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# taz.de -- Generation Tschernobyl: Die Cäsium-Zäsur
> Vom Sit-in in die Machtzentren. Früher Protest sann auf Revolution –
> heute sinnt er oft auf die Erhaltung der Welt. Tschernobyl hat alles
> geändert.
Bild: Protestkultur: Am zehnten Jahrestag der Reaktorkatastrophe versammeln sic…
Also, nicht etwa, dass ich ein Spezialist in „heutige Protestkulturen“
wäre. Ich kann z.B. die heutige Antifa, die ja sicher dazu gehört, nicht
aus wirklicher Kenntnis beurteilen; kenne aber zumindest die „alte“
Protestkultur, die vortschernobylsche, ganz gut; war lange ein Teil von
ihr; gehörte etwa zu den Leuten, die Ende der 60er Jahre dabei halfen, den
ins deutsche Exil überwechselnden französischen Genossen Daniel Cohn-Bendit
über eine Straßburger Rheinbrücke in die BRD zu importieren; hörte aber,
anders als DCB, im Lauf der 70er auf, aktiv in organisierten Gruppen der
„alten Protestkultur“ tätig zu sein; an der Verhinderung des Kernkraftwerks
Wyhl war ich noch beteiligt, aber nicht an „vorderster Front“ wie zwischen
den Jahren 1968 und 1971 im Freiburger SDS an der Uni.
Von 1972-77 schrieb ich an der Dissertation, aus der das Buch
„Männerphantasien“ wurde (eine psychoanalytische Faschismusanalyse);
verheiratet, Hausmann und Vater; 1972 hat meine Frau unser erstes Kind
geboren.
Es sind hier zwei grundsätzliche Wahrnehmungen, denen ich nachgehen will.
Die erste: Die heutige Protestkultur – soweit man sie unter ein solches
generalisierendes Label bringen will – geht im Kern von Erhalt aus.
Regenwald erhalten, Luftqualität erhalten, Lebensräume erhalten,
Wasserreservoirs; Schadstoffe begrenzen, CO2-Ausstoß begrenzen; schädliche
Energien begrenzen, erneuerbare fördern. Das Zentralvorhaben lässt sich gut
unter dem Etikett „Schadensbegrenzung“ und „Einleitung von
Heilungsprozessen“ fassen; alle Ziele sind positiv formulierbar.
Im Hintergrund dabei – denn anders wird man die wahrgenommenen
Bedrohlichkeiten nicht in den Griff kriegen – die Vorstellung von einer
(endlich!) vernünftig agierenden Weltregierung; einem Konsortium
herausragender Wissenschafts-Politiker, das auf der Grundlage aller
verfügbaren Daten, Statistiken, Hochrechnungen, Materialanalysen der
Atmosphäre und der Weltmeere, vom Erhalt des Grünbestands zu schweigen, die
notwendigen Maßnahmen einleiten und durchsetzen wird – unterm Beifall der
sich so vor der Globalkatastrophe zu rettenden Weltbevölkerung. Der
„Protestanteil“ daran ist dabei von den Peripherien in die Machtzentren
gewandert. Vom Widerstand in die Gesetzgebung.
## Glaube an die Revolution
Die zweite: Die alte Protestkultur lebte primär von „Widerstand“ und von
Umsturzforderungen. „Die Revolution“– selbst wenn man an ihre Möglichkeit
für Deutschland nicht glaubte – war kein Hirngespinst; andere (andere
Länder, andere Leute) würden sie hinbekommen; hatten sie hinbekommen. Cuba
libre war ein Versprechen aus der realen Welt; politisch für hier
abgerundet mit der Formel „Sex and Drugs and Rock'n’Roll“.
Die eigene Lebensweise hatte dabei nicht „Erhalt“ zur Grundlage. Vielmehr
drehte sich das Lebensgefühl um Entgrenzung, Verausgabung, Verschwendung
und Übertretung. Wenn 1967 Velvet Underground die Nachdenklichkeit des
Sunday Morning besingen konnten mit der Zeile: With all the wasted years so
close behind (All die lässig verschwendeten Jahre im Genick oder im Gepäck)
war das kein Vers des Bedauerns, im Gegenteil: eher ein Selbstlob. „Trau
keinem über 30“ war keine Spaßparole.
Viel älter selber zu werden, nahm man ohnehin nicht unbedingt an. Der
fortdauernde Moloch Kapitalismus/Faschismus und seine wütenden
Kolonialkriege würden einen vorher verschlingen. Aber: „Wer sich nicht
wehrt, lebt verkehrt“. Wir „wehrten uns“, weitgehend ohne Rücksicht auf
irgendwen oder irgendwas; auf uns selbst nicht, auch auf die nicht, mit
denen wir zusammenlebten. Ob man diese Haltung ins tatsächlich
Selbstmörderische durchziehen wollte – wie die RAF-Leute es dann taten –
war die Frage, die sich im Lauf der 70er stellte. Von vielen (u.a. von
mir/uns) wurde sie verneint.
Was tat Tschernobyl 1986 für den Wechsel von der „alten“ zu einer „neuen…
Protestkultur. Ich würde sagen: Alles.
Tschernobyl sprengte die Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Die
Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing-Raketen in der BRD
waren eine Art Vorläufer. Die Drohung des Pershing-Einsatzes (mit nuklearen
Sprengköpfen) tangierte viele Menschen über die üblichen Protestkreise
hinaus. 300.000 Menschen machten sich 1981 auf nach Bonn zum bis dahin
größten Protestauflauf. Es ging um reale Kriegsgefahr; selbst prominente
SPDler marschierten mit gegen das Spiel ihres Chefs mit dem radioaktiven
Feuer. Der Chef setzte sich durch, die Pershings wurden stationiert; die
stationierten Raketen – da sie nicht flogen – verschwanden aus dem
Alltagsbewusstsein. Wo der Alltag „sonst“ einigermaßen zufriedenstellend
läuft, verfallen drohende Negativa der psychischen Abspaltung.
