| # taz.de -- Generation Tschernobyl: Die Cäsium-Zäsur | |
| > Vom Sit-in in die Machtzentren. Früher Protest sann auf Revolution – | |
| > heute sinnt er oft auf die Erhaltung der Welt. Tschernobyl hat alles | |
| > geändert. | |
| Bild: Protestkultur: Am zehnten Jahrestag der Reaktorkatastrophe versammeln sic… | |
| Also, nicht etwa, dass ich ein Spezialist in „heutige Protestkulturen“ | |
| wäre. Ich kann z.B. die heutige Antifa, die ja sicher dazu gehört, nicht | |
| aus wirklicher Kenntnis beurteilen; kenne aber zumindest die „alte“ | |
| Protestkultur, die vortschernobylsche, ganz gut; war lange ein Teil von | |
| ihr; gehörte etwa zu den Leuten, die Ende der 60er Jahre dabei halfen, den | |
| ins deutsche Exil überwechselnden französischen Genossen Daniel Cohn-Bendit | |
| über eine Straßburger Rheinbrücke in die BRD zu importieren; hörte aber, | |
| anders als DCB, im Lauf der 70er auf, aktiv in organisierten Gruppen der | |
| „alten Protestkultur“ tätig zu sein; an der Verhinderung des Kernkraftwerks | |
| Wyhl war ich noch beteiligt, aber nicht an „vorderster Front“ wie zwischen | |
| den Jahren 1968 und 1971 im Freiburger SDS an der Uni. | |
| Von 1972-77 schrieb ich an der Dissertation, aus der das Buch | |
| „Männerphantasien“ wurde (eine psychoanalytische Faschismusanalyse); | |
| verheiratet, Hausmann und Vater; 1972 hat meine Frau unser erstes Kind | |
| geboren. | |
| Es sind hier zwei grundsätzliche Wahrnehmungen, denen ich nachgehen will. | |
| Die erste: Die heutige Protestkultur – soweit man sie unter ein solches | |
| generalisierendes Label bringen will – geht im Kern von Erhalt aus. | |
| Regenwald erhalten, Luftqualität erhalten, Lebensräume erhalten, | |
| Wasserreservoirs; Schadstoffe begrenzen, CO2-Ausstoß begrenzen; schädliche | |
| Energien begrenzen, erneuerbare fördern. Das Zentralvorhaben lässt sich gut | |
| unter dem Etikett „Schadensbegrenzung“ und „Einleitung von | |
| Heilungsprozessen“ fassen; alle Ziele sind positiv formulierbar. | |
| Im Hintergrund dabei – denn anders wird man die wahrgenommenen | |
| Bedrohlichkeiten nicht in den Griff kriegen – die Vorstellung von einer | |
| (endlich!) vernünftig agierenden Weltregierung; einem Konsortium | |
| herausragender Wissenschafts-Politiker, das auf der Grundlage aller | |
| verfügbaren Daten, Statistiken, Hochrechnungen, Materialanalysen der | |
| Atmosphäre und der Weltmeere, vom Erhalt des Grünbestands zu schweigen, die | |
| notwendigen Maßnahmen einleiten und durchsetzen wird – unterm Beifall der | |
| sich so vor der Globalkatastrophe zu rettenden Weltbevölkerung. Der | |
| „Protestanteil“ daran ist dabei von den Peripherien in die Machtzentren | |
| gewandert. Vom Widerstand in die Gesetzgebung. | |
| ## Glaube an die Revolution | |
| Die zweite: Die alte Protestkultur lebte primär von „Widerstand“ und von | |
| Umsturzforderungen. „Die Revolution“– selbst wenn man an ihre Möglichkeit | |
| für Deutschland nicht glaubte – war kein Hirngespinst; andere (andere | |
| Länder, andere Leute) würden sie hinbekommen; hatten sie hinbekommen. Cuba | |
| libre war ein Versprechen aus der realen Welt; politisch für hier | |
| abgerundet mit der Formel „Sex and Drugs and Rock'n’Roll“. | |
| Die eigene Lebensweise hatte dabei nicht „Erhalt“ zur Grundlage. Vielmehr | |
| drehte sich das Lebensgefühl um Entgrenzung, Verausgabung, Verschwendung | |
| und Übertretung. Wenn 1967 Velvet Underground die Nachdenklichkeit des | |
| Sunday Morning besingen konnten mit der Zeile: With all the wasted years so | |
| close behind (All die lässig verschwendeten Jahre im Genick oder im Gepäck) | |
| war das kein Vers des Bedauerns, im Gegenteil: eher ein Selbstlob. „Trau | |
| keinem über 30“ war keine Spaßparole. | |
| Viel älter selber zu werden, nahm man ohnehin nicht unbedingt an. Der | |
| fortdauernde Moloch Kapitalismus/Faschismus und seine wütenden | |
| Kolonialkriege würden einen vorher verschlingen. Aber: „Wer sich nicht | |
| wehrt, lebt verkehrt“. Wir „wehrten uns“, weitgehend ohne Rücksicht auf | |
| irgendwen oder irgendwas; auf uns selbst nicht, auch auf die nicht, mit | |
| denen wir zusammenlebten. Ob man diese Haltung ins tatsächlich | |
| Selbstmörderische durchziehen wollte – wie die RAF-Leute es dann taten – | |
| war die Frage, die sich im Lauf der 70er stellte. Von vielen (u.a. von | |
| mir/uns) wurde sie verneint. | |
| Was tat Tschernobyl 1986 für den Wechsel von der „alten“ zu einer „neuen… | |
| Protestkultur. Ich würde sagen: Alles. | |
| Tschernobyl sprengte die Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Die | |
| Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing-Raketen in der BRD | |
| waren eine Art Vorläufer. Die Drohung des Pershing-Einsatzes (mit nuklearen | |
| Sprengköpfen) tangierte viele Menschen über die üblichen Protestkreise | |
| hinaus. 300.000 Menschen machten sich 1981 auf nach Bonn zum bis dahin | |
