# taz.de -- Lebensmitteltester über Tschernobyl: „Nachts durften wir ran“ | |
> Durch Glück kam Joachim Wernicke nach dem GAU an ein Strahlenmessgerät. | |
> Er testete Lebensmittel. Den Behörden traute niemand mehr. | |
Bild: Die Zeitschrift „Die Strahlenlupe“ veröffentlichte nach dem Reaktoru… | |
taz:Herr Wernicke, wie ist man 1986 an ein Strahlenmessgerät gekommen? | |
Joachim Wernicke: Das war damals tatsächlich nicht so leicht, die Technik | |
war ja noch viel weniger verbreitet als heute. Bei uns war es einfach | |
Glück. Wir kannten einen Chemiker, der damals in Berlin-Neukölln ein | |
Lebensmittellabor hatte, Michael Scheutwinkel. Nach der | |
Tschernobyl-Katastrophe kamen die ganzen Supermarktketten auf ihn zu und | |
wollten ihre Lebensmittel auf Radioaktivität testen. Da hat er sich ein | |
Strahlenmessgerät angeschafft, ein Gammaspektrometer. | |
Sie haben das Gerät dann mitgenutzt und nach dem GAU in Tschernobyl die | |
Initiative „Eltern messen selber“ mitgegründet, haben Lebensmittel auf | |
Radioaktivität untersucht und die Ergebnisse in einer eigenen Zeitschrift | |
veröffentlicht. Wie kam es dazu? | |
In Berlin gibt es einen Forschungsreaktor, im Hahn-Meitner-Institut in | |
Wannsee. Nach Tschernobyl haben bei ihnen alle Messgeräte auf einmal Alarm | |
geschlagen. Die dachten erst, bei ihnen in der Anlage ist etwas kaputt. | |
Jedenfalls war danach sofort klar: Alle Strahlen-Grenzwerte, die irgendwo | |
festgelegt waren, wurden überschritten. Und dann ging es ganz schnell: Die | |
Berliner Landesregierung – damals war Westberlin ja noch Besatzungsgebiet – | |
hat festgestellt, dass Grenzwerte zum Beispiel in der Milch überschritten | |
wurden. | |
Sie durfte also nicht mehr verkauft werden. | |
Eben. Und daraufhin wurden dann die Grenzwerte hochgesetzt, damit wieder | |
Waren in den Handel können. Die Franzosen waren damit vorgeprescht, einfach | |
mal das 300-Fache des bisher geltenden Wertes zu nehmen. Dagegen gab es | |
natürlich Proteste – aber wir haben schnell gelernt, dass das gar nichts | |
bringt. | |
Und daher die Idee, selbst zu messen? | |
Genau. Es gab zwar in der atomkritischen Bewegung die große Strömung derer, | |
die Atomkraftwerke abschalten und überhaupt die Welt verbessern wollten, | |
aber das Problem war doch: Davon kriege ich morgen keine unverstrahlte | |
Milch. | |
Waren das große Kontroversen? | |
Ja, durchaus. Es gab sogar viele, die es unmoralisch fanden, sich selbst | |
unverstrahlten Produkte aus den Regalen zu besorgen, schließlich würde das | |
nichts am Grundproblem der Atomkraft ändern. Aber gerade Eltern mit kleinen | |
Kindern haben sich dann doch gewünscht, zu wissen, was sie ohne Bedenken | |
kaufen können. | |
Und dann haben Sie angefangen zu messen. | |
Genau. Zuerst war ich das, gemeinsam mit dem Inhaber des Labors. Das Gerät | |
stand bei denen im Keller und musste Tag und Nacht auf minus 200 Grad | |
gekühlt werden. Aber nachts arbeitete dort niemand, da durften wir ran. Wir | |
waren meist ein oder zwei Nächte im Monat im Labor, meistens zu zweit. | |
Angefangen haben wir, wenn die Leute vom Labor Feierabend gemacht haben, | |
irgendwann hatten wir dann auch selbst einen Schlüssel. Wir sind also | |