## Hyperobjekt Tschernobyl
Tschernobyl aber tangierte nicht nur 300.000, die Reaktorkatastrophe
tangierte Jede/n: ein „Hyperobjekt“ im Sinne von Timothy Morton.
Hyperobjekte nennt er übergreifende Objektkonglomerate. Im „Hyperobjekt
Tschernobyl“, ist nicht nur das Kernkraftwerk selber, sondern alle weiteren
AKW’s, dazu der gesamte Luftraum über der Erde und die Fall-Out-Gefahr für
alle Länder versammelt; das „Hyperobjekt“ konstruiert sich aus all diesen
Dingen und Gegebenheiten sowie aus der gemeinsamen Angst potentiell aller
Menschen des Erdballs vor radioaktiver Verstrahlung. Der neue Stand,
schockartig, panikauslösend: „Das kann jetzt passieren ohne nukleare
Raketen und H-Bomben-Abwurf“. „Das ist jetzt passiert“.
Die Panikreaktionen Anfang Mai 1986: Hamsterkäufe von
Prä-Tschernobyl-Konserven, Fertiggerichten, Bohnen, Kartoffeln, Reis,
Baby-Nahrung. H-Milchverkäufe ungekannten Ausmaßes. Jodtabletten,
Geigerzähler selbstverständlich. Cäsium 137: Keine Zeitung ohne
Halbwertzeit-Tabellen und Windrichtungsangaben. Nie wieder Pilze! Absehbar
allerdings: die Prätschernobyl-Vorräte würden irgendwann enden.
Noch absehbarer die Halbwertzeit des Booms der Reisekataloge. Wo ist es
sicher? Die Azoren? Kapverden? Patagonien? Die europäische Menschheit auf
gepackten Koffern, Emigration nicht vor den Nazis, sondern vor den
Kernkraftverbrechern. Die große Fluchtbewegung aus den reichen Ländern
blieb aber aus; die Leute kühlten ab, Kenntnisse setzten sich durch: die
Erde dreht sich, Luftmassen bewegen sich, unberechenbar. Der Regen mit den
unsichtbaren Teilchen fällt wo er will. Und wo überhaupt stehen keine
KKW’s?
Die territorialen Fluchtphantasien brachen schnell zusammen. Das Gegenteil
war zu tun: diese Dinger selber in die Flucht zu schlagen, also
abzuschalten.
Die Rolle der Lagerbildung
Und die alten Protestformen? Sahen in der Tat alt aus: Wie macht man ein
Go-In gegen Kernkraftwerke. Bisschen rumdrehen an den Hebeln und das Ding
still-legen? Die Arbeiter aufklären, an was für’nem Scheiß sie da arbeiten.
Mit 'ner roten Fahne in der Linken, rechte Hand mit Flugblatt und
Zeigefinger, wo’s gefälligst langgeht zur atomfreien Welt. No. Die lebten
z. T. davon und wollten die Dinger behalten. Es ergab sich: Politische
Lagerbildung mit festen Freund/Feind-Fronten, die bis dahin noch fast jede
politische Protestaktion strukturiert hatten – ist lächerlich vor
Atomkraftwerken.
Die „Front“ verläuft durch alle; bzw. da ist gar keine. Da ist ein Bündel
diverser und höchstdifferenzierter Problematiken, wo man ein- und demselben
Typ in einem Punkt glühend „rechtgeben“ möchte und in einem anderen ebenso
glühend widersprechen, vollkommen Wurst, zu welchen Parteigebilden oder
Lagern die beiden sich, mehr oder weniger zufällig, das wurde jetzt egal,
zählen.
Was blieb und permanent blieb: alle sind betroffen, potentiell alle. Auch
die größten Kernkraftbefürworter standen auf dem Wochenmarkt an nach
unbelastetem Salat. „Das Leben auf der Erde“ zu retten, rutschte auf die
Agenda auch der reaktionärsten Energiesäcke; immer unter der Versicherung,
das AKW vor der eigenen Haustür sei aber absolut sicher! (Bloß die blöden
Russen…! etc.) (Daß die USA mit Harrisburg eine gar nicht so unähnliche
Leiche im Keller hatten, war in Europa eher überspielt worden; abgespalten;
in Vergessenheit gelagert). Jetzt nun: Gefahr für die ganze Erde.
## Which side are you on?
Für gewiefte Protestler war das allerdings nichts ganz Neues. Unter „mal
kurz die Erde retten“ macht es ja kein ordentlicher Protest-Mensch; das ist
das eher alte Lied; um „die Erde“ insgesamt ging es dauernd schon. „So od…
so – die Erde wird rot“ hatte Wolf Biermann gesungen, „entweder lebend rot
oder tot rot“; sollte heißen, politisch rot, also „geheilt“ – oder blu…
also „sterbend“ in faschistischem Untergang. Logische Folge im Lied: „Wir
mischen uns da’n bisschen ein…So soll es sein. So wird es sein“. Nebbich
wurde es so. Tschernobyl machte Schluss mit dieser Sorte Einmischung.
