# taz.de -- Aus "30 Jahre taz": Tschernobyl: Einmal in 100.000 Jahren | |
> Am 26. April 1986 explodiert dreißig Kilometer von Tschernobyl entfernt | |
> ein Atomreaktor. Der Super-GAU führt zu einem grundsätzlichen Umdenken in | |
> Sachen Atomenergie. | |
Bild: Die Desinformationspolitik der Kohl-Regierung führte zum Aufstieg derjen… | |
Man stelle sich vor: Ein Atomreaktor explodiert, mehrere hundert Tonnen | |
radioaktiver Partikel werden in die Atmosphäre geschleudert, verbreiten | |
sich über tausende von Kilometern und gefährden die Gesundheit von | |
Millionen in halb Europa - aber die Menschen wissen von nichts und niemand | |
sagt es ihnen. Was heute, im Zeitalter der grenzenlosen elektronischen | |
Vernetzung, unvorstellbar erscheint, ist vor 22 Jahren genau so geschehen: | |
Im Atomkraftwerk W. I. Lenin am ukrainischen Fluss Pripjat, 30 Kilometer | |
nördlich der Provinzstadt Tschernobyl, verwandelte eine überforderte | |
Betriebsmannschaft einen der vier dort betriebenen Reaktoren in ein | |
brennendes radioaktives Inferno. Doch außer den Arbeitern und | |
Feuerwehrleuten vor Ort sowie ein paar hohen Beamten in Kiew und Moskau und | |
bei den großen Geheimdiensten erfuhr fast drei Tage lang kein Mensch davon. | |
So hatte auch die taz-Redaktion zunächst keine Ahnung. Schlimmer noch: Sie | |
war gar nicht im Dienst. "Der erste Super-GAU der Welt", wie wir später | |
titelten, begann am Morgen des 26. April 1986, einem Samstag, der bei einem | |
Blatt ohne Sonntagsausgabe arbeitsfrei ist. Doch für die Berichterstattung | |
war das ohnehin belanglos, weil nicht nur die sowjetischen Behörden eine | |
vollständige Nachrichtensperre verhängt hatten. Auch die Nachrichtendienste | |
der USA und ihrer Alliierten, die aus ihren Satellitendaten um die Gefahr | |
wussten, schlossen sich dem Schweigekartell an. Darum erreichte die erste | |
Nachricht von dem Unglück die westliche Öffentlichkeit auf denkbar | |
skurrilem Wege. Im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark meldeten am | |
Montagmittag, zwei Tage nach Beginn des Reaktorfeuers, die | |
Strahlungssensoren Alarm. Das Kraftwerk war abgeschaltet und geräumt | |
worden, weil zunächst niemand wusste, woher die Radioaktivität gekommen | |
war. Die entsprechende Agenturmeldung lief kurz vor dem damals furchtbar | |
frühen Redaktionsschluss der taz gegen 16 Uhr aus dem Drucker. Folglich | |
reichte es gerade mal für eine Fünf-Zeilen-Meldung auf Seite 1 der | |
Dienstagsausgabe unter der Überschrift "Schwedisches AKW strahlt". | |
Ich verließ die Redaktion in Erwartung anstrengender Recherchen am nächsten | |
Tag, aber niemand kam auch nur auf die Idee, der Vorfall in Schweden könnte | |
auf eine Reaktorexplosion in der 1.100 Kilometer entfernten Ukraine | |
zurückgehen. | |
Aus dem folgenden anstrengenden Tag wurden dann Monate, die nicht nur die | |
deutsche Politik umwälzten und den Anfang vom Ende der Sowjetunion | |
markierten, sondern auch die taz gründlich veränderten. Nie zuvor und nie | |
wieder danach, das versichern jedenfalls einige der damaligen Mitstreiter, | |
hat die Redaktion so hart und fieberhaft gearbeitet wie in diesem Frühling | |
1986. Der Antrieb dafür war nicht nur das gewaltige Ereignis selbst. Hinzu | |
kam: Erstmals bekam die taz, dieses kleine Bewegungsblatt aus dem | |
verstaubten West-Berlin, dessen Graswurzel-Journalisten den professionellen | |
Maßstäben ihrer Zunft nicht immer so gerecht wurden wie heute, ihre große | |
Chance. Plötzlich hatte ausgerechnet diese bunte Truppe aus dem Hinterhof | |
der deutschen Medienwirtschaft einen doppelten Wettbewerbsvorteil: Sie | |
hatte für kurze Zeit einen Vorsprung bei den Informationen und - noch viel | |
wichtiger - bei der Glaubwürdigkeit. Angesichts des bis heute anhaltenden | |
