# taz.de -- Insektenforscherin über Tschernobyl: „So was hatte ich noch nie … | |
> Cornelia Hesse-Honegger zeichnete nach Tschernobyl mutierte Insekten. Von | |
> Wissenschaftlern wurde sie dafür zunächst belächelt. Heute geben ihr | |
> viele recht. | |
Bild: Die Zeichnung einer Wanze mit aufgeblasenem, schwammförmigem Auge. Gefun… | |
taz: Frau Hesse-Honegger, Wanzen sind Ihre Lieblingstiere. Warum? | |
Cornelia Hesse-Honegger: Sie sind wunderschön und haben eine Vielzahl von | |
Formen und Farben. Als naturwissenschaftliche Zeichnerin hatte ich mal | |
einen Auftrag in der Meeresbiologie im Südpazifik. Dort waren alle Tiere | |
schön bunt. Zurück in der Schweiz kam mir alles langweilig und grau vor. | |
Und Wanzen sind so spannend? | |
Ich fragte einen Entomologie-Professor, ob er nicht tropische Insekten in | |
seiner Sammlung zum Zeichnen für mich hätte. Der hat mir aber geantwortet: | |
„Gehen Sie doch lieber raus in die Natur und finden etwas Lebendiges!“ Das | |
habe ich getan und bin auf die Wanzen gestoßen. Das erste Exemplar habe ich | |
1969 gemalt. Damals war ich 25 Jahre alt. Seitdem habe ich 17.000 Wanzen | |
gesammelt. | |
Wie kamen Sie dazu, mutierte Wanzen zu zeichnen? | |
Bereits 1967 zeichnete ich eine Zeit lang an der Universität Zürich | |
mutierte Fliegen. Damals hat man die Insekten zu Forschungszwecken mit EMS | |
vergiftet. Das ist so ähnlich wie Agent Orange. 1985 zeichnete ich erneut | |
mutierte Laborfliegen, inzwischen nutzten die Forscher dafür jedoch | |
Röntgenstrahlen. | |
Wie sahen diese Fliegen aus? | |
Gruselig. Den Fliegen wuchsen Flügel aus den Augen oder Beine aus den | |
Fühlern. Genau zu der Zeit, als ich diese Insekten malte, ereignete sich | |
die Katastrophe von Tschernobyl. Ich dachte sofort, dass bald alle Tiere so | |
wie die mutierten Fliegen im Labor aussehen könnten. Die Wissenschaftler | |
vor Ort hielten das allerdings für eine sehr dumme Idee. | |
Wieso? | |
Ihrer Meinung nach war die Strahlung in Europa viel zu niedrig, um | |
überhaupt Mutationen hervorrufen zu können. | |
Sie ließen sich davon nicht überzeugen? | |
Ich dachte: Wenn die das nicht erforschen, tue ich es halt. Außerdem war | |
ich um die Umwelt besorgt. Ich wollte nach Schweden gehen und selbst | |
nachsehen. Dort war der radioaktive Niederschlag sehr groß. Allerdings | |
wartete ich die erste Generation nach Tschernobyl ab, weil ich annahm, dass | |
die Elterngeneration wahrscheinlich noch keine morphologischen Schäden | |
aufweisen würde. Deswegen ging ich 1987, ein Jahr nach dem Unfall, für drei | |
Wochen dorthin. | |
Was fanden Sie vor? | |
Als Erstes sind mir vor Ort die roten Pflanzen aufgefallen. Die haben unter | |
der Bestrahlung ihre Farben gewechselt. Und dann habe ich sehr viele | |
deformierte Wanzen gefunden. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen, | |
obwohl ich jahrelang etliche Exemplare gesammelt hatte. Ich hatte das | |
Gefühl, etwas entdeckt zu haben, das unsere Welt auf dramatische Art | |
verändert. Es war traumatisch. | |
Beschreiben Sie den Moment, als Sie die erste Mutation vor Augen hatten. | |
Ich dachte: Bah, da ist es. Ich hatte angenommen, dass Tschernobyl einen | |
Einfluss haben könnte, aber keine Vorstellung, wie der aussehen könnte. Als | |
ich die erste missgebildete Wanze sah, wusste ich es. Sie hatte einen | |
deformierten Fuß. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Ich stellte mir | |
vor, wie die Deformation im selben Maßstab bei einem Menschen aussehen | |
würde. Nach der Entdeckung litt ich unter Alpträumen. Tschernobyl war ein | |
eingreifendes Ereignis für mich. | |
Wie ging es weiter? | |
Zu jedem Ort, an dem ich Wanzen sammelte, habe ich ein kleines Heft | |
angelegt. Darin sind Zeichnungen, Karten und Protokolle. Es ist genau | |
vermerkt, wo ich die Wanzen gefunden habe, welche Schädigungen sie hatten | |
und wie hoch die Rate von Missbildungen war. 1989 veröffentlichte ich ein | |
Buch über meine Feldforschung. | |
Wie waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung? | |
Man hielt mich für eine Spinnerin. Ich habe an keiner Universität mehr | |
Arbeit bekommen. Kein Forscher in Europa wollte wahrhaben, dass schwache | |
Strahlung so etwas tun kann. Biologen waren der Meinung, dass Insekten sehr | |