Sie – die alte Kultur der Protestbewegungen – basierte auf Lagerbildung mit
spezifischen Protestformen: Which side are you on…und kommst du
(gefälligst) zur nächsten Aktion „gegen (…XXX!!!)“; denn: sind wir erst…
VIELE, sind wir erst mal ALLE (= Die ganze Erde uns und kein Stück unseren
Feinden, wie der griechische Weltoberaktivist Mikis Theodorakis
formulierte), dann „Wenn wir erst mal alle richtig organisiert sind im
richtigen Lager“: …“Ja, was dann?“ „Wird sich dann schon zeigen; laut…
richtige Leute auf dem richtigen Haufen werden schon das Richtige tun.
Räterepublik usw.“ Aber erst mal: Go-In, Sit-In, Teach-In, Aufmarsch,
Agitation, Flagge zeigen, Platz besetzen, Raum besetzen, Feind raussetzen
und vertreiben, selbst reinsetzen und darauf achten, daß der (unerläßliche)
Drogengebrauch nicht von professionellen Dealern gesteuert und befeuert
wird.
Bloß: nachdem langsam durchgesickert war, was die Roten Brigaden in Maos
China und die Roten Khmer in Kambodscha veranstaltet hatten, war das nicht
mehr so einfach mit dem: „Werden wir dann schon sehen“. Millionen Tote
lagen da und sahen nicht mehr viel. So oder so: die Erde war rot, und oft
auf beide Weisen; auf ungeahnte Weisen dazu.
Und nun? Manche bockten immer noch mit Lenin rum: Was tun?? (Die K-Gruppler
zähle ich nicht zu den Protestlern. Die herrschten schon in ihren
ML-Staaten. Wie peinlich auch, wenn später, einige Jahre nach Tschernobyl,
in den Westen exilierte deutsche Ost-Linke darauf beharrten, dass es ja in
der DDR „nicht ganz so schlimm“ gewesen war.) Wer unter den organisierten
Linken in diesen Jahren war kein Arschloch? Ich kenne nur wenige.
Die Überfoderung der Einzelnen
Die Sachlage verschob sich. Das Ding mit dem „Viele-Sein“ war nicht
erledigt, die Form der Organisation dieser potentiell Vielen aber durchaus.
Aus den Problemlagen Kernkraft, globale Erwärmung, CO2-Ausstoß ergibt sich
nicht nur der Wunsch, es ergibt sich die Notwendigkeit, möglichst VIELE
(sowohl Einzelmenschen wie Staaten) an den erstrebten Lösungen zu
beteiligen; einfach weil sonst nichts passiert. Keine einzelne Gruppierung,
kein einzelner Staat, kein noch so genialer Einzeldenker ist in der Lage,
diese Dinge zu lösen; selbst eine generelle „Richtung“ der Lösungen
anzugeben, überfordert jede Einzelkraft.
Und hätte ein Einzelner tatsächlich die Lösung – was würde geschehen? Sie
oder er würden nicht einmal ausgelacht, sie würden gar nicht gehört, wenn
nicht eine große Anzahl von Kräften, Bedingungen, Organisationen, Medien,
Ländern sie oder ihn unterstützten und den wissenden Wörtern die
notwendigen Bühnen und Entscheidungsebenen verschafften. Dieser Umstand
läßt sich aktuell besonders im Umgang mit den diversen
Flüchtlingsbewegungen auf der Welt studieren: Die alte „Lösung“, Länder …
den Rang von Schurkenstaaten zu versetzen – die Lagerlösung also – ist
prinzipiell passé.
Es wird noch viel schlimmerer Deals als die momentanen mit Erdogan und den
Saudis geben, bevor solche mehr oder weniger despotisch regierten Länder
sich bereitfinden werden, den CO2-Ausstoß und die globale Erwärmung
überhaupt als Problem anzuerkennen. (Das Verhalten der AfDler und von
Pegida ist reine Vogel-Strauß-Politik: Kopf in den Sand vor dem, was kommt
und sich selbst betäuben mit wissentlich beknackten Parolen). Es gibt
allerdings eine neue politische (nicht: ökonomische) Tendenz zurück zur
Lagerbildung. Das amerikanische Militär, Putin und östliche Teile der EU
arbeiten massiv daran. (Daß man den amerikanischen Imperialismus ablehnt,
ist noch lange kein Grund, zum „Putinversteher“ zu mutieren. An der Spitze
aller weltpolitischen Großsysteme agieren Großverbrecher, was glaubt ihr
denn?)
Fukushima potenziert Tschernobyl
Aber: man kann sie mildern. Man kann sie sogar einspannen für Dinge, die
ganz und gar deren Absichten und Plänen zuwiderlaufen. Nach Tschernobyl ist
Fukushima der entscheidende Einschnitt. Fukushima hat Tschernobyl nicht nur
in Erinnerung gerufen; es hat die Auswirkungen von Tschernobyl potenziert;
jedenfalls in Deutschland. Ob Kanzlerin Merkel tatsächlich zur
Kernkraft-Gegnerin mutierte oder nicht, ist dafür belanglos.2 Sie kann
lesen, unter anderem Umfragen unter Wählern. Diese sagten nach Fukushima,
dass die deutsche Wählermenschheit auf dem Weg war, „den Grünen“ bundeswe…
20 Prozent oder mehr der Stimmen zu geben; woraufhin eine
Politikprofessionelle handelt: Abwahl oder sich an die Spitze „der
Bewegung“ setzen; sie tat, wie wir wissen, zweites; erfolgreich. Um später
(mit Hilfe des sozialdemokratischen Handlangers Gabriel) die Versprechen
wieder zurückzubauen. Prinzipiell aber waren politische Prozesse im Sinne
der Protestkultur aus den Machtzentren heraus zu bewegen.