Leidens der Strahlenopfer mag es zynisch klingen, aber Leugnen wäre | |
zwecklos. Endlich auch einmal die Nase vorn zu haben, das war für uns | |
tazler ein starker Antrieb. | |
Ursache für den unerwarteten journalistischen Höhenflug der Redaktion war | |
das nukleare Schisma in der deutschen Gesellschaft. Die Kritik an der | |
Atomtechnik war bis dahin noch immer ein Außenseiterthema. Zwar hatte der | |
Protest gegen den "Atomstaat" einige hunderttausend Menschen mobilisiert | |
und die Grünen waren mit 5,3 Prozent der Stimmen drei Jahre zuvor in den | |
Bundestag eingezogen. Aber Deutschlands regierende Eliten in Politik und | |
Wirtschaft standen nach wie vor geschlossen zum nuklearen Fortschritt, und | |
genauso hielten es die meisten Journalisten. Von Anfang an war die | |
Katastrophe von Tschernobyl darum nicht nur ein technisches Unglück, | |
sondern auch der größte anzunehmende Unfall für Europas Medien. | |
Über Tage, teils sogar Wochen versagten sie bei der Aufklärung der | |
Bevölkerung. Viel zu abhängig waren sie von der (Des-)Informationspolitik | |
der Regierungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Zwar war nun genau | |
das eingetreten, von dem es stets geheißen hatte, dass es vielleicht ein | |
Mal in 100.000 Betriebsjahren möglich sei. Weil sie diese Gefahr aber über | |
Jahrzehnte geleugnet hatten, übten sich Regierungen und Behörden in Ost und | |
West nun in seltener Eintracht in der Verharmlosung der Strahlengefahr. Man | |
wisse nicht, ob die radioaktive Wolke die Bundesrepublik erreichen werde, | |
aber wenn, dann werde "die Konzentration der Radioaktivität mit Sicherheit | |
nicht so hoch, dass sie gefährlich wird", ließ am Dienstag nach dem Unglück | |
der CSU-Politiker Friedrich Zimmermann verbreiten, der als Innenminister | |
der Regierung Kohl für Umweltfragen zuständig war. Ähnlich äußerten sich | |
die industrienahen Experten der Strahlenschutz-Kommission. Wir wussten es | |
besser. | |
Die vielen neueren Forschungsergebnisse über die Wirkung der sogenannten | |
Niedrigstrahlung gehörten für Atomkraftgegner zum Basiswissen. "Bei Ostwind | |
Gefahr für die BRD" war darum eine der taz-Schlagzeilen am 30. April, dem | |
ersten Tag, nachdem die "Reaktorkatastrophe in der UdSSR" über den Umweg in | |
Schweden bekannt geworden war. Die allermeisten Deutschen erreichte diese | |
Warnung nicht. Sie genossen bei Ostwind und Sonne den folgenden 1. Mai - | |
und setzten sich und ihre besonders strahlungsempfindlichen Kinder einer | |
Strahlung aus, die an vielen Orten bis zu hundertfach über dem Normalniveau | |
lag. | |
Dieser Verzicht auf amtliche Warnungen und Vorsichtmaßnahmen just zu dem | |
Zeitpunkt, als der Fallout aus Tschernobyl über Deutschland niederging, war | |
eine der größten Dummheiten der ersten Regierung von CDU-Kanzler Helmut | |
Kohl. Denn natürlich gab es an Universitäten und freien | |
Forschungsinstituten genügend kritische Geister und Messgeräte, um die | |
Regierungspropaganda zu durchkreuzen. Eine Flut von Messergebnissen | |
erreichte die Redaktion schon in den Nachmittagsstunden jenes strahlenden | |
1. Mai, und es sollten in den folgenden Monaten immer mehr werden. | |
"Die Informationspolitik der Bundesregierung ist kriminell" und "Glaubt | |
ihnen kein Wort", mit diesen Worten kommentierte der Physiker Lothar Hahn | |
von der Darmstädter Filiale des Öko-Instituts noch am selben Tag in der taz | |
die amtliche Ignoranz beim Umgang mit der Strahlenwolke. "Misstraut den | |
Offiziellen" und "Vor Entwarnung wird gewarnt" lauteten darum die | |
programmatischen taz-Überschriften der nächsten beiden Tage, und diese | |
Botschaft kam an. In den folgenden Wochen ließ sich dann geradezu | |
archetypisch beobachten, was geschieht, wenn eine Gesellschaft das | |
Vertrauen in ihre staatlichen Instanzen verliert. | |