stark bestrahlt werden müssen, bis es zu einer Mutation kommt. | |
Wieso glaubte Ihnen niemand? | |
Man sagte, meine Forschungen seien unwissenschaftlich. Die von mir | |
beobachteten Missbildungen müssten an irgendetwas anderem liegen, aber | |
nicht an Radioaktivität. Ich war für viele einfach eine eigenartige Frau | |
mit merkwürdigen Geschichten und komischen Lieblingstieren. | |
Sehen Sie sich denn selber als Künstlerin oder Wissenschaftlerin? | |
Als Künstlerin. Aber auch die Kunst ist Forschungsarbeit. Sie hat nur | |
andere Mittel als die Naturwissenschaften. Ich nutze das Malen als | |
Forschungsmedium und setze mich sehr lange mit einem Tier auseinander.Für | |
manche meiner Aquarelle brauche ich bis zu sieben Wochen. | |
Welche Vorteile hat ein Künstler gegenüber einem Wissenschaftler? | |
Meine Wanzenbilder zeigen konkret, was wir Menschen der Natur und uns | |
selber antun. Es ist die Aufgabe des Künstlers, das zu visualisieren, was | |
man noch nicht sieht. Ausgelacht werden oder nicht anerkannt zu sein, ist | |
demnach das Trauma des Künstlers. | |
Wie gingen Sie mit dem Widerspruch der Wissenschaftler um? | |
Es war schwierig. Wenn man selber etwas merkt und alle widersprechen, kommt | |
man ins Zweifeln: Vielleicht habe ich doch unrecht? Sind meine | |
Beobachtungen falsch? Bin ich geistesgestört? Ich habe zum Glück | |
weitergemacht. Meine Wahrnehmungen aus Schweden bestätigten sich später. | |
Wodurch? | |
Ich forschte weiter und fand überall auf der Welt in belasteten Gebieten | |
eine Vielzahl von Wanzen mit Deformationen. Und in Referenzbiotopen keine. | |
Nach Fukushima haben sich außerdem japanische Wissenschaftler [1][auf meine | |
Arbeiten bezogen]. Das Forscherteam fand dort deformierte Schmetterlinge. | |
Die Bilder davon hat jeder [2][in den Zeitungen gesehen]. Auch sie kamen zu | |
dem Schluss, dass schwache Strahlung zu Mutationen führen kann. | |
1990 waren Sie in Tschernobyl. Wie war es dort? | |
In der Geisterstadt Prypjat konnten wir wegen der Strahlungsbelastung nur | |
zehn Minuten bleiben. Außerhalb der Sperrzone war es grauenhaft: Die Leute | |
vor Ort waren depressiv und verzweifelt. Sie wurden nicht evakuiert, sahen | |
keine Zukunft und keinen Sinn darin, etwa Blumen auf den Balkon zu stellen. | |
Es gab keine Messapparate – niemand wusste, wo die besonders stark | |
verstrahlten Gebiete der Stadt waren und wohin sie ihre Kinder zum Spielen | |
schicken sollten. | |
Was ergab Ihre Forschung? | |
Die Tiere und Pflanzen waren stark geschädigt. Ich war mit einer Gruppe vor | |
Ort und hatte leider nur sehr wenig Zeit. Dennoch bekam ich einige | |
Feuerwanzen zusammen. Erstaunlicherweise habe ich dort jedoch nicht so | |
viele mutierte Wanzen wie in Gebieten mit einer niedrigeren | |
Strahlenbelastung gefunden. In Schweden etwa oder auch in der Umgebung von | |
Atomkraftwerken in der Schweiz habe ich viel mehr Mutationen festgestellt. | |
Schwer zu glauben. | |
Ich vermute, das liegt am sogenannten Petkau-Effekt. Der besagt, dass | |
schwächere Strahlendosen über einen längeren Zeitraum eher genetische | |
Schäden anrichten. | |
Wo waren die Mutationsraten am höchsten? | |
In der Nähe von Aufbereitungsanlagen oder unfallfreien AKWs. Meine | |
Forschungen führten mich immer näher an mein Zuhause heran: von La Hague in | |
Frankreich nach Gundremmingen in Bayern bis in das Entlebuch-Tal in der | |
Schweiz. Dort sah ich wirklich schlimme Dinge: eine Wanze, der Beinteile | |
aus dem Bauch wuchsen, Augenpigmente, die quer über den Kopf verteilt | |
waren, ungleich lange Flügel und Körper. Grauenhaft. | |
Was leiten Sie aus Ihrer Forschung ab? | |
Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke, was wir unseren Kindern, | |
Enkeln und Urenkeln antun. Womit die Folgegenerationen sich | |
auseinandersetzen müssen, ist eine furchtbare Vision. Es macht mich | |
wahnsinnig, wenn ohne Rücksicht auf Verluste Entscheidungen zugunsten von | |
AKW-Betreibern getroffen werden. Sicherheit für den Menschen ist überhaupt | |
kein Thema. Wir sind zu gutgläubig und müssen uns mehr einmischen. | |
24 Apr 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cbdv.200800001/epdf | |
[2] /!5084918/ | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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