Das war vorher nicht so. Selbstverständlich wussten wir, daß unsere Demos
den Vietnamkrieg nicht beenden würden. Ziel der Demos war, Leute zu
mobilisieren; sie auf die Straße zu bringen für die gerechte Sache
Antikolonialismus. Durch die massenhafte Anwesenheit auf der Straße den
Leuten zu zeigen, dass die „radikale Minderheit“ (= die stehende Formel der
Presse, nicht nur der Bild) für demonstrierende Studenten, ganz so klein
nicht war und dass sie – die Leute – die Chance hätten, sich anzuschließe…
Sprechchor: „Bürger runter vom Balkon/unterstützt den Vietcong“. Primäres
Ziel: uns selbst zu stärken. Uns dabei zu vermehren. Und klar zu machen:
die BRD unterstützt den US-Imperialismus. Willy Brandt unterstützt den
Vietnamkrieg. Die Antwort, die wir in der Regel erhielten: „Geht doch nach
drüben!“
Der alte Protest und die Herrschaften
Keinen Moment auch dachten wir 1968, wir könnten die Notstandsgesetze
verhindern. Wir konnten 80.000 Leute auf die Beine und nach Bonn bringen;
und waren stolz, dass Heinrich Böll und Erich Fried mitgingen bzw.
mithinkten. Aber die Gesetze verhindern? Es war allen absolut klar, dass
allein die Tatsache, dass die studentischen „Radikalinskis“ gegen etwas
waren, mit absoluter Sicherheit bedeutete, dass die Bonner
Herrschaftscliquen es nun erst recht durchsetzen wollen würden.
„Diskutiert“ mit denen wurde nichts davon. Die Herrschaften sprachen nicht
mit uns. Ein liberaler FDPler, Ralf Dahrendorf, ließ sich einmal herab zu
einer Diskussion mit Rudi Dutschke per Megafon auf der Kühlerhaube eines
Autos vor der Freiburger Stadthalle bei einem FDP-Kongress.
Das Ziel unserer Aktionen war „Bewusstsein schaffen. Und nicht, das
genannte „Ziel“ auch durchzusetzen. Aber: Augen öffnen. Blicke auf die
Nazigeschichte eröffnen. Ist die BRD eine Fortsetzung des NS-Staats? Diese
ernsten – aber doch (eigentlich!) sehr bescheidenen Fragen und Ansprüche –
brachten das herrschende Bonn zur Weißglut. SPD eingeschlossen.
Unser Gefühl: die würden uns alle – wenn sie nur könnten – auf der Stelle
ins KZ stecken. Nächtliche Kneipenparanoia? Die Ansicht, die sog.
„Paranoiker“ seien einerseits zwar krank, andererseits würden sie (oft)
tatsächlich verfolgt, gewann an Anhängern. Für mich persönlich war nur
Herbert Wehner, der Altkommunist mit Anti-Nazi-Geschichte, der Garant im
Bonner Bundestag, dass das schließlich nicht geschehen würde. Solange der
grantige Straußfeind Wehner da herumknarzte, kämen wir nicht ins Lager.
## Überrante Schranken
Das Leben aber läuft – wenn es läuft – auf mehreren Schienen. Gleichzeitig
mit der Proklamation von Zielen wie „Räterepublik“ wurde das Leben, wie es
in Deutschland gelebt wurde, verändert. Wenn Studenten um 1970 nach 10 bis
12 Semestern ihre Abschlussarbeit ablieferten, hatten sie etliche Jahre
weitgehend unkontrollierten Lebens hinter sich. Zwischenprüfungen? Waren
nicht vorhanden oder Formsache. Jedenfalls in den sog.
Geisteswissenschaften. Der Ablauf des Studiums war in der Tat vollkommen
frei. Eine unglaubliche Freiheit, die Studenten der 60er Jahre offen stand.
Drei, vier ordentliche Seminararbeiten in zwei Fächern abliefern und dann
zum Examen. Die übrige Zeit stand für Unsinn zur Verfügung, also Kino,
Liebe, politische Aktion. Flippern, Fußball, Musik und jede Nacht Kneipe.
Regelstudienzeit 10 bis 12 Semester, für viele länger. Aus alldem
resultierte die vielleicht bedeutendste Erfindung der 68er: die WG.
Stand es bis Mitte der 60er noch unter Strafe, einen Körper des „anderen“
Geschlechts in das eigene Studentenzimmer nächtlichs mitzunehmen – selbst
die Studentenwohnheime hatten streng nach Geschlecht getrennte Stockwerke –
waren bis 1968 alle Schranken dieser Art aus dem Weg geräumt: durch
einfaches Überrennen. Ab 1968 wohnten Studenten, wo immer es ihnen gelang,
entsprechenden Wohnraum zu ergattern, gemischt in WG’s. Und veränderten vor
allem eins: Lebensformen.
Aus dieser – staatlicherseits völlig unregulierbaren Verhaltensrevolution –
resultierte die bedeutendste politische Bewegung der 70er, die
Frauenbewegung. Die alte Protestkultur wurde von ihr besonders in jenem
Punkt verändert, der auf eine reale Durchsetzung im Bundesparlament zielte:
die Abschaffung des Paragraph 218. Dafür plädierte nicht nur die neue
„Emma“, auch etablierte Massenmagazine wie der Stern konnten eingespannt
werden. Der Beschluss aber musste im Bundestag fallen, per Gesetz. Die
Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth wechselte das Lager (von der CDU zur
Frauenbewegung) und befürwortete die Abtreibungsfreigabe. Mein Körper
gehört mir – die allererfolgreichste Parole dieser Jahre.