| größten Protestauflauf. Es ging um reale Kriegsgefahr; selbst prominente | |
| SPDler marschierten mit gegen das Spiel ihres Chefs mit dem radioaktiven | |
| Feuer. Der Chef setzte sich durch, die Pershings wurden stationiert; die | |
| stationierten Raketen – da sie nicht flogen – verschwanden aus dem | |
| Alltagsbewusstsein. Wo der Alltag „sonst“ einigermaßen zufriedenstellend | |
| läuft, verfallen drohende Negativa der psychischen Abspaltung. | |
| ## Hyperobjekt Tschernobyl | |
| Tschernobyl aber tangierte nicht nur 300.000, die Reaktorkatastrophe | |
| tangierte Jede/n: ein „Hyperobjekt“ im Sinne von Timothy Morton. | |
| Hyperobjekte nennt er übergreifende Objektkonglomerate. Im „Hyperobjekt | |
| Tschernobyl“, ist nicht nur das Kernkraftwerk selber, sondern alle weiteren | |
| AKW’s, dazu der gesamte Luftraum über der Erde und die Fall-Out-Gefahr für | |
| alle Länder versammelt; das „Hyperobjekt“ konstruiert sich aus all diesen | |
| Dingen und Gegebenheiten sowie aus der gemeinsamen Angst potentiell aller | |
| Menschen des Erdballs vor radioaktiver Verstrahlung. Der neue Stand, | |
| schockartig, panikauslösend: „Das kann jetzt passieren ohne nukleare | |
| Raketen und H-Bomben-Abwurf“. „Das ist jetzt passiert“. | |
| Die Panikreaktionen Anfang Mai 1986: Hamsterkäufe von | |
| Prä-Tschernobyl-Konserven, Fertiggerichten, Bohnen, Kartoffeln, Reis, | |
| Baby-Nahrung. H-Milchverkäufe ungekannten Ausmaßes. Jodtabletten, | |
| Geigerzähler selbstverständlich. Cäsium 137: Keine Zeitung ohne | |
| Halbwertzeit-Tabellen und Windrichtungsangaben. Nie wieder Pilze! Absehbar | |
| allerdings: die Prätschernobyl-Vorräte würden irgendwann enden. | |
| Noch absehbarer die Halbwertzeit des Booms der Reisekataloge. Wo ist es | |
| sicher? Die Azoren? Kapverden? Patagonien? Die europäische Menschheit auf | |
| gepackten Koffern, Emigration nicht vor den Nazis, sondern vor den | |
| Kernkraftverbrechern. Die große Fluchtbewegung aus den reichen Ländern | |
| blieb aber aus; die Leute kühlten ab, Kenntnisse setzten sich durch: die | |
| Erde dreht sich, Luftmassen bewegen sich, unberechenbar. Der Regen mit den | |
| unsichtbaren Teilchen fällt wo er will. Und wo überhaupt stehen keine | |
| KKW’s? | |
| Die territorialen Fluchtphantasien brachen schnell zusammen. Das Gegenteil | |
| war zu tun: diese Dinger selber in die Flucht zu schlagen, also | |
| abzuschalten. | |
| Die Rolle der Lagerbildung | |
| Und die alten Protestformen? Sahen in der Tat alt aus: Wie macht man ein | |
| Go-In gegen Kernkraftwerke. Bisschen rumdrehen an den Hebeln und das Ding | |
| still-legen? Die Arbeiter aufklären, an was für’nem Scheiß sie da arbeiten. | |
| Mit 'ner roten Fahne in der Linken, rechte Hand mit Flugblatt und | |
| Zeigefinger, wo’s gefälligst langgeht zur atomfreien Welt. No. Die lebten | |
| z. T. davon und wollten die Dinger behalten. Es ergab sich: Politische | |
| Lagerbildung mit festen Freund/Feind-Fronten, die bis dahin noch fast jede | |
| politische Protestaktion strukturiert hatten – ist lächerlich vor | |
| Atomkraftwerken. | |
| Die „Front“ verläuft durch alle; bzw. da ist gar keine. Da ist ein Bündel | |
| diverser und höchstdifferenzierter Problematiken, wo man ein- und demselben | |
| Typ in einem Punkt glühend „rechtgeben“ möchte und in einem anderen ebenso | |
| glühend widersprechen, vollkommen Wurst, zu welchen Parteigebilden oder | |
| Lagern die beiden sich, mehr oder weniger zufällig, das wurde jetzt egal, | |
| zählen. | |
| Was blieb und permanent blieb: alle sind betroffen, potentiell alle. Auch | |
| die größten Kernkraftbefürworter standen auf dem Wochenmarkt an nach | |
| unbelastetem Salat. „Das Leben auf der Erde“ zu retten, rutschte auf die | |
| Agenda auch der reaktionärsten Energiesäcke; immer unter der Versicherung, | |
| das AKW vor der eigenen Haustür sei aber absolut sicher! (Bloß die blöden | |
| Russen…! etc.) (Daß die USA mit Harrisburg eine gar nicht so unähnliche | |
| Leiche im Keller hatten, war in Europa eher überspielt worden; abgespalten; | |
| in Vergessenheit gelagert). Jetzt nun: Gefahr für die ganze Erde. | |
| ## Which side are you on? | |
| Für gewiefte Protestler war das allerdings nichts ganz Neues. Unter „mal | |
| kurz die Erde retten“ macht es ja kein ordentlicher Protest-Mensch; das ist | |
| das eher alte Lied; um „die Erde“ insgesamt ging es dauernd schon. „So od… | |
| so – die Erde wird rot“ hatte Wolf Biermann gesungen, „entweder lebend rot | |
| oder tot rot“; sollte heißen, politisch rot, also „geheilt“ – oder blu… | |
| also „sterbend“ in faschistischem Untergang. Logische Folge im Lied: „Wir | |
| mischen uns da’n bisschen ein…So soll es sein. So wird es sein“. Nebbich | |
| wurde es so. Tschernobyl machte Schluss mit dieser Sorte Einmischung. | |
| Sie – die alte Kultur der Protestbewegungen – basierte auf Lagerbildung mit | |
| spezifischen Protestformen: Which side are you on…und kommst du | |
