# taz.de -- Strahlenschäden bei Atomarbeitern: Ausstieg aus der Verharmlosung | |
> Die Langzeitstudie zu den Leukämieerkrankungen von Atomarbeitern zeigt: | |
> Auch Niedrigstrahlung löst Krebs aus. | |
Bild: Kontrollmessung beim Verlassen des Sicherheitsbereiches eines AKW. | |
Radioaktive Strahlung transportiert Energie. Wenn man ein wenig | |
dramatisiert, könnte man von einem kleinen Bombardement sprechen. | |
Energiegeladene Teilchen sausen durch unseren Körper, attackieren | |
Gewebestrukturen und können auch die DNA schädigen. Im schlimmsten Fall | |
resultiert daraus eine Krebserkrankung. Wie gefährlich Radioaktivität – | |
auch in kleinsten Dosen – ist, darüber streiten Forscher und | |
Strahlenschützer seit Jahrzehnten mit verbissener Emphase. | |
Jetzt liefert eine im britischen Medizinerjournal [1][The Lancet] | |
veröffentlichte Studie neue Erkenntnisse. Die Kollegen von [2][Nature] | |
sprechen von einem echten „Meilenstein“. Die Studie liefert ungewöhnlich | |
datenschwere Belege für den Zusammenhang von Niedrigstrahlung und Leukämie | |
bei Atomarbeitern. | |
Das eigentlich Erstaunliche: Die aufgenommene Strahlung war extrem niedrig | |
und dennoch ist ein signifikanter Leukämie-Anstieg erkennbar. Auch andere | |
Blutkrebserkrankungen wie Lymphome und multiple Myelome waren erhöht, | |
allerdings nicht in statistisch-signifikantem Ausmaß. In ihrem Summary | |
sprechen die Forscher von „einer starken Evidenz“ für das Auftreten | |
gehäufter Leukämien bei Niedrigstrahlung über längere Zeiträume. | |
Schon allein die nackten Zahlen der Studie sind beeindruckend: 308.297 | |
Atomarbeiter aus Frankreich, Großbritannien und den USA wurden im | |
Durchschnitt fast 27 Jahre lang beobachtet. Das ergibt 8,2 Millionen | |
Personen-Jahre, die in die Studie eingeflossen sind. Im | |
Beobachtungszeitraum starben 531 Atomwerker an Leukämie, 814 an Lymphomen | |
und 293 an einem multiplen Myelom. Gegenüber den im „Normalfall“ zu | |
erwartenden Krebsfällen waren die Anstiege zwar nur gering, aber bei den | |
Leukämien dennoch signifikant. Zum Vergleich: In Deutschland erkranken | |
jährlich etwa 12 von 100.000 Menschen, aber nicht immer verläuft die | |
Leukämie tödlich. | |
Die riesige Kohorte, das jahrzehntelange Monitoring und die angesichts der | |
seltenen Krankheiten relativ hohen Zahlen von Blutkrebserkrankungen sollen | |
nun endlich belastbare Auskunft geben zu den Risiken radioaktiver | |
Niedrigstrahlung. Die Ergebnisse sind nicht unbedingt überraschend: Auch | |
andere, kleinere Studien seien zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen, sagt | |
die deutsche Physikerin und Strahlenschutzexpertin [3][Inge | |
Schmitz-Feuerhake.] | |
Aber diesmal, so die Professorin, würden die beobachteten Zusammenhänge von | |
der Autorität anerkannter Forscher aus dem Establishment des | |
Strahlenschutzes getragen, die diese Studie verantworten. Und von einem | |
aufwendigen, ja einmaligen Studiendesign. Und ausgerechnet in Frankreich, | |
dem Land mit der höchsten Dichte an Atomkraftwerken, liegt das | |
wissenschaftliche Headquarter für die Studie: das [4][Institut de | |
Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN)] in Fontenay-aux-Roses. | |
## Natürliche Strahlenbelastung | |
Alle in die Studie aufgenommenen Atomarbeiter haben mindestens ein Jahr | |
lang in einer militärischen oder zivilen Atomanlage gearbeitet. Alle haben | |
ein Dosimeter getragen, das ihre Strahlenbelastung gemessen hat. Die dabei | |
ermittelten Werte lagen im Durchschnitt bei 1,1 Millisievert im Jahr, ein | |
sehr niedriger Wert. Die „natürliche“ radioaktive Hintergrundstrahlung | |
liegt in Deutschland bei 2,1 Millisievert. Der Grenzwert für Beschäftigte | |
in der Atomindustrie wurde in Deutschland auf 20 Millisievert im Jahr | |
festgelegt. | |
In Japan hat man nach der dreifachen Fukushima-Kernschmelze den Grenzwert | |
für die Atomarbeiter auf 250 Millisievert erhöht. Die Erklärung der | |
beteiligten Forscher, es müsse alles getan werden, um „den Strahlenschutz | |
zu verbessern und Strahlenbelastungen so stark wie irgend möglich zu | |
reduzieren“, klingt angesichts der ungenierten Heraufsetzung der Werte in | |
Japan wie ein eher verzweifelter Hilferuf. | |