Sie ergriff nicht nur „Feministinnen“; erstmals war ein Problem auf der
Tagesordnung politischen Protests, das nicht mehr eine so oder so gelagerte
Minderheit betraf, sondern im Prinzip alle Frauen; die Hälfte der
Bevölkerung des eigenen Lands wie der ganzen Welt. Dazu mit der (für
bestimmte Länder) realen Durchsetzung eines konkreten Ziels. Hier: Erstes
Ende des APO-Denkens. Während Hausbesetzer immer wussten, eines Tages
würden sie vertrieben werden aus dem, was sie sich erobert hatten; so wie
die RAFler wussten, eines Tages werden sie vor Polizeikugeln enden oder in
einem Hochsicherheitstrakt.
## Der Häuserkampf
Die 70er und frühen 80er waren bestimmt von Häuserkampf, Hausbesetzungen
und Schaffen linksalternativer Szenarien – betrieben in Aktionen, die im
Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs meist illegal waren oder an Illegalität
grenzten. Auch der Haschrebell residierte im Illegalen (mit Vergnügen).
Zerstörung bzw. „Überwindung“ bürgerlicher Lebensformen dominierte die
Denk- und Gefühlsvorgänge. Übertretungen, Gesetzesverletzungen,
Herausforderung der sog. Ordnungsmächte als Selbstverständlichkeit.
Richtung, immer: von der Peripherie gegens Zentrum, gegen die Machtzentren.
Besetzungen, Blockaden, Institutseroberungen: Schaffung befreiter Zonen mit
eigener Verhaltensregelung. Ideelle Grundpfeiler: Internationalismus,
Anti-Kolonialismus, Anti-Imperialismus; Gleichheit der beteiligten
Einzelnen. Keine Macht für Niemand. Handlungsvorgaben: global denken, lokal
handeln. Weitgehende Unabhängigkeit jeweiliger lokaler Gruppen. Keine
Zentralen mit direktiven Kompetenzen. Gegenüber den Ansprüchen herrschender
Zentralmächte: Verweigerung. Nicht einsteigen in das gesellschaftliche
Hamsterrad der Etablierten. Nicht mitsingen im rat race choir, wie das bei
Bob Dylan hieß.
## Der lange Marsch zur Pensionsberechtigung
Den anderen möglichen Weg, Dutschkes „Langen Marsch durch die
Institutionen“ konterte die Brandt-Regierung durch die Berufsverbote.
Dennoch fand sich ein Großteil der Protestler im Schuldienst wieder. Auf
dem langen Marsch zur Pensionsberechtigung wurde gewiss eine Menge
rebellischen Gedankenguts unter die SchülerInnenmenschheit gebracht; in
beamtenmöglicher Form, versteht sich. Prinzipielle Gleichheit lässt sich
allerdings auch von da gut lehren. Und auch vom Parlament aus: erste Grüne
im Bundestag 1983.
Außer durch die Frauenbewegung hatte sich das Protestwesen in den 70ern
auch mit der Ausbreitung von Bürgerinitiativen (BI’s) zu verändern
begonnen. Nicht zufällig entstanden diese zuerst im Zusammenhang mit der
Anti-Kernkraft-Bewegung. Bürgerinitiativen verlangen reale Einflussnahme,
nicht unbedingt Systemveränderungen. Sie arbeiten innerhalb bestehender
Herrschaftssysteme. Sie postulieren klar erreichbare Ziele: KKW Wyhl nicht
bauen! (Und Wyhl wurde nicht gebaut, weil nicht nur linke Studenten da
agierten, sondern große Teile der Kaiserstühler Weinbauern – traditionelle
CDU-Wähler – mitmachten). Brokdorf nicht bauen! Atomabfall nicht in
Gorleben lagern. 100.000 Bürger finden sich ein in Gorleben im März 1979.
Proklamation der „Republik Freies Wendland“. Sie sind Vorläufer dessen, was
im großen Maßstab erst nach Tschernobyl passiert.
## Relikte der alten Protestkultur
Was machen die alten Protestformen heute? Verschwunden sind sie nicht. Die
Ostermarschierer (Gott hab sie selig) summierten sich 2016 bundesweit
jedoch nur zu ca. 15.000 Leutchen. Etwa die gleiche Anzahl
Junggesellen-Abschieds-BegeherInnen dürften am selben Wochenende mit ihren
etwas anderen Anliegen auf deutschen Straßen unterwegs gewesen sein. Ihnen
stellt sich eine andere Frage; eine, die sich jedoch auch allen andern
stellt: was konsumieren wir (beim Feiern) und auch sonst.
Selbstverständlich sind auch vegane und andere Bio-Menschen unter denen,
die sich oder ihre FreundInnen feiernd vom Single-Zustand verabschieden;
Raucher- und Nichtqualmer; Radfahrer und Luftverpester; Schwein- und
Anti-Schwein-Verzehrer. Solche Auseinandersetzungen um alltägliche
Verhaltensdifferenzen sind, denke ich, ebenso unter „Wandel der
Protestkultur“ zu verbuchen.
Denn der politische Protest ist nicht nur, einerseits, von der Peripherie
auf Regierungsebenen gewandert. Er drängt nicht nur nach oben, von der
Marginalität hinein in die Machtzentren, um von dort „den Weltzustand“
wirksam zu verändern. Die Haltung des politischen Protests hat sich auch
„nach unten“ verändert und erweitert, nämlich zu Fragen des Konsums und d…
alltäglichen Verhaltens in allen Lebenslagen.
