# taz.de -- Tierpopulation im Katastrophengebiet: Die Hirsche von Tschernobyl | |
> Die Tierbestände rund um das Atomkraftwerk haben sich erholt. Teilweise | |
> gibt es dort nun sogar mehr Wild als vor dem Unglück. | |
Bild: Elche leben auch im Gefahrengebiet von Tschernobyl ungestört | |
BERLIN taz | Noch heute, fast 30 Jahre nach der Katastrophe von | |
Tschernobyl, schlagen die Geigerzähler Alarm. Die Region nördlich der | |
ukrainischen Hauptstadt Kiew ist so gut wie menschenleer, Pflanzen | |
überwuchern nach und nach die verfallenen Betonbauten der Stadt. Die Natur | |
hat die bislang schlimmste Nuklearkatastrophe aber offenbar besser | |
überstanden als die Zivilisation. Auch die Wildbestände rund um die | |
Unglücksstelle haben sich wieder erholt, wie eine englische Studie zeigt. | |
Ein Forscherteam um den Umweltwissenschaftler Jim Smith von der Universität | |
Portsmouth hat das Vorkommen von Wildtieren im weißrussischen Teil der | |
Sperrzone rund um den Reaktor erfasst. Ihr Ergebnis: Nach dem Tod | |
zahlreicher Tiere direkt nach der Katastrophe 1986 hat sich die Population | |
schnell erholt. | |
Inzwischen gibt es in der verstrahlten Region nicht weniger Hirsche, Rehe | |
und Wildschweine als in Naturreservaten außerhalb des Katastrophengebiets. | |
Wildschweine fanden direkt nach dem GAU sogar sehr gute Bedingungen vor: | |
Sie ernährten sich von den Feldern, die die Bauern verlassen hatten. | |
Die von Menschen nicht kontrollierte Vermehrung der Tiere in der Sperrzone | |
wurde auch durch Raubtiere begrenzt: Wölfe gibt es in der Sperrzone | |
deutlich mehr als in den angrenzenden Gebieten, wo sie wegen Angriffen auf | |
Vieh stark bejagt werden. Andere Tiere wie Wisent und Luchs haben sich in | |
den letzten Jahren sogar neu angesiedelt. | |
## Gesundheitszustand der Tiere ist unklar | |
Bereits 2014 hatte eine Studie der Universität Paris festgestellt, dass | |
einige Vogelarten im Umkreis von Tschernobyl sogar im Durchschnitt größer | |
und gesünder waren als ihre Artgenossen außerhalb der Gefahrenzone. Als | |
Grund wurde damals die Anpassung an den Lebensraum angenommen: Die Tiere | |
wiesen eine erhöhte Konzentration an Glutathion auf, einem Eiweiß, dass für | |
die Zersetzung gefährlicher Substanzen im Körper zuständig ist. | |
Studienleiter Jim Smith sieht die Wildpopulation nicht als Zeichen, dass | |
das Katastrophengebiet ungefährlich geworden ist. Aber: „Auf Dauer ist die | |
Auswirkung der Zivilisation auf die Natur offenbar mit einer nuklearen | |
Katastrophe zu vergleichen.“ Wahrscheinlich sei die Zahl der Tiere im | |
ehemals dicht besiedelten Gebiet um das Atomkraftwerk sogar geringer | |
gewesen als heute, sodass der GAU im Endeffekt eine positive Auswirkung auf | |
die Wildbestände gehabt haben könnte. | |
Allerdings erfasst die Studie nur die Zahl der Tiere. „Wir wissen nicht, in | |
welchem Gesundheitszustand sie sind“, sagt Mathias Edler, Atomexperte von | |
Greenpeace. Hirsche und Wildschweine könnten dort ohne menschlichen | |
Einfluss gut leben. Ob sie jedoch Schäden durch die radioaktive Belastung | |
erlitten hätten, müssten weitere Untersuchungen zeigen. | |
Jim Smith sieht dieses Argument: Man habe die Tiere nicht untersucht, | |
teilweise nur die Fährten analysiert. „Wir wissen nur, dass die Strahlung | |
nicht tödlich ist. Wie es den Tieren geht, können wir nicht sagen“. | |
6 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Dominik Schneider | |
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