| # taz.de -- Familienroman über Tschernobyl: Geruhsames Leben in der Todeszone | |
| > Alina Bronsky lässt Aussteiger nach Tschernobyl zurückkehren: „Baba | |
| > Dunjas letzte Liebe“, entwirft einen Kosmos, der eigenen Regeln folgt. | |
| Bild: In der Ferne liegt der Sarkophag, unter dem sich das Atomkraftwerk Tscher… | |
| In dem fiktiven Ort Tschernowo ist alles radioaktiv verseucht. Dennoch sind | |
| Menschen in das Dorf nahe Tschernobyl zurückgekehrt. Trotz der Strahlung | |
| trinken die wenigen BewohnerInnen das Brunnenwasser und essen das Gemüse, | |
| das sie anbauen. Sie sind alt und krank, haben nichts mehr zu verlieren. | |
| Den Rest ihres Lebens wollen sie in ihrer Heimat verbringen. Das ist die | |
| Ausgangslage in Alina Bronskys Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“, und es ist | |
| großartig, was sie daraus macht. | |
| Die RückkehrerInnen sind ein verrückter Haufen. Da ist zum Beispiel Marja, | |
| die ständig jammert und Medikamente hortet. Sie vermisst ihren toten Mann, | |
| obwohl er sie geschlagen hat. Der krebskranke Petrov isst kaum etwas, dafür | |
| liest er fast ununterbrochen. Sidorow behauptet, man könne mit seinem | |
| Telefon telefonieren – niemand glaubt ihm, bis es doch einmal funktioniert. | |
| Die Hauptperson ist eine selbstbestimmte Großmutter, die alle Baba Dunja | |
| nennen und früher Krankenschwester war. Sie war die Erste, die zurückkam | |
| und ihr Haus wieder bezog. | |
| Zeit fühlt sich in diesem Roman anders an. Baba Dunja beschreibt aus der | |
| Ich-Perspektive ihren Alltag. Sie pflegt ihren Garten, putzt, kocht und | |
| plaudert mit ihren Nachbarn. Ab und zu kommen WissenschaftlerInnen und | |
| JournalistInnen vorbei. Nur selten fährt sie mit einem Bus in die Stadt, um | |
| Vorräte einzukaufen. „Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und | |
| keine Termine. Im Grunde sind unsere täglichen Abläufe eine Art Spiel.“ | |
| In klaren, einfachen Sätzen erzählt Baba Dunja von ihrem Kosmos, der seinen | |
| eigenen Regeln folgt. Momente, die dramatisch sein könnten, wirken oft nur | |
| bizarr. Die Erzählung ist bescheiden und gewollt plump, das macht sie auf | |
| sonderbare Weise spannend. | |
| ## Den Tod hat sie längst akzeptiert | |
| Nicht nur im Buch, auch in der wirklichen Welt kehrten Menschen in die | |
| sogenannte Todeszone zurück, rund 200 sollen es sein. Nach der | |
| Nuklearkatastrophe im April 1986 wurden die Orte rund um den Reaktor von | |
| Tschernobyl evakuiert, das Gebiet in der ehemaligen Sowjetunion zur | |
| Sperrzone erklärt. Der Tod ist im Roman daher allgegenwärtig, wirkt aber | |
| fast nie bedrohlich. Baba Dunja hat keine Angst vor der Strahlung. Sie ist | |
| „keine 82 mehr“ und wird sowieso bald sterben. Den Tod hat sie längst | |
| akzeptiert. | |
| Als jedoch ein Vater mit seiner gesunden kleinen Tochter in den Ort ziehen | |
| will, eskaliert die Situation. Baba Dunja fordert ihn auf zu verschwinden, | |
| woraufhin es zum Kampf kommt und der Bewohner Petrov den Neuankömmling mit | |
| einem Beil tötet. Das Verbrechen spricht sich herum und die anderen | |
| rätseln, wer ihn umgebracht haben könnte. Makaber ist, dass niemand | |
| ernsthaft geschockt ist. Sie stören sich vor allem an der Leiche, die | |
| Fliegen anlockt. Der Tote muss verschwinden, sind sich die Greise einig. | |
| Baba Dunja, die für die Gemeinschaft eine Art Bürgermeisterin darstellt, | |
| soll das Problem lösen. | |
| ## Der Hahn der Nachbarin | |
| Alina Bronsky gelingt es, ernste Themen in einer unaufgeregten Sprache zu | |
| erzählen. Dadurch erhält die Geschichte einen leichten und schlichten | |
| Charakter. Sie überzeugt zudem durch ihren trockenen Humor. Skurril wird | |
| der Roman vor allem dadurch, wie Bronsky Illusion und Wirklichkeit | |
| vermischt. Denn in dem Dorf wohnen nicht nur Senioren. Es wandeln auch tote | |
| Menschen und Tiere umher – darunter Baba Dunjas verstorbener Mann und der | |
| Hahn der Nachbarin. Baba Dunja scheint die Einzige zu sein, die sie | |
| wahrnimmt und mit ihnen redet. Sie wundert sich allerdings nicht darüber. | |
| Was wahr oder falsch ist, bleibt oft im Dunkeln. Baba Dunja will ihrer | |
| Tochter Irina nicht zur Last fallen, weshalb sie in ihren Briefen Probleme | |
| verharmlost. Und auch Irina, die als Chirurgin für die deutsche Bundeswehr | |
| arbeitet, verschweigt ihrer Mutter vieles, damit sie sich keine Sorgen | |
| macht. Das Thema, ein wie komplexes Gefüge Familien sind, kommt in allen | |
| Romanen von Alina Bronsky vor. Baba Dunja hat vor nichts Angst, außer dass | |
| Irina und deren Tochter Laura krank werden könnten. Obwohl sie Laura noch | |
| nie gesehen hat, liebt sie ihre Enkelin über alles. Als Laura ihr einen | |
| Brief in einer ihr unbekannten Sprache schickt, hütet sie ihn wie einen | |
| Schatz. | |
| So herzensgut Baba Dunja zu manchen Menschen sein kann, so kalt verhält sie | |
| sich gegenüber anderen. Von ihrem Sohn, der in Amerika wohnt, spricht sie | |
| kaum. „Er mag keine Frauen“, erzählt sie Petrov. Sie habe ihn nicht | |
| verstoßen. Aber es sei gut, dass er nicht mehr hier sei. | |
| In der Geschichte durchlebt sie keine große Entwicklung. Baba Dunja genießt | |
| ihre Unabhängigkeit. Sie will sich nicht mehr verändern müssen und kämpft | |
| dafür, an dem Ort und auf die Weise leben zu können, wie sie möchte. In | |
| Tschernowo hat sie das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Die einzige | |
| Erkenntnis, zu der sie am Ende des Buchs kommt, ist, dass sie als Mutter | |
| versagt hat. Sie habe ihrer Tochter nicht beigebracht, sich im Leben | |
| wohlzufühlen. Sie gesteht: „Ich habe es selbst zu spät gelernt.“ | |
| 31 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Julika Bickel | |
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