Freund Daniel Fetzner, der vor ein paar Tagen im ICE zufällig in meinem
Abteil landet, sagt schlicht: „Jeder Einkaufsakt ist heute tendenziell ein
Akt des Protests“, und zwar durch alle Altersklassen und
Gesellschaftsschichten hindurch. Nämlich: „Kaufe ich Bio, verzichte ich auf
Fleisch, aufs Auto und auf Flugreisen, kaufe ich Hanf statt Polyester,
nutze ich Wind- und Solarenergie etc. etc.“; sind massenhaft verbreitete
Fragen und Verhaltenskorrektive. Sie äußern sich nicht in Sit-Ins vor dem
Supermarkt, dem städtischen Energieversorger oder dem Reisebüro, sondern in
der Stimmabgabe des eigenen Geldausgebens. These: „Jeder Konsumakt ist ein
potentieller Protestakt“. In den 70ern war Konsum des Teufels; hieß: dem
Bestechungsangebot des Kapitals erliegen.
## Unterstützender Protest „von unten“
Heute heißt es: konsumieren durchaus, aber nachhaltig, ökologisch. Nur
„Verzicht“ zu predigen, schwächt die Ökonomien. Der Biobauer soll gut
verdienen. Das ist unterstützender „Protest unten“, aber nicht nur „von
unten“, sondern praktiziert durch alle sozialen Schichten hindurch.3 Heißt:
Protest heute zielt auf Bereiche und geschieht vielfach in Aktionen, die
nicht durch Polizeieinsätze zu beenden sind; solche, die nicht einmal
wahrnehmbar sind für Polizeien; parallel zur Erfindung der WG’s Ende der
60er.
Vor Allem: dies sind letztlich klare Folgen von Tschernobyl, da
zusammenfassbar unter den Etiketten: „Sauberer“ (=unvergiftet) und
„Gesünder“. Diese Label liefern 2016 im weinfreundlich naturverbundenen
Baden-Württemberg die 30 Prozent Wählerstimmen für Grüne; die nicht möglich
wären ohne einen gehörigen Anteil abgewanderter CDU-Wähler sowie frisch
aktivierter notorischer Nichtwähler. Der politische „Protest“ hat sich
gedreht ins Allgemeine auf Entgiftung, Gesundheit und Nachhaltigkeit,
praktizierbar von Allen, politisch abgeschöpft von einem geschickten grünen
Leader; das beschert ihm eine 30 Prozent-Basis im „Ländle“. Nicht nur das
Essen, auch die Luft und die Arzneimittel sollen pflanzlicher, ungiftiger,
kurz gesünder sein. Rechtzeitig protestieren gegen ein Leben als
verstrahlte(r) Alte(r); als Pflegedienstopfer. Breiter Konsens.
Konnten „wir“ alten Protestler kaum ein Leben jenseits der 30 imaginieren,
projiziert sich die heutige Population aller Altersklassen als gesund mit
90 (aktiver Freizeitfußball jenseits der 70). Vorausgesetzt die
Totalkatastrophe kann abgewendet werden!
## Vom Protest in die Zentren der Macht
Die „Protestschicht oben“ sieht sich zwar heute als wirksam vor allem da,
wo sie aus den Zentren der politischen Macht heraus agieren kann (Habeck
u.a.). Aber sie nutzt die „Basis unten“ dafür. Grüne Vordenker aller Art
wollen in die Regierungen, auf Teufel komm raus. Das geht so weit, dass
z.B. prominente Autoren der taz nichts dabei finden, in Wahlkampfzeiten die
Zeitung offen als Propagandablättchen für bevorzugte Kandidaten in Stellung
zu bringen. Bei manchen Artikeln fragt man sich, ob man sie nicht gleich
als Bewerbungsschreiben für das Amt von Regierungssprechern lesen sollte.
(Die Zukunft wird’s erweisen). Aber ich bewerte das (hier) ausdrücklich
nicht. Die alte Protestkultur würde sagen: „Auf den Hund gekommen, die
Leute. Verräter!“
Die politische Bewegungsrichtung von „Protest“ in die Zentren gibt es aber
nicht nur hier und nicht nur in diesen Punkten. In Uruguay hat es ein
Ex-Tupamaro zum Staatschef gebracht. Länder, die vor einigen Jahren noch
Marihuanabesitz mit Gefängnis bestraften, geben es mittlerweile frei.
Zentrale Inhalte der alten Protestkultur werden zu akzeptierten Teilen der
Allgemeinkultur; und nicht nur der „progressiven“. Auch Pegida schluckt
Drogen, nicht nur flüssige.
## Fortschreitende Sozialdemokratisierung
Zitat: Das Land hat sich sozialdemokratisiert. Vom Arbeitsrecht über die
Staatsbürgerschaftsdinge bis zum Partnerschaftsverständnis, der Bildung und
dem Verbraucherschutz gelten heute Normen, Werte und Verhaltensweisen als
weitgehend akzeptiert, die noch in den Achtzigerjahren typisch für das
leicht linksbürgerliche Milieu waren, aus denen sich die SPD speiste,
nachdem sie den Charakter als Arbeiterpartei schon deutlich vorher verloren
hatte. Das sozialdemokratische Gefühl hat sich so sehr ausgebreitet, dass
es eben nicht mehr einer Partei zugeschrieben wird. Selbst die CSU hat
ihren Widerstand gegen die Schwulenehe oder den Mindestlohn aufgegeben. Und
niemand macht eine sozialdemokratischere Flüchtlingspolitik als Angela
Merkel (Kurt Kister in der SZ vom 12. April 16)
Das heißt, die Leute wählen SPD, indem sie SPD nicht mehr wählen. Sie
wählen sozialdemokratisch, indem sie andere Parteien wählen, CDU, Grüne,
FDP, Linkspartei (die sich besonders viel darauf zu Gute hält, die besseren
Sozialdemokraten in ihren Reihen zu haben). Die Linkspartei betrifft dabei,
was den Verlust von Wählerstimmen angeht, ein ähnlich bitteres Schicksal
wie die Partei-SPDler. Wahlanalysen ergeben, dass ein gehöriger Anteil
Linksparteiwähler aus sog. Protestwählern bestand.