| (gefälligst) zur nächsten Aktion „gegen (…XXX!!!)“; denn: sind wir erst… | |
| VIELE, sind wir erst mal ALLE (= Die ganze Erde uns und kein Stück unseren | |
| Feinden, wie der griechische Weltoberaktivist Mikis Theodorakis | |
| formulierte), dann „Wenn wir erst mal alle richtig organisiert sind im | |
| richtigen Lager“: …“Ja, was dann?“ „Wird sich dann schon zeigen; laut… | |
| richtige Leute auf dem richtigen Haufen werden schon das Richtige tun. | |
| Räterepublik usw.“ Aber erst mal: Go-In, Sit-In, Teach-In, Aufmarsch, | |
| Agitation, Flagge zeigen, Platz besetzen, Raum besetzen, Feind raussetzen | |
| und vertreiben, selbst reinsetzen und darauf achten, daß der (unerläßliche) | |
| Drogengebrauch nicht von professionellen Dealern gesteuert und befeuert | |
| wird. | |
| Bloß: nachdem langsam durchgesickert war, was die Roten Brigaden in Maos | |
| China und die Roten Khmer in Kambodscha veranstaltet hatten, war das nicht | |
| mehr so einfach mit dem: „Werden wir dann schon sehen“. Millionen Tote | |
| lagen da und sahen nicht mehr viel. So oder so: die Erde war rot, und oft | |
| auf beide Weisen; auf ungeahnte Weisen dazu. | |
| Und nun? Manche bockten immer noch mit Lenin rum: Was tun?? (Die K-Gruppler | |
| zähle ich nicht zu den Protestlern. Die herrschten schon in ihren | |
| ML-Staaten. Wie peinlich auch, wenn später, einige Jahre nach Tschernobyl, | |
| in den Westen exilierte deutsche Ost-Linke darauf beharrten, dass es ja in | |
| der DDR „nicht ganz so schlimm“ gewesen war.) Wer unter den organisierten | |
| Linken in diesen Jahren war kein Arschloch? Ich kenne nur wenige. | |
| Die Überfoderung der Einzelnen | |
| Die Sachlage verschob sich. Das Ding mit dem „Viele-Sein“ war nicht | |
| erledigt, die Form der Organisation dieser potentiell Vielen aber durchaus. | |
| Aus den Problemlagen Kernkraft, globale Erwärmung, CO2-Ausstoß ergibt sich | |
| nicht nur der Wunsch, es ergibt sich die Notwendigkeit, möglichst VIELE | |
| (sowohl Einzelmenschen wie Staaten) an den erstrebten Lösungen zu | |
| beteiligen; einfach weil sonst nichts passiert. Keine einzelne Gruppierung, | |
| kein einzelner Staat, kein noch so genialer Einzeldenker ist in der Lage, | |
| diese Dinge zu lösen; selbst eine generelle „Richtung“ der Lösungen | |
| anzugeben, überfordert jede Einzelkraft. | |
| Und hätte ein Einzelner tatsächlich die Lösung – was würde geschehen? Sie | |
| oder er würden nicht einmal ausgelacht, sie würden gar nicht gehört, wenn | |
| nicht eine große Anzahl von Kräften, Bedingungen, Organisationen, Medien, | |
| Ländern sie oder ihn unterstützten und den wissenden Wörtern die | |
| notwendigen Bühnen und Entscheidungsebenen verschafften. Dieser Umstand | |
| läßt sich aktuell besonders im Umgang mit den diversen | |
| Flüchtlingsbewegungen auf der Welt studieren: Die alte „Lösung“, Länder … | |
| den Rang von Schurkenstaaten zu versetzen – die Lagerlösung also – ist | |
| prinzipiell passé. | |
| Es wird noch viel schlimmerer Deals als die momentanen mit Erdogan und den | |
| Saudis geben, bevor solche mehr oder weniger despotisch regierten Länder | |
| sich bereitfinden werden, den CO2-Ausstoß und die globale Erwärmung | |
| überhaupt als Problem anzuerkennen. (Das Verhalten der AfDler und von | |
| Pegida ist reine Vogel-Strauß-Politik: Kopf in den Sand vor dem, was kommt | |
| und sich selbst betäuben mit wissentlich beknackten Parolen). Es gibt | |
| allerdings eine neue politische (nicht: ökonomische) Tendenz zurück zur | |
| Lagerbildung. Das amerikanische Militär, Putin und östliche Teile der EU | |
| arbeiten massiv daran. (Daß man den amerikanischen Imperialismus ablehnt, | |
| ist noch lange kein Grund, zum „Putinversteher“ zu mutieren. An der Spitze | |
| aller weltpolitischen Großsysteme agieren Großverbrecher, was glaubt ihr | |
| denn?) | |
| Fukushima potenziert Tschernobyl | |
| Aber: man kann sie mildern. Man kann sie sogar einspannen für Dinge, die | |
| ganz und gar deren Absichten und Plänen zuwiderlaufen. Nach Tschernobyl ist | |
| Fukushima der entscheidende Einschnitt. Fukushima hat Tschernobyl nicht nur | |
| in Erinnerung gerufen; es hat die Auswirkungen von Tschernobyl potenziert; | |
| jedenfalls in Deutschland. Ob Kanzlerin Merkel tatsächlich zur | |
| Kernkraft-Gegnerin mutierte oder nicht, ist dafür belanglos.2 Sie kann | |
| lesen, unter anderem Umfragen unter Wählern. Diese sagten nach Fukushima, | |
| dass die deutsche Wählermenschheit auf dem Weg war, „den Grünen“ bundeswe… | |
| 20 Prozent oder mehr der Stimmen zu geben; woraufhin eine | |
| Politikprofessionelle handelt: Abwahl oder sich an die Spitze „der | |
| Bewegung“ setzen; sie tat, wie wir wissen, zweites; erfolgreich. Um später | |
| (mit Hilfe des sozialdemokratischen Handlangers Gabriel) die Versprechen | |
| wieder zurückzubauen. Prinzipiell aber waren politische Prozesse im Sinne | |
| der Protestkultur aus den Machtzentren heraus zu bewegen. | |