Die erste Folge war die Verbreitung von Hysterie und Übertreibung. Daran | |
war auch die taz nicht unbeteiligt. Über Wochen veröffentlichten wir | |
Tabellen von Messwerten, die die meisten Leser gar nicht richtig | |
interpretieren konnten. Weil zunächst niemand zuverlässig Auskunft über | |
Strahlengefahr und Schutzmaßnahmen geben konnte, zogen die Menschen ihre | |
eigenen Schlussfolgerungen. Eltern mit kleinen Kindern und Schwangere | |
flohen in südliche, unverstrahlte Gestade. Die Panik war vor allem im | |
links-grünen Milieu weit verbreitet, plötzlich waren auch viele Mitarbeiter | |
der taz ohne Partner und Kinder zu Hause. Andere, die sich diesen Luxus | |
nicht leisten konnten, begannen verarbeitete Lebensmittel aus der Zeit vor | |
dem Fallout zu horten. Nach und nach unterzog sich die halbe Republik einem | |
Grundkurs in Strahlenmedizin. Ein ums andere Mal erklärten wir den | |
Unterschied zwischen Alpha-, Beta- und Gammastrahlung, die Bedeutung der | |
Einheiten Becquerel, Millirem und Sievert und warum es einen Unterschied | |
macht, ob die Strahlung auf die Haut trifft oder über die Nahrung ins | |
Gewebe gelangt. | |
Parallel dazu stieg das öffentliche Ansehen der Institutionen, die sich von | |
Anfang an um Aufklärung bemüht hatten, in völlig übertriebene Höhen. | |
Ausgerechnet die kleine taz und das nicht minder kleine Öko-Institut | |
gerieten fast über Nacht in den Ruf, den besten Rat und die zuverlässigsten | |
Messdaten zu liefern - eine Rolle, die beide völlig überforderte und höchst | |
widersprüchliche Folgen zeitigte. Tausende versuchten die Redaktion | |
telefonisch um Rat zu fragen und blockierten so die Leitungen, die für die | |
Arbeit so dringend benötigt wurden. Zehn Tage nach der ersten Meldung über | |
das Unglück sah sich die Redaktion darum genötigt, die Leser darum zu | |
bitten, "uns unser Handwerk tun zu lassen", und auf andere glaubwürdige | |
Beratungsangebote bei Grünen und Verbraucherinitiativen zu verweisen. | |
Umso willkommener war jedoch eine weitere Folge der plötzlich so hohen | |
Wertschätzung beim Publikum: Die Auflage unserer "alternativen" | |
Tageszeitung erreichte ungeahnte Höhen. Bis Juni stieg die Zahl der Abos | |
von 20.500 auf 31.000 und der Einzelverkauf verdoppelte sich von 9.000 auf | |
18.000. Erstmals konnten die taz-Mitarbeiter davon träumen, dass ihr | |
Projekt wirtschaftlich eine stabile Grundlage bekommen könnte. | |
Insofern zählten die taz und ihre Mitarbeiter ohne Zweifel zu den Gewinnern | |
der Katastrophe - ein Umstand, von dem auch der Autor dieser Zeilen | |
profitierte. Mit der großzügigen Unterstützung vieler Experten und gestützt | |
auf die Aussagen zahlreicher sowjetischer Funktionäre konnte ich frühzeitig | |
einen Artikel schreiben, der versuchte, die dramatischen Ereignisse bei der | |
Löschung des Atomfeuers am Pripjat zu rekonstruieren. Dort opferten sich | |
mehrere hundert Soldaten und Bergwerker, um schließlich 15 Tage nach | |
Ausbruch des Feuers die glühende Masse des geschmolzenen Urankerns so weit | |
abzukühlen, dass ihr Durchbruch ins Grundwasser und damit eine noch größere | |
Dampfexplosion und Katastrophe verhindert wurde. | |
Aber eine wichtige Korrektur sei hier nachgereicht. Die Beschreibung des | |
technischen Verlaufs, der zur Kernschmelze führte, war gänzlich falsch. Es | |
dauerte noch fünf Jahre, bevor herauskam, wie es tatsächlich dazu gekommen | |
war, dass die Reaktorfahrer von Tschernobyl aus Fahrlässigkeit und | |
Kadavergehorsam ihre Maschine zur Explosion brachten - als Ruhmesblatt für | |
den kritischen Journalismus taugt diese Geschichte nicht. | |
26 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Harald Schumann | |
## TAGS | |
Atomkraftwerk | |
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