyla in der Ostukraine. Die | |
Aufgabe: ein leeres Gebäude besetzen und unsere Position dort sichern. Als | |
wir rauswollten, gerieten wir unter Artilleriebeschuss. Ich versteckte mich | |
hinter einem Betonblock und hielt mein Gewehr bereit. Plötzlich sah ich | |
darauf eine riesige Gottesanbeterin sitzen. Stell dir vor: Du liegst im | |
Versteck, und auf deinem Gewehr sitzt eine grüne Gottesanbeterin und schaut | |
dich an. Das war surreal.“ | |
Musyka ist 36. Vor dem Krieg arbeitete er in einer Bank, in der IT-Branche, | |
war Meister für asiatische Kampfkünste. Bevor der Krieg im Osten losbrach, | |
war er bereits an der anderen „Front“ – auf dem Euromaidan in Kiew. | |
Den Platz der Unabhängigkeit betrat er am 1. Dezember 2013. An dem Tag kam | |
es zu ersten schweren Kämpfen zwischen Protestierenden und den | |
Streitkräften. Nachdem in Kiew die ukrainische Aktivistin Tatiana | |
Tschernowol von Unbekannten zusammengeschlagen wurde, bot Musyka kostenlose | |
Selbstverteidigungskurse an. | |
In der Nacht zum 11. Dezember initiierte er mit seinen Freunden eine | |
Menschenkette zwischen den Protestierenden und der Kolonne junger Kadetten | |
der Regierung. „Wir stellten uns mit unserem Rücken gegen die Kolonne, um | |
ihnen zu zeigen, dass wir friedlich sind, gleichzeitig wollten wir | |
vermeiden, dass aus der Menschenmenge in ihre Richtung geworfen wird. Die | |
geringste Provokation hätte Blut zu Folge haben können. Sehr viel Blut. So | |
standen wir sechs Stunden. Nach einiger Zeit haben die Kadetten ihre | |
Schilder gesenkt, die Knüppel eingesteckt, die Helmscheiben nach oben | |
geklappt. Wir unterhielten uns mit ihnen, legten ihnen Karton unter die | |
Füße, damit sie nicht erfroren“, erzählte er in einem Zeitungsinterview. | |
Wir könnten den Kindern | |
Märchen vorlesen | |
Wir könnten ins Kino gehen | |
Aber nun sind wir | |
Kundschafter | |
Und wir töten | |
Seit August 2014 kämpft Musyka in der Ostukraine, erst als Freiwilliger, | |
später als Gruppenführer in der Spezialeinheit Speznas. Fotos auf Musykas | |
Facebook-Seite zeigen den Alltag eines Soldaten an der Front – | |
Schützengraben, Zeltfenster, improvisierter Sportplatz, eine aus | |
Holzscheiben und einer Stange gebastelte Langhantel, immer wieder eine | |
Bambusflöte. Seine alten Freizeitbeschäftigungen bringen ihn durch den | |
Krieg. | |
Wusstest du, | |
dass geplatzter Bambus | |
unglaublich traurig klingt | |
besonders sämiger Ton | |
fließt daraus | |
Seine Fotos fangen auch witzige, friedliche, poetische Augenblicke ein: auf | |
einer Waldlichtung eingepflanzte Frühlingszwiebeln, spielende Welpen, | |
einander zuprostende Finger mit Likörpralinen bei einer Geburtstagsfeier. | |
Was sich in der Zeit dazwischen ereignet, steht in seinen Gedichten: | |
Keine Nacht bringt Ruhe | |
mag man schreien | |
oder weinen | |
oder wie ein Wolf heulen | |
ein gelbes Band um | |
meinen Oberarm | |
ich renne | |
und krieche | |
und schieße | |
Blut | |
Erst im Krieg hat Musyka angefangen zu dichten. Seine Gedichte sagen das | |
Unaussprechbare. Es ist eine Möglichkeit „auszuatmen“. Er schreibt, wenn | |
nicht geschossen wird, in Momenten der Stille und nennt das Geschriebene | |
„stille Schöpfungen“ oder „tichotworenija“ – ein russisches Wortspie… | |