| Das war vorher nicht so. Selbstverständlich wussten wir, daß unsere Demos | |
| den Vietnamkrieg nicht beenden würden. Ziel der Demos war, Leute zu | |
| mobilisieren; sie auf die Straße zu bringen für die gerechte Sache | |
| Antikolonialismus. Durch die massenhafte Anwesenheit auf der Straße den | |
| Leuten zu zeigen, dass die „radikale Minderheit“ (= die stehende Formel der | |
| Presse, nicht nur der Bild) für demonstrierende Studenten, ganz so klein | |
| nicht war und dass sie – die Leute – die Chance hätten, sich anzuschließe… | |
| Sprechchor: „Bürger runter vom Balkon/unterstützt den Vietcong“. Primäres | |
| Ziel: uns selbst zu stärken. Uns dabei zu vermehren. Und klar zu machen: | |
| die BRD unterstützt den US-Imperialismus. Willy Brandt unterstützt den | |
| Vietnamkrieg. Die Antwort, die wir in der Regel erhielten: „Geht doch nach | |
| drüben!“ | |
| Der alte Protest und die Herrschaften | |
| Keinen Moment auch dachten wir 1968, wir könnten die Notstandsgesetze | |
| verhindern. Wir konnten 80.000 Leute auf die Beine und nach Bonn bringen; | |
| und waren stolz, dass Heinrich Böll und Erich Fried mitgingen bzw. | |
| mithinkten. Aber die Gesetze verhindern? Es war allen absolut klar, dass | |
| allein die Tatsache, dass die studentischen „Radikalinskis“ gegen etwas | |
| waren, mit absoluter Sicherheit bedeutete, dass die Bonner | |
| Herrschaftscliquen es nun erst recht durchsetzen wollen würden. | |
| „Diskutiert“ mit denen wurde nichts davon. Die Herrschaften sprachen nicht | |
| mit uns. Ein liberaler FDPler, Ralf Dahrendorf, ließ sich einmal herab zu | |
| einer Diskussion mit Rudi Dutschke per Megafon auf der Kühlerhaube eines | |
| Autos vor der Freiburger Stadthalle bei einem FDP-Kongress. | |
| Das Ziel unserer Aktionen war „Bewusstsein schaffen. Und nicht, das | |
| genannte „Ziel“ auch durchzusetzen. Aber: Augen öffnen. Blicke auf die | |
| Nazigeschichte eröffnen. Ist die BRD eine Fortsetzung des NS-Staats? Diese | |
| ernsten – aber doch (eigentlich!) sehr bescheidenen Fragen und Ansprüche – | |
| brachten das herrschende Bonn zur Weißglut. SPD eingeschlossen. | |
| Unser Gefühl: die würden uns alle – wenn sie nur könnten – auf der Stelle | |
| ins KZ stecken. Nächtliche Kneipenparanoia? Die Ansicht, die sog. | |
| „Paranoiker“ seien einerseits zwar krank, andererseits würden sie (oft) | |
| tatsächlich verfolgt, gewann an Anhängern. Für mich persönlich war nur | |
| Herbert Wehner, der Altkommunist mit Anti-Nazi-Geschichte, der Garant im | |
| Bonner Bundestag, dass das schließlich nicht geschehen würde. Solange der | |
| grantige Straußfeind Wehner da herumknarzte, kämen wir nicht ins Lager. | |
| ## Überrante Schranken | |
| Das Leben aber läuft – wenn es läuft – auf mehreren Schienen. Gleichzeitig | |
| mit der Proklamation von Zielen wie „Räterepublik“ wurde das Leben, wie es | |
| in Deutschland gelebt wurde, verändert. Wenn Studenten um 1970 nach 10 bis | |
| 12 Semestern ihre Abschlussarbeit ablieferten, hatten sie etliche Jahre | |
| weitgehend unkontrollierten Lebens hinter sich. Zwischenprüfungen? Waren | |
| nicht vorhanden oder Formsache. Jedenfalls in den sog. | |
| Geisteswissenschaften. Der Ablauf des Studiums war in der Tat vollkommen | |
| frei. Eine unglaubliche Freiheit, die Studenten der 60er Jahre offen stand. | |
| Drei, vier ordentliche Seminararbeiten in zwei Fächern abliefern und dann | |
| zum Examen. Die übrige Zeit stand für Unsinn zur Verfügung, also Kino, | |
| Liebe, politische Aktion. Flippern, Fußball, Musik und jede Nacht Kneipe. | |
| Regelstudienzeit 10 bis 12 Semester, für viele länger. Aus alldem | |
| resultierte die vielleicht bedeutendste Erfindung der 68er: die WG. | |
| Stand es bis Mitte der 60er noch unter Strafe, einen Körper des „anderen“ | |
| Geschlechts in das eigene Studentenzimmer nächtlichs mitzunehmen – selbst | |
| die Studentenwohnheime hatten streng nach Geschlecht getrennte Stockwerke – | |
| waren bis 1968 alle Schranken dieser Art aus dem Weg geräumt: durch | |
| einfaches Überrennen. Ab 1968 wohnten Studenten, wo immer es ihnen gelang, | |
| entsprechenden Wohnraum zu ergattern, gemischt in WG’s. Und veränderten vor | |
| allem eins: Lebensformen. | |
| Aus dieser – staatlicherseits völlig unregulierbaren Verhaltensrevolution – | |
| resultierte die bedeutendste politische Bewegung der 70er, die | |
| Frauenbewegung. Die alte Protestkultur wurde von ihr besonders in jenem | |
| Punkt verändert, der auf eine reale Durchsetzung im Bundesparlament zielte: | |
| die Abschaffung des Paragraph 218. Dafür plädierte nicht nur die neue | |
| „Emma“, auch etablierte Massenmagazine wie der Stern konnten eingespannt | |
| werden. Der Beschluss aber musste im Bundestag fallen, per Gesetz. Die | |
| Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth wechselte das Lager (von der CDU zur | |