Indem die Linkspartei auf der Schiene der allgemeinen
Sozialdemokratisierung den Ruch der „Anti-Partei“ mehr und mehr loswird,
wird sie für Protestwähler unattraktiv; die gingen jetzt – überwiegend –
zur AfD; der neuen Schmutzpartei, die nun das Spektrum „Protest“ von rechts
her besetzt. „Protestformen von rechts“ sind eine neue Entwicklung. Je mehr
Grüne und Linksliberale sich in Regierungsgefilden bewegen, desto stärker
wächst (sozusagen naturwüchsig) eine rechte Protestkultur.
## Die rechte Protestkultur
Das hat nichts mit „Fehlern“ etwa zu tun, die SPD oder Linkspartei in den
Wahlkämpfen gemacht hätten; und auch nichts mit deren Parteiprogrammen. Die
SPD geht zugrunde am Erfolg ihres politischen Denkens. Bitter, vielleicht
sogar „tragisch“ (vor allem für Parteifunktionäre; wie sehr müssen sie
drunter leiden, keine attraktivere Figur an ihre Spitze hieven zu können,
als den Erzengel Gabriel.)
Ein anderer neuer Umstand kommt ins Spiel beim Terminus „rechte
Protestkultur“. Sie tritt auf in einigen Städten mit großem rechtem
Potential, wie (aus welchen Gründen immer) Dresden. Für den Rest des Landes
ist sie wahrnehmbar und präsent vor allem über die neuen elektronischen
Technologien; übers „Netz“. Die Möglichkeit propagandistischer
Selbstvervielfältigung übers Internet ist generell massiv unterschätzt
worden; auch von denen, die sie jetzt massiv nutzen. Unterschätzt wurde die
Macht des medialen Worts.
Was auf dem Monitor zu Hause oder auf dem eigenen Smartphone erscheint, hat
keine geringere Autorität wie die Rede von Nachrichtensprechern im TV oder
das gedruckte Wort überregionaler Tageszeitungen. Im Gegenteil: die Rede
von der „Lügenpresse“ bezieht ihre Glaubwürdigkeit vor allem aus dem dies…
Presse entgegengehaltenen Wort oder Bild aus den selbstbestückten
elektronischen Medien der rechten „Gegenkultur“. Sie ist im Moment dabei,
diesen Zentralbegriff der linken Kultur der 70er zu kapern und für sich zu
aktivieren.
## Protest aus Verantwortung
Andererseits: Die deutsche Gesellschaft tickt viel offener, sozialer und
ökologischer, als es sich die CDU und mancher Grüne vorstellen, sagt Herr
Kretschmann (laut taz) und setzt auf „ökologische Modernisierung sowie
Prosperität“; ersteres von beiden war auch ein Ziel des alten politischen
Protests; jetzt Programm in einer Landesregierung. „Auch auf Umwegen kommt
man ans Ziel“ (Kretschmann); das war nicht der Weg der alten Protestkultur:
We want the world and we want it now!
Die Stimmung der Protagonisten in Armin Petras Inszenierung von Frank
Witzels RAF-Roman an der Berliner Schaubühne beschreibt Peter Laudenbach
mit den Worten: Funktionstüchtig für die Erwachsenenwelt zu werden, ist so
ziemlich das Letzte, was sie sich wünschen. „Wachsen heißt sterben, und vor
dem Sterben gibt es Nachsitzen und Strafarbeiten. (SZ, 12.4.16) Der ‚obere‘
Teil der neuen Protestkultur hat genau das bzw. das Gegenteil im Sinn:
„Erwachsenwerden“, „Verantwortung übernehmen“, „Konzepte entwickeln�…
durchsetzen. Die Protestkultur von oben will die Welt verändern, nachhaltig
(=retten), ohne Nachsitzen und Strafarbeiten. Die Gesellschaft,
mehrheitlich sozialdemokratisch geworden, schließt sich, scheint es, zu
großen Teilen, an. Lagerdenken? Nein, danke.
## Todesstoß für die sexuelle Revolution
Ach ja: Die Sexualität hatte auch mit dabei sein sollen bei den
allmenschlichen Bewegungen zur kommenden Befreiung. „In den 60ern glaubte
man an die befreiende Kraft der Sexualität“, hatte ironisch Harun Farocki
in den 90ern angemerkt. Zwar nicht jeder, aber doch viele sexuelle Akte
jener (märchenhaften) Zeit waren (auch) Übertretungsakte; Protestakte gegen
Verbote, gegen Formen gesellschaftlichen Zwangsverhaltens.
Die „„sexuelle Revolution“ war durchaus eine; jedoch mit weitaus geringer…
Halbwertzeit als die radioaktive Strahlung. Sie nutzte sich schneller ab.
