| # taz.de -- Buch über die Maidan-Revolution: Point of no return | |
| > Karl Schlögel hat über die Ukraine-Revolution geschrieben – als Zäsur in | |
| > der Geschichte Europas und Geburt einer politischen Nation. Ein | |
| > Vorabdruck. | |
| Bild: Wo alles begann: Proteste auf dem Maidan-Nesaleschnosti-Platz in Kiew 201… | |
| Was der Majdan war, wird zukünftige Historiker beschäftigen. Dass wir | |
| Schwierigkeiten hatten, ihn zu verstehen, steht aber außer Frage. Es muss | |
| einen Grund haben, wenn die elementaren Reflexe, in diesem Fall: die | |
| Solidarität mit den Angegriffenen, nicht funktionieren. Vaclav Havel hat | |
| einmal – mit Bezug auf die Haltung der westlichen Linken zur | |
| Bürgerrechtsbewegung in Osteuropa – von einer „Anatomie der Zurückhaltung… | |
| gesprochen. | |
| Aber sicher ist doch, dass das Ereignis bei aller Buntheit – flash mobs, | |
| Kosakenzelte, Feldküchen, Barrikadenkämpfe, selbst gebaute Wurfgeschosse, | |
| improvisierte Universitäten und Kliniken – in die europäische | |
| Revolutionsgeschichte hineingehört. Der Majdan als Volksbewegung kam über | |
| uns, die wir alle Hannah Arendt „On Revolution“ im Kopf hatten oder die | |
| groß geworden waren mit dem Bild Walter Benjamins von den Revolutionären, | |
| die auf die Turmuhren zielten, um die Zeit anzuhalten und in ein neues | |
| Zeitalter zu springen. Revolution als Bruch, Diskontinuität, Zäsur, | |
| Zeitenwende, point of no return. | |
| Als qualitativ Neues, so hatten wir seit 1989 immer wieder beteuert, sei | |
| nun die Gewaltlosigkeit hinzugekommen: Jadwiga Staniszkis’ „self-limiting | |
| revolution“ und die Praxis des „Runden Tisches“, nach der die gestürzten | |
| Diktatoren nicht liquidiert, sondern ins Exil oder in die Pension geschickt | |
| wurden. Die Revolution sei nicht rachsüchtig, sondern großzügig, sie komme | |
| ohne Barrikadenkämpfe und ohne Märtyrer aus, sie setze nicht auf | |
| Entweder/Oder, nicht auf Leben oder Tod, sondern auf Vermittlung, | |
| Sowohl/Als-auch. Aushandeln – negotiation – war das Zauberwort. Es passte | |
| in eine Zeit, die sich als postheroisch verstand. | |
| Ein neues Paradigma der Umwälzung hatte sich festgesetzt, die friedliche | |
| Revolution als wahre Errungenschaft des so blutigen, an Bürgerkriegen | |
| reichen Jahrhunderts. | |
| Und dann kam der Majdan, die Volkserhebung, und sprengte das Bild, das fast | |
| zum Idealtyp geworden war. Die Chronik der Ereignisse vom 21. November | |
| 2013, als sich kurz nach 22 Uhr an die 1000 Menschen versammelten, um gegen | |
| den Rückzug der Regierung vom Assoziierungsantrag zu protestieren, über den | |
| Aufmarsch der Million, die Barrikadenkämpfe, bis hin zur Flucht des | |
| Präsidenten am 22. Februar – das ist alles sehr dicht dokumentiert und | |
| erlaubt einen Blick in das „Antlitz der Revolution“. Dazwischen liegen alle | |
| nur denkbaren Stufen der Beschleunigung, der Verwirrung, der | |
| Radikalisierung, aber auch der zeitweiligen Entspannung und des Schöpfens | |
| von Zuversicht auf einen friedlichen Ausgang. | |
| Als jemand, der seinen Augen nicht traute, misstrauisch war gegenüber dem | |
| revolutionären Pathos und der sich ganz und gar auf das Modell der „sich | |
| selbst begrenzenden Revolution“ eingelassen hatte, der den Schauplatz erst | |
| betrat, als alles entschieden war – eine monumentale Szenerie aus | |
| verbranntem Asphalt, brandgeschwärzten Fassaden, improvisierten | |
| Gedenkstätten für die Helden der „nebesna sotnja“ (“Himmlischen Hundert… | |
| als jemand, der zu spät gekommen war und eigentlich kein Recht hatte, | |
| mitzureden in einer Sache, in der es um Leben und Tod ging, kann ich nur | |
| die Bilder zitieren, auch wenn neuerdings nichts so überzeugend sein soll | |
| wie die Behauptung, Bilder hätten per se keine Evidenz. | |
| Nein, es gibt eine Evidenz: der Studenten, die – von dem brillanten | |
| ukrainischen Journalisten afghanischer Herkunft Mustafa Najem per Facebook | |