| Frauenbewegung) und befürwortete die Abtreibungsfreigabe. Mein Körper | |
| gehört mir – die allererfolgreichste Parole dieser Jahre. | |
| Sie ergriff nicht nur „Feministinnen“; erstmals war ein Problem auf der | |
| Tagesordnung politischen Protests, das nicht mehr eine so oder so gelagerte | |
| Minderheit betraf, sondern im Prinzip alle Frauen; die Hälfte der | |
| Bevölkerung des eigenen Lands wie der ganzen Welt. Dazu mit der (für | |
| bestimmte Länder) realen Durchsetzung eines konkreten Ziels. Hier: Erstes | |
| Ende des APO-Denkens. Während Hausbesetzer immer wussten, eines Tages | |
| würden sie vertrieben werden aus dem, was sie sich erobert hatten; so wie | |
| die RAFler wussten, eines Tages werden sie vor Polizeikugeln enden oder in | |
| einem Hochsicherheitstrakt. | |
| ## Der Häuserkampf | |
| Die 70er und frühen 80er waren bestimmt von Häuserkampf, Hausbesetzungen | |
| und Schaffen linksalternativer Szenarien – betrieben in Aktionen, die im | |
| Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs meist illegal waren oder an Illegalität | |
| grenzten. Auch der Haschrebell residierte im Illegalen (mit Vergnügen). | |
| Zerstörung bzw. „Überwindung“ bürgerlicher Lebensformen dominierte die | |
| Denk- und Gefühlsvorgänge. Übertretungen, Gesetzesverletzungen, | |
| Herausforderung der sog. Ordnungsmächte als Selbstverständlichkeit. | |
| Richtung, immer: von der Peripherie gegens Zentrum, gegen die Machtzentren. | |
| Besetzungen, Blockaden, Institutseroberungen: Schaffung befreiter Zonen mit | |
| eigener Verhaltensregelung. Ideelle Grundpfeiler: Internationalismus, | |
| Anti-Kolonialismus, Anti-Imperialismus; Gleichheit der beteiligten | |
| Einzelnen. Keine Macht für Niemand. Handlungsvorgaben: global denken, lokal | |
| handeln. Weitgehende Unabhängigkeit jeweiliger lokaler Gruppen. Keine | |
| Zentralen mit direktiven Kompetenzen. Gegenüber den Ansprüchen herrschender | |
| Zentralmächte: Verweigerung. Nicht einsteigen in das gesellschaftliche | |
| Hamsterrad der Etablierten. Nicht mitsingen im rat race choir, wie das bei | |
| Bob Dylan hieß. | |
| ## Der lange Marsch zur Pensionsberechtigung | |
| Den anderen möglichen Weg, Dutschkes „Langen Marsch durch die | |
| Institutionen“ konterte die Brandt-Regierung durch die Berufsverbote. | |
| Dennoch fand sich ein Großteil der Protestler im Schuldienst wieder. Auf | |
| dem langen Marsch zur Pensionsberechtigung wurde gewiss eine Menge | |
| rebellischen Gedankenguts unter die SchülerInnenmenschheit gebracht; in | |
| beamtenmöglicher Form, versteht sich. Prinzipielle Gleichheit lässt sich | |
| allerdings auch von da gut lehren. Und auch vom Parlament aus: erste Grüne | |
| im Bundestag 1983. | |
| Außer durch die Frauenbewegung hatte sich das Protestwesen in den 70ern | |
| auch mit der Ausbreitung von Bürgerinitiativen (BI’s) zu verändern | |
| begonnen. Nicht zufällig entstanden diese zuerst im Zusammenhang mit der | |
| Anti-Kernkraft-Bewegung. Bürgerinitiativen verlangen reale Einflussnahme, | |
| nicht unbedingt Systemveränderungen. Sie arbeiten innerhalb bestehender | |
| Herrschaftssysteme. Sie postulieren klar erreichbare Ziele: KKW Wyhl nicht | |
| bauen! (Und Wyhl wurde nicht gebaut, weil nicht nur linke Studenten da | |
| agierten, sondern große Teile der Kaiserstühler Weinbauern – traditionelle | |
| CDU-Wähler – mitmachten). Brokdorf nicht bauen! Atomabfall nicht in | |
| Gorleben lagern. 100.000 Bürger finden sich ein in Gorleben im März 1979. | |
| Proklamation der „Republik Freies Wendland“. Sie sind Vorläufer dessen, was | |
| im großen Maßstab erst nach Tschernobyl passiert. | |
| ## Relikte der alten Protestkultur | |
| Was machen die alten Protestformen heute? Verschwunden sind sie nicht. Die | |
| Ostermarschierer (Gott hab sie selig) summierten sich 2016 bundesweit | |
| jedoch nur zu ca. 15.000 Leutchen. Etwa die gleiche Anzahl | |
| Junggesellen-Abschieds-BegeherInnen dürften am selben Wochenende mit ihren | |
| etwas anderen Anliegen auf deutschen Straßen unterwegs gewesen sein. Ihnen | |
| stellt sich eine andere Frage; eine, die sich jedoch auch allen andern | |
| stellt: was konsumieren wir (beim Feiern) und auch sonst. | |
| Selbstverständlich sind auch vegane und andere Bio-Menschen unter denen, | |
| die sich oder ihre FreundInnen feiernd vom Single-Zustand verabschieden; | |
| Raucher- und Nichtqualmer; Radfahrer und Luftverpester; Schwein- und | |
| Anti-Schwein-Verzehrer. Solche Auseinandersetzungen um alltägliche | |
| Verhaltensdifferenzen sind, denke ich, ebenso unter „Wandel der | |
| Protestkultur“ zu verbuchen. | |
| Denn der politische Protest ist nicht nur, einerseits, von der Peripherie | |
| auf Regierungsebenen gewandert. Er drängt nicht nur nach oben, von der | |
| Marginalität hinein in die Machtzentren, um von dort „den Weltzustand“ | |
| wirksam zu verändern. Die Haltung des politischen Protests hat sich auch | |