Und erhielt – jedenfalls in ihrer Postulationsform als „freie Liebe“ – …
Art Todesstoß durch eine hinterhältige Attacke aus dem Reich des ganz und
gar Unerwarteten. Neben vielen anderen Überraschungen des Liebeslebens half
endgültig AIDS dabei, sich von Sex-Pol-Befreiungsträumen zu verabschieden.
Wie auf so vielen anderen Feldern wurde Lagerbildung auch hier unmöglich.
Die Krankheit Aids schließt Lagerbildung – hier „gute“, dort „schlecht…
Sexualität“ – aus. Auch ist „Sexualitätsfeindlichkeit“ als Grundlage …
faschistischen Verhaltens heute kein allgemein geteiltes Theorem mehr. Zu
groß ist die Zahl der real existierenden, bei uns erlaubten und glückhaft
praktizierten Sexualitäten geworden.
## Akzeptierte Vielfalt
Und die „Befreiungskraft“ des Sexuellen? Befreiende Kräfte aus der
Sexualität können sich nur entwickeln, wo die Partner in etwa ebenbürtig
und rechtlich gleichgestellt sind. In den meisten Weltkulturen und in so
gut wie allen Weltreligionen haben Frauen keine Rechte über den eigenen
Körper und auch sonst keine Stimme im öffentlichen Leben; dafür müssen sie
ungeschützten Beischlaf über sich ergehen lassen. Befreiung durch
Sexualität war/ist das Privileg bevorzugter kleiner Bevölkerungsgruppen in
reichen Ländern.
Die Sexualitäten sind nicht entlassen aus dem Katalog der Wege in ein
lustvolleres, freieres Leben; aber ein Weg unter vielen. Der Abbau
verbindlicher Normen hilft und öffnet neue Wege; Wege neuer
Körpererfahrungen, die bei uns – primär – nicht (mehr) beschritten werden
müssen unterm Hauptgesichtspunkt „Protest“. Akzeptierte Vielfalt
„normalisiert“; womit nicht neue Normsetzung angepeilt ist. „Normal“ in
einem zivilen Sinn müßte heißen, entspannt. Der Schülerzeitung Q-rage!
entnehme ich allerdings, daß das Coming Out in puncto abweichender
Sexualitäten im Klassenverband des Schulalltags immer noch beinah
ausgeschlossen ist; ein, zwei FreundInnen werden „eingeweiht“, wenns hoch
kommt. Die Generallinie heißt weiter: Verheimlichung. Günter Amendts
„Sexfront“ ist, vor allem bei den Teens, immer noch eine Hauptkampflinie.
## Die Gewaltfrage
Selbstverständlich ersetzen nicht einfach „neue“ Protestformen die „alte…
Das Alte geht (wie meistens) im Neuen weiter, aber mit verändertem
Stellenwert. Blockupy, Attac, Greenpeace u.a. arbeiten weitgehend mit
Formen der „alten“ Protestkultur; Blockaden, Massendemonstrationen oder
gezielten, gut durchdachten Einzelaktionen mit großer
Öffentlichkeitswirkung.
Die Sprecherin der „Refugee-Bewegung“ in Deutschland, Napuli Paul: „Wir
treffen uns jeden Sonntag und organisieren Proteste, machen Bustouren zu
den Lagern und vernetzen uns mit anderen Gruppen. Wir arbeiten am
Empowerment der Geflüchteten“. In dieser wie in vielen anderen sind alte
und neue Formen des Protests miteinander verquickt.
Die „Gewalt-Diskussion“ („gegen Sachen, ja“; „gegen Menschen, nein“…
„gar keine Gewalt“), wird dabei nicht viel anders geführt als um 1969. Die
Staaten schützen ihre Politiker mit Polizeiaufgeboten – bei der letzten G7
in Elmau waren es knapp 20.000 Polizisten – oder sie schicken 30.000 zum
Schutz ihrer Castor-Transporte.
Selbstredend kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und
Polizeien, es gibt Verhaftungen; es gibt, wie in Genua beim G8 kriminelle
Übergriffe der Polizeien und/oder Geheimdienstler und einen erschossenen
Demonstranten. Ein paar wenige Polizisten wurden verurteilt zu geringen
Gefängnisstrafen. Die größeren Teile der Protestierenden bei solchen
Anlässen versuchen heute aber eher, die direkte Gewaltauseinandersetzung zu
vermeiden:
## Großarschlöcher aller Länder einigt euch!
Besser, man wählt einen Herrn Teufel ab, als den Teufel an der Macht zu
erschießen. Nicht mehr Guerilla, auch nicht Spaßguerilla. Die anstehenden
Probleme sind zu ernst. Keine Witze mit abschmelzenden Polkappen! Sondern
Pariser Konferenzen mit ernsthaftestem Kulissen-Ringen: „der Versuch, ohne
eine Weltregierung die Welt zu regieren. 195 Länder sollen einen Konsens
finden, die sich sonst nicht über den Weg trauen“ ([1][Bernhard Pötter]).
Die heutige Protestkultur will vor allem eins: dass die Großarschlöcher
aller Länder sich endlich einigen auf einige Erd-Erhaltungsbeschlüsse, die
Allen nützen. Sogar die Religionen (in den 70ern totgeglaubt und totgesagt)
dürfen helfen; wenn sie es (endlich!) fertigbringen, die Großarschlöcher an
ihren Spitzen von ihren gottlosen Überzeugungen zu heilen. Doch benutzen
sie dabei andere Wörter zur Bezeichnung dieser „Spitzen“, als ich hier. Zu
Recht. Hallelujah. Amen.
23 Apr 2016
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## AUTOREN
Klaus Theweleit
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