Die Studie“, so kommentiert Nature eher ernüchternd, werde „die bestehenden | |
Richtlinien im Strahlenschutz nicht verändern“. Aber: Die noch immer weit | |
verbreitete Ansicht, es könne einen Schwellenwert für Radioaktivität geben, | |
bei dessen Unterschreitung keine Gefahr mehr besteht, diese „populäre Idee | |
ist jetzt zerstört worden“. Und die Wissenschaft hat nun harte Zahlen im | |
Gepäck, um die täglichen kleinen Strahlenrisiken besser einzuschätzen. | |
Das gilt nicht nur für die untergehende Atomindustrie. Das gilt vor allem | |
auch für die Medizin. In allen Industrieländern haben die | |
Strahlenbelastungen durch neue bildgebende Verfahren wie etwa die | |
Computertomografie stark zugenommen und sich in den letzten 20 Jahren | |
verdoppelt oder verdreifacht. | |
## Medizinische Strahlenbelastungen | |
Die medizinische Belastung wird in den USA auf jährlich 3 Millisievert | |
geschätzt, das ist fast dreimal so viel, wie die 300.000 Atomwerker aus der | |
Studie im Schnitt abbekommen haben. In Deutschland sind es 1,9 Millisievert | |
im Jahr. | |
[5][US-Forscher David Richardson], einer der an der Studie beteiligten | |
Epidemiologen, sieht die Medizin als einen der wichtigsten Verursacher | |
ionisierender Strahlung mit weiter zunehmender Intensität. Ein einziger | |
CT-Scan des Brustkorbs verursache bereits eine Strahlung von mehr als 10 | |
Millisievert, rechnet Richardson vor. Allein in den USA werden jährlich | |
Millionen CT-Scans veranlasst, auch Kinder kommen immer öfter in die Röhre. | |
Und nicht nur Patienten, auch das medizinische Personal ist stark gefährdet | |
– etwa wenn Katheter unter radiologischer Beobachtung in Blutgefäße | |
geschoben werden. Viele als „minimalinvasiv“ gelobte Verfahren, die | |
medizinisch immer wichtiger werden, bringen Strahlenbelastungen für | |
Patienten und Personal mit sich, wobei die medizinischen Helfer Tag für Tag | |
kleinen Dosen ausgesetzt sind. Nutzen und Risiken vieler Untersuchungen | |
müssen nun neu bewertet werden. | |
Wie ist die Studie aufgenommen und diskutiert worden? Natürlich sind die | |
Zusammenhänge hochkomplex und es existieren neben der Strahlung noch andere | |
multiple Einflussgrößen für Krebs. Doch an der Seriosität und Sorgfalt der | |
Studie gibt es keinen Zweifel. Die Mainzer Bio-Statistikerin [6][Maria | |
Blettner], Mitglied der [7][Strahlenschutzkommission], kritisiert, dass | |
Lifestyle-Faktoren, medizinische Strahlenbelastungen oder Risiken durch | |
chemische Stoffe nicht berücksichtigt worden seien. Aber warum sollten | |
diese Faktoren in der Atomwerker-Kohorte besonders gravierend sein und die | |
Ergebnisse verfälschen? | |
## Ein wichtiger Wendepunkt | |
Ein anderer Kritikpunkt mag die ausschließliche Fixierung auf | |
Blutkrebs-Erkrankungen sein. Aber sie sind die am häufigsten mit | |
radioaktiver Strahlung assoziierten bösartigen Erkrankungen. Andere Krebse | |
der Organe oder Herzkrankheiten, die nach Tschernobyl gehäuft auftraten, | |
sind nicht untersucht worden. | |
Der Berliner Epidemiologe und Herausgeber des Strahlen-Pschyrembel, | |
[8][Christoph Zink], bewertet die Studie dennoch als möglicherweise | |
wichtigen Wendepunkt im Strahlenschutz und „Einstieg in ein neues Zeitalter | |
realistischer Risikobetrachtungen“. Zink fordert nach dem Atomausstieg auch | |
einen Ausstieg aus der alten Verharmlosungsstrategie durch die | |
Internationale Strahlenschutzkommission. | |
Fast alle Risikobetrachtungen und Grenzwerte gründeten sich auf Studien zu | |
den Hiroshima-Überlebenden. Jetzt liegen aber ganz andere Daten vor. Zink: | |
„Die Studie bietet die Chance, uns wissenschaftlich endlich ehrlich zu | |
machen.“ | |
30 Jul 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.thelancet.com/pdfs/journals/lanhae/PIIS2352-3026(15)00094-0.pdf | |
[2] http://www.nature.com/news/researchers-pin-down-risks-of-low-dose-radiation… | |
[3] http://www.oh-strahlen.org/isf/ | |
[4] http://www.irsn.fr/EN/Pages/home.aspx | |
[5] http://sph.unc.edu/profiles/david-richardson/ | |
[6] https://www.unimedizin-mainz.de/imbei/imbei/mitarbeiter/univ-prof-dr-rer-na… | |
[7] http://www.ssk.de/ | |
[8] http://www.abw-verlag.de/autoren_details.php?99 | |
## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
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