| „nach unten“ verändert und erweitert, nämlich zu Fragen des Konsums und d… | |
| alltäglichen Verhaltens in allen Lebenslagen. | |
| Freund Daniel Fetzner, der vor ein paar Tagen im ICE zufällig in meinem | |
| Abteil landet, sagt schlicht: „Jeder Einkaufsakt ist heute tendenziell ein | |
| Akt des Protests“, und zwar durch alle Altersklassen und | |
| Gesellschaftsschichten hindurch. Nämlich: „Kaufe ich Bio, verzichte ich auf | |
| Fleisch, aufs Auto und auf Flugreisen, kaufe ich Hanf statt Polyester, | |
| nutze ich Wind- und Solarenergie etc. etc.“; sind massenhaft verbreitete | |
| Fragen und Verhaltenskorrektive. Sie äußern sich nicht in Sit-Ins vor dem | |
| Supermarkt, dem städtischen Energieversorger oder dem Reisebüro, sondern in | |
| der Stimmabgabe des eigenen Geldausgebens. These: „Jeder Konsumakt ist ein | |
| potentieller Protestakt“. In den 70ern war Konsum des Teufels; hieß: dem | |
| Bestechungsangebot des Kapitals erliegen. | |
| ## Unterstützender Protest „von unten“ | |
| Heute heißt es: konsumieren durchaus, aber nachhaltig, ökologisch. Nur | |
| „Verzicht“ zu predigen, schwächt die Ökonomien. Der Biobauer soll gut | |
| verdienen. Das ist unterstützender „Protest unten“, aber nicht nur „von | |
| unten“, sondern praktiziert durch alle sozialen Schichten hindurch.3 Heißt: | |
| Protest heute zielt auf Bereiche und geschieht vielfach in Aktionen, die | |
| nicht durch Polizeieinsätze zu beenden sind; solche, die nicht einmal | |
| wahrnehmbar sind für Polizeien; parallel zur Erfindung der WG’s Ende der | |
| 60er. | |
| Vor Allem: dies sind letztlich klare Folgen von Tschernobyl, da | |
| zusammenfassbar unter den Etiketten: „Sauberer“ (=unvergiftet) und | |
| „Gesünder“. Diese Label liefern 2016 im weinfreundlich naturverbundenen | |
| Baden-Württemberg die 30 Prozent Wählerstimmen für Grüne; die nicht möglich | |
| wären ohne einen gehörigen Anteil abgewanderter CDU-Wähler sowie frisch | |
| aktivierter notorischer Nichtwähler. Der politische „Protest“ hat sich | |
| gedreht ins Allgemeine auf Entgiftung, Gesundheit und Nachhaltigkeit, | |
| praktizierbar von Allen, politisch abgeschöpft von einem geschickten grünen | |
| Leader; das beschert ihm eine 30 Prozent-Basis im „Ländle“. Nicht nur das | |
| Essen, auch die Luft und die Arzneimittel sollen pflanzlicher, ungiftiger, | |
| kurz gesünder sein. Rechtzeitig protestieren gegen ein Leben als | |
| verstrahlte(r) Alte(r); als Pflegedienstopfer. Breiter Konsens. | |
| Konnten „wir“ alten Protestler kaum ein Leben jenseits der 30 imaginieren, | |
| projiziert sich die heutige Population aller Altersklassen als gesund mit | |
| 90 (aktiver Freizeitfußball jenseits der 70). Vorausgesetzt die | |
| Totalkatastrophe kann abgewendet werden! | |
| ## Vom Protest in die Zentren der Macht | |
| Die „Protestschicht oben“ sieht sich zwar heute als wirksam vor allem da, | |
| wo sie aus den Zentren der politischen Macht heraus agieren kann (Habeck | |
| u.a.). Aber sie nutzt die „Basis unten“ dafür. Grüne Vordenker aller Art | |
| wollen in die Regierungen, auf Teufel komm raus. Das geht so weit, dass | |
| z.B. prominente Autoren der taz nichts dabei finden, in Wahlkampfzeiten die | |
| Zeitung offen als Propagandablättchen für bevorzugte Kandidaten in Stellung | |
| zu bringen. Bei manchen Artikeln fragt man sich, ob man sie nicht gleich | |
| als Bewerbungsschreiben für das Amt von Regierungssprechern lesen sollte. | |
| (Die Zukunft wird’s erweisen). Aber ich bewerte das (hier) ausdrücklich | |
| nicht. Die alte Protestkultur würde sagen: „Auf den Hund gekommen, die | |
| Leute. Verräter!“ | |
| Die politische Bewegungsrichtung von „Protest“ in die Zentren gibt es aber | |
| nicht nur hier und nicht nur in diesen Punkten. In Uruguay hat es ein | |
| Ex-Tupamaro zum Staatschef gebracht. Länder, die vor einigen Jahren noch | |
| Marihuanabesitz mit Gefängnis bestraften, geben es mittlerweile frei. | |
| Zentrale Inhalte der alten Protestkultur werden zu akzeptierten Teilen der | |
| Allgemeinkultur; und nicht nur der „progressiven“. Auch Pegida schluckt | |
| Drogen, nicht nur flüssige. | |
| ## Fortschreitende Sozialdemokratisierung | |
| Zitat: Das Land hat sich sozialdemokratisiert. Vom Arbeitsrecht über die | |
| Staatsbürgerschaftsdinge bis zum Partnerschaftsverständnis, der Bildung und | |
| dem Verbraucherschutz gelten heute Normen, Werte und Verhaltensweisen als | |
| weitgehend akzeptiert, die noch in den Achtzigerjahren typisch für das | |
| leicht linksbürgerliche Milieu waren, aus denen sich die SPD speiste, | |
| nachdem sie den Charakter als Arbeiterpartei schon deutlich vorher verloren | |
| hatte. Das sozialdemokratische Gefühl hat sich so sehr ausgebreitet, dass | |
| es eben nicht mehr einer Partei zugeschrieben wird. Selbst die CSU hat | |
| ihren Widerstand gegen die Schwulenehe oder den Mindestlohn aufgegeben. Und | |
| niemand macht eine sozialdemokratischere Flüchtlingspolitik als Angela | |