Lässt man im Wort „Gedicht“ – „stichotworenije“ den ersten Buchstabe… | |
so bekommt das Wort eine neue Bedeutung und wird zur „stillen Schöpfung“. | |
Gedichte zu schreiben sei für ihn, wie ein Neugeborenes in die Hände zu | |
nehmen. „Ja, es ist rot, nass, mit Schleim bedeckt, aber lebendig, warm, | |
nicht wie auf einem Bild. Ich glaube, ebendeswegen finden sie eine solche | |
Resonanz beim Leser“, sagt Maxim Musyka. | |
Das Geschriebene wird sogleich auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht, | |
einer Art digitales lyrisches Tagebuch. Das soziale Netzwerk ist für ihn | |
ein Fenster in die Welt aus seinem „verrotteten Zelt“, hier postet er seine | |
Werke, unterhält sich mit denen, die seine Sachen lesen: 25. März 2016, | |
17.26 – „Regen… Weg-Schmeiß-Tag… Lasst uns doch Frage-und-Antwort spie… | |
Äußerste Aufrichtigkeit wird garantiert.“ – „Max, was ist Glück?“ �… | |
bewusste Sein im Jetzt.“ Manchmal sperrt Musyka sein Facebook-Account – das | |
bedeutet, er ist in einem gefährlichen Einsatz. | |
Umarme mich, | |
möchte fühlen, | |
dass ich noch meine | |
Haut habe | |
Küss mich, | |
damit ich weiß, | |
dass meine Lippen | |
noch da sind | |
Als die Zahl der Leser 20.000 überstieg, sammelte Musyka seine Werke in | |
einem Band und unterschrieb ihn mit seinem Kampfnamen Zoran. Was der Name | |
bedeutet, wofür er steht, will er nicht erklären, „dies ist persönlich und | |
nicht mehr wichtig“, sagt er. | |
Als die Zeit zu kämpfen kam | |
nahm er ihren Namen | |
neben sein Herz | |
auf die Uniform | |
um es warm zu halten … | |
Musyka nennt sein Buch „Samisdat“, es ist größtenteils aus Vorauszahlungen | |
seiner Facebook-Fans finanziert. Manche Bestellungen seien aus den von | |
prorussischen Kämpfern kontrollierten Gebieten gekommen. Die Frage sei nur, | |
wie man diese Exemplare an die andere Seite der Front schicken solle. | |
Kämpfen muss er manchmal auch hinter der Front. Etwa, wenn ihm vorgeworfen | |
wird, auf Russisch und damit in der Sprache der Okkupanten zu schreiben. | |
Dann wird er emotional. „Mehrmals war ich drauf und dran, nur auf | |
Ukrainisch zu schreiben, aber ich will nicht das tun, wozu ich gezwungen | |
werde“, erklärt Musyka. | |
Genauso wenig kann er mit denen anfangen, die einen Sieg um jeden Preis | |
fordern, „bis der Kreml in Schutt und Asche liegt“. Sieg ist für ihn gleich | |
Krieg, und Krieg ist gleich Tod. | |
Wie viele Leben | |
bist du bereit zu geben | |
für den Sieg | |
unsere Leben | |
und die deiner Familie | |
schreibe mir | |
all die Namen auf | |
wen bist du bereit | |
in die Liste der Helden | |
einzutragen | |
Neulich kündigte Musyka eine Sammlung „stiller Märchen“ an. „In den let… | |
27 Monaten hatte ich kaum Gelegenheit, meinen Kindern Märchen vorzulesen. | |
Maidan. Dann Krieg. Sie wachsen unaufhaltsam.“ | |
Zurückzukehren | |
fällt immer schwerer, | |
dahin, wo auf dich | |
keiner wartet | |
alle Lieder so schal | |
in friedlichen Städten … | |
Als dieser Text druckfertig war, kam von Musyka die Nachricht, dass er | |
demobilisiert wird. | |
Der Weg – | |
gern hätte ich gesagt – | |
nach Hause | |
wenn ich denn wüsste | |
wo mein Haus liegt | |
Übersetzung: Irina Serdyuk und Katja Blazheichuk | |
17 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Grigori Pyrlik | |
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