| mobilisiert – zusammengeschlagen wurden von Berkut-Leuten, die nicht | |
| verstehen konnten, dass es Leute gab, die sich ihnen nicht fügen wollten. | |
| Es gibt das Anwachsen und Zusammenströmen von Volksmassen, die nicht | |
| bezahlt sein konnten, schon gar nicht vom CIA; es gibt Gesichter von | |
| Bürgern, die dort waren, weil sie nichts weiter wollten, als in Ruhe | |
| gelassen zu werden; Menschen, die nicht glauben können, dass man sie | |
| zusammenschlägt, oder gar, dass man auf sie schießen lässt. Es gibt Bilder, | |
| die eine Gesellschaft im Durchschnitt zeigen, ohne Pose, ohne heroische | |
| Geste. | |
| Es gibt Bilder von einer Stadt, die nicht mehr alles mit sich machen lässt, | |
| und die Manifestation, die „Stadt in der Stadt“, die Bürger, die auf dem | |
| zentralen Platz ausharren, ihn schützen und versorgen. Es gibt die Bilder | |
| von den schichtweise und reihum Wacheschiebenden und Schlafenden, von den | |
| Erschöpften und Verletzten, die im Michaelskloster abgelegt und versorgt | |
| werden. | |
| Ich behaupte, dass solche Bilder die Lüge vom „Faschismus im Zentrum Kiews“ | |
| widerlegen. Man muss die Hunderttausende, die sich in der Neujahrsnacht | |
| eingefunden und zum Konzert der Band „Okean Elsy“ gekommen waren, ansehen. | |
| Nur große, starke, selbstbewusste Bewegungen bringen im Kampf eine „Offene | |
| Universität“, Krankenhäuser, die Versorgung von Tausenden von Verletzten | |
| zustande, organisieren Konzerte und schieben ein Klavier zwischen die | |
| Fronten, auf dem der sogenannte Pianist-Terrorist Chopin spielte. Die Maske | |
| ist sein Schutz und nicht seine Angriffsmontur. | |
| Die Gewalt hat ebenfalls ein Gesicht, und ich behaupte, dass man sie | |
| erkennen kann. | |
| Da sind die hochgerüsteten Roboter in Schwarz, da sind die Scharfschützen, | |
| da sind die Schläger, die Verwundete aus den Krankenhäusern geholt haben, | |
| um sie zu quälen und zu töten: Seht, das werden wir mit euch machen. Und es | |
| sind die gezielten Schüsse auf die auf dem Pflaster der Instytutska- und | |
| Hruschewskyj-Straße Liegenden, schon Getroffenen, aber die nächsten Schüsse | |
| gelten schon den Helfern, die den Verwundeten zu Hilfe geeilt waren. Auch | |
| sie getroffen. | |
| All das kann man inzwischen nachlesen und nachsehen in zahlreichen | |
| Dokumentationen. | |
| Für all das, was sich zwischen November und März abgespielt hat, gibt es | |
| nur wenige Vergleichsbilder (es gab einmal eine Zeit, in der es noch keine | |
| Bilder gab von solchen Ereignissen) – die Pariser Commune, ja auch die | |
| Revolutionen in Russland, die Aufstände in Berlin 1953, in Posen und | |
| Budapest 1956, auch Prag 1968. | |
| Die Frage ist, warum die Generation, die sich durchaus an den Pariser Mai | |
| erinnert, zu Kiew weitgehend stumm blieb und warum es für elementare | |
| Befunde wie Zivilcourage, Mut, für die Tapferkeit, es mit der Gewalt eines | |
| korrupten Regimes aufzunehmen, keine Worte gab und warum selbst die | |
| spärlichen Sympathieerklärungen noch von reflexiven Hemmungen, | |
| Einschränkungen und Bedenken gedämpft waren. | |
| Wir wissen es: die Äußerungen von Victoria Nuland über Waffenlieferungen in | |
| die Ukraine, die Milliarden, die die USA in den Aufbau von NGOs gesteckt | |
| haben sollen, die Bandera-Plakate gleich neben der Bühne auf dem Majdan und | |
| vieles mehr. Aber all das – ob Gerücht oder der Wirklichkeit entsprechend – | |
| macht die Bilder von der „Revolution der Würde“ nicht ungeschehen. | |
| Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen, aber es ist nicht zu spät, sich | |
| noch einmal dem Majdan und vor allem unserer Haltung zu ihm zuzuwenden, | |
| nicht in der Absicht, ihn zu romantisieren oder revolutionstheoretisch zu | |
| überhöhen, sondern um Anschluss zu finden an eine Gegenwart, die | |
| hinterrücks über uns hereingebrochen ist. | |
| 28 Sep 2015 | |
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