| Merkel (Kurt Kister in der SZ vom 12. April 16) | |
| Das heißt, die Leute wählen SPD, indem sie SPD nicht mehr wählen. Sie | |
| wählen sozialdemokratisch, indem sie andere Parteien wählen, CDU, Grüne, | |
| FDP, Linkspartei (die sich besonders viel darauf zu Gute hält, die besseren | |
| Sozialdemokraten in ihren Reihen zu haben). Die Linkspartei betrifft dabei, | |
| was den Verlust von Wählerstimmen angeht, ein ähnlich bitteres Schicksal | |
| wie die Partei-SPDler. Wahlanalysen ergeben, dass ein gehöriger Anteil | |
| Linksparteiwähler aus sog. Protestwählern bestand. | |
| Indem die Linkspartei auf der Schiene der allgemeinen | |
| Sozialdemokratisierung den Ruch der „Anti-Partei“ mehr und mehr loswird, | |
| wird sie für Protestwähler unattraktiv; die gingen jetzt – überwiegend – | |
| zur AfD; der neuen Schmutzpartei, die nun das Spektrum „Protest“ von rechts | |
| her besetzt. „Protestformen von rechts“ sind eine neue Entwicklung. Je mehr | |
| Grüne und Linksliberale sich in Regierungsgefilden bewegen, desto stärker | |
| wächst (sozusagen naturwüchsig) eine rechte Protestkultur. | |
| ## Die rechte Protestkultur | |
| Das hat nichts mit „Fehlern“ etwa zu tun, die SPD oder Linkspartei in den | |
| Wahlkämpfen gemacht hätten; und auch nichts mit deren Parteiprogrammen. Die | |
| SPD geht zugrunde am Erfolg ihres politischen Denkens. Bitter, vielleicht | |
| sogar „tragisch“ (vor allem für Parteifunktionäre; wie sehr müssen sie | |
| drunter leiden, keine attraktivere Figur an ihre Spitze hieven zu können, | |
| als den Erzengel Gabriel.) | |
| Ein anderer neuer Umstand kommt ins Spiel beim Terminus „rechte | |
| Protestkultur“. Sie tritt auf in einigen Städten mit großem rechtem | |
| Potential, wie (aus welchen Gründen immer) Dresden. Für den Rest des Landes | |
| ist sie wahrnehmbar und präsent vor allem über die neuen elektronischen | |
| Technologien; übers „Netz“. Die Möglichkeit propagandistischer | |
| Selbstvervielfältigung übers Internet ist generell massiv unterschätzt | |
| worden; auch von denen, die sie jetzt massiv nutzen. Unterschätzt wurde die | |
| Macht des medialen Worts. | |
| Was auf dem Monitor zu Hause oder auf dem eigenen Smartphone erscheint, hat | |
| keine geringere Autorität wie die Rede von Nachrichtensprechern im TV oder | |
| das gedruckte Wort überregionaler Tageszeitungen. Im Gegenteil: die Rede | |
| von der „Lügenpresse“ bezieht ihre Glaubwürdigkeit vor allem aus dem dies… | |
| Presse entgegengehaltenen Wort oder Bild aus den selbstbestückten | |
| elektronischen Medien der rechten „Gegenkultur“. Sie ist im Moment dabei, | |
| diesen Zentralbegriff der linken Kultur der 70er zu kapern und für sich zu | |
| aktivieren. | |
| ## Protest aus Verantwortung | |
| Andererseits: Die deutsche Gesellschaft tickt viel offener, sozialer und | |
| ökologischer, als es sich die CDU und mancher Grüne vorstellen, sagt Herr | |
| Kretschmann (laut taz) und setzt auf „ökologische Modernisierung sowie | |
| Prosperität“; ersteres von beiden war auch ein Ziel des alten politischen | |
| Protests; jetzt Programm in einer Landesregierung. „Auch auf Umwegen kommt | |
| man ans Ziel“ (Kretschmann); das war nicht der Weg der alten Protestkultur: | |
| We want the world and we want it now! | |
| Die Stimmung der Protagonisten in Armin Petras Inszenierung von Frank | |
| Witzels RAF-Roman an der Berliner Schaubühne beschreibt Peter Laudenbach | |
| mit den Worten: Funktionstüchtig für die Erwachsenenwelt zu werden, ist so | |
| ziemlich das Letzte, was sie sich wünschen. „Wachsen heißt sterben, und vor | |
| dem Sterben gibt es Nachsitzen und Strafarbeiten. (SZ, 12.4.16) Der ‚obere‘ | |
| Teil der neuen Protestkultur hat genau das bzw. das Gegenteil im Sinn: | |
| „Erwachsenwerden“, „Verantwortung übernehmen“, „Konzepte entwickeln�… | |
| durchsetzen. Die Protestkultur von oben will die Welt verändern, nachhaltig | |
| (=retten), ohne Nachsitzen und Strafarbeiten. Die Gesellschaft, | |
| mehrheitlich sozialdemokratisch geworden, schließt sich, scheint es, zu | |
| großen Teilen, an. Lagerdenken? Nein, danke. | |
| ## Todesstoß für die sexuelle Revolution | |
| Ach ja: Die Sexualität hatte auch mit dabei sein sollen bei den | |
| allmenschlichen Bewegungen zur kommenden Befreiung. „In den 60ern glaubte | |
| man an die befreiende Kraft der Sexualität“, hatte ironisch Harun Farocki | |
| in den 90ern angemerkt. Zwar nicht jeder, aber doch viele sexuelle Akte | |
| jener (märchenhaften) Zeit waren (auch) Übertretungsakte; Protestakte gegen | |
| Verbote, gegen Formen gesellschaftlichen Zwangsverhaltens. | |
| Die „„sexuelle Revolution“ war durchaus eine; jedoch mit weitaus geringer… | |
| Halbwertzeit als die radioaktive Strahlung. Sie nutzte sich schneller ab. | |
| Und erhielt – jedenfalls in ihrer Postulationsform als „freie Liebe“ – … | |
| Art Todesstoß durch eine hinterhältige Attacke aus dem Reich des ganz und | |
| gar Unerwarteten. Neben vielen anderen Überraschungen des Liebeslebens half | |
| endgültig AIDS dabei, sich von Sex-Pol-Befreiungsträumen zu verabschieden. | |
| Wie auf so vielen anderen Feldern wurde Lagerbildung auch hier unmöglich. | |
| Die Krankheit Aids schließt Lagerbildung – hier „gute“, dort „schlecht… | |
| Sexualität“ – aus. Auch ist „Sexualitätsfeindlichkeit“ als Grundlage … | |
| faschistischen Verhaltens heute kein allgemein geteiltes Theorem mehr. Zu | |
| groß ist die Zahl der real existierenden, bei uns erlaubten und glückhaft | |
| praktizierten Sexualitäten geworden. | |
| ## Akzeptierte Vielfalt | |
| Und die „Befreiungskraft“ des Sexuellen? Befreiende Kräfte aus der | |
| Sexualität können sich nur entwickeln, wo die Partner in etwa ebenbürtig | |
| und rechtlich gleichgestellt sind. In den meisten Weltkulturen und in so | |
| gut wie allen Weltreligionen haben Frauen keine Rechte über den eigenen | |
| Körper und auch sonst keine Stimme im öffentlichen Leben; dafür müssen sie | |
| ungeschützten Beischlaf über sich ergehen lassen. Befreiung durch | |
| Sexualität war/ist das Privileg bevorzugter kleiner Bevölkerungsgruppen in | |
| reichen Ländern. | |
| Die Sexualitäten sind nicht entlassen aus dem Katalog der Wege in ein | |
| lustvolleres, freieres Leben; aber ein Weg unter vielen. Der Abbau | |
| verbindlicher Normen hilft und öffnet neue Wege; Wege neuer | |
| Körpererfahrungen, die bei uns – primär – nicht (mehr) beschritten werden | |
| müssen unterm Hauptgesichtspunkt „Protest“. Akzeptierte Vielfalt | |
| „normalisiert“; womit nicht neue Normsetzung angepeilt ist. „Normal“ in | |
| einem zivilen Sinn müßte heißen, entspannt. Der Schülerzeitung Q-rage! | |
| entnehme ich allerdings, daß das Coming Out in puncto abweichender | |
| Sexualitäten im Klassenverband des Schulalltags immer noch beinah | |
| ausgeschlossen ist; ein, zwei FreundInnen werden „eingeweiht“, wenns hoch | |
| kommt. Die Generallinie heißt weiter: Verheimlichung. Günter Amendts | |
| „Sexfront“ ist, vor allem bei den Teens, immer noch eine Hauptkampflinie. | |
| ## Die Gewaltfrage | |
| Selbstverständlich ersetzen nicht einfach „neue“ Protestformen die „alte… | |
| Das Alte geht (wie meistens) im Neuen weiter, aber mit verändertem | |
| Stellenwert. Blockupy, Attac, Greenpeace u.a. arbeiten weitgehend mit | |
| Formen der „alten“ Protestkultur; Blockaden, Massendemonstrationen oder | |
| gezielten, gut durchdachten Einzelaktionen mit großer | |
| Öffentlichkeitswirkung. | |
| Die Sprecherin der „Refugee-Bewegung“ in Deutschland, Napuli Paul: „Wir | |
| treffen uns jeden Sonntag und organisieren Proteste, machen Bustouren zu | |
| den Lagern und vernetzen uns mit anderen Gruppen. Wir arbeiten am | |
| Empowerment der Geflüchteten“. In dieser wie in vielen anderen sind alte | |
| und neue Formen des Protests miteinander verquickt. | |
| Die „Gewalt-Diskussion“ („gegen Sachen, ja“; „gegen Menschen, nein“… | |
| „gar keine Gewalt“), wird dabei nicht viel anders geführt als um 1969. Die | |
| Staaten schützen ihre Politiker mit Polizeiaufgeboten – bei der letzten G7 | |
| in Elmau waren es knapp 20.000 Polizisten – oder sie schicken 30.000 zum | |
| Schutz ihrer Castor-Transporte. | |
| Selbstredend kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und | |
| Polizeien, es gibt Verhaftungen; es gibt, wie in Genua beim G8 kriminelle | |
| Übergriffe der Polizeien und/oder Geheimdienstler und einen erschossenen | |
| Demonstranten. Ein paar wenige Polizisten wurden verurteilt zu geringen | |
| Gefängnisstrafen. Die größeren Teile der Protestierenden bei solchen | |
| Anlässen versuchen heute aber eher, die direkte Gewaltauseinandersetzung zu | |
| vermeiden: | |
| ## Großarschlöcher aller Länder einigt euch! | |
| Besser, man wählt einen Herrn Teufel ab, als den Teufel an der Macht zu | |
| erschießen. Nicht mehr Guerilla, auch nicht Spaßguerilla. Die anstehenden | |
| Probleme sind zu ernst. Keine Witze mit abschmelzenden Polkappen! Sondern | |
| Pariser Konferenzen mit ernsthaftestem Kulissen-Ringen: „der Versuch, ohne | |
| eine Weltregierung die Welt zu regieren. 195 Länder sollen einen Konsens | |
| finden, die sich sonst nicht über den Weg trauen“ ([1][Bernhard Pötter]). | |
| Die heutige Protestkultur will vor allem eins: dass die Großarschlöcher | |
| aller Länder sich endlich einigen auf einige Erd-Erhaltungsbeschlüsse, die | |
| Allen nützen. Sogar die Religionen (in den 70ern totgeglaubt und totgesagt) | |
| dürfen helfen; wenn sie es (endlich!) fertigbringen, die Großarschlöcher an | |
| ihren Spitzen von ihren gottlosen Überzeugungen zu heilen. Doch benutzen | |
| sie dabei andere Wörter zur Bezeichnung dieser „Spitzen“, als ich hier. Zu | |
| Recht. Hallelujah. Amen. | |
| 23 Apr 2016 | |
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| Klaus Theweleit | |
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