dahin, mit etwa 20 Bananenkisten voller Lebensmittel und haben die | |
durchgemessen. | |
Wie muss man sich das vorstellen? | |
Man hat dieses Gerät und stellt da zum Beispiel eine Milchtüte rein. Und | |
die strahlt. Darunter ist dann der Sensor, der ist in etwa so groß wie eine | |
Tasse, und darin ist ein Kristall. Wenn ein Strahlungsteilchen durchgeht, | |
dann blitzt da etwas auf und aus dieser Helligkeit kann man ablesen, welche | |
Energie das war. | |
Wie lange dauert so etwas? | |
Das war das Problem. Wenn man eine bestimmte Messgenauigkeit haben will, | |
sitzt man da eine Stunde für die Messung eines Produkts, zumindest wenn die | |
Strahlung nicht wahnsinnig stark ist. Dafür hätten wir jede Nacht dort | |
verbringen müssen. | |
Also? | |
Wir haben dann unseren Anspruch aufgegeben, für jedes Produkt einen genauen | |
Messwert zu haben. Wir wollten stattdessen die Produkte finden, die stark | |
belastet waren, also mit mehr als zehn Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm. | |
Das war es schließlich, was die Verbraucher wissen wollten. Damit waren wir | |
bei einer Messzeit von fünf Minuten. Das war machbar, aber riskant. | |
Warum riskant? | |
Das Problem war: Wenn ein Unternehmen findet, dass es dabei schlecht | |
wegkommt – dann klagen die. | |
Das war damals schon so? | |
Ja, leider. Und deshalb kamen wir überhaupt auf die Idee, dafür einen | |
Verein zu gründen, der dann die Liste mit den Messwerten herausgibt. Damit | |
wir zumindest nicht wirtschaftlich ruiniert werden, wenn ein Konzern klagt. | |
Wie viele Produkte hatten Sie denn pro Messnacht? | |
Etwa hundert. Es gab drei, vier Frauen, die sind einmal im Monat einkaufen | |
gegangen. Kisten voll mit Lebensmitteln. | |
Wonach haben Sie die Produkte ausgewählt, die Sie gemessen haben? | |
Bauchgefühl. Babynahrung musste natürlich dabei sein, aber sonst ein | |
möglichst breites Spektrum. Von Tee über Schokolade bis zu Gemüsekonserven. | |
Wir haben mit einem Sortiment von tausend Produkten angefangen und das | |
aktuell gehalten und erweitert, alles Konserven oder Abgepacktes. | |
Warum nur Abgepacktes? | |
Da gibt es immer eine Chargennummer. Da kann man dann schauen: Die | |
Schokolade mit der Chargennummer haben sie getestet, aha, die ist | |
unbelastet und so eine liegt auch hier im Regal, die kann ich kaufen. Mit | |
der Zeit haben sich dann so Geheimtipps entwickelt. Butter Lindner war | |
immer ganz gut, denn die haben viele ihrer Produkte aus Dänemark | |
importiert. Und die Dänen hatten durch die Wetterverhältnisse nicht viel | |
abbekommen. | |
Wie haben Sie das finanziert? | |
Das hat sich sehr schnell durch den Verkauf der Zeitschrift, in der wir die | |
Werte veröffentlicht haben, der Strahlenlupe, getragen. Wir haben zwar erst | |
privat eine Startfinanzierung gemacht, aber dann hat sich das selbst | |
finanziert. Wir konnten für den Verein sogar zwei Angestellte bezahlen, die | |
sich zum Beispiel um das Verschicken der Hefte gekümmert haben. Denn die | |
Leute wollten überall wissen, welche Produkte sie kaufen können, wir haben | |
die Lupe in jeden Winkel Deutschlands verschickt. Immerhin eine Auflage von | |
mehreren tausend Stück. | |
Gab es einzelne Produkte, bei denen Sie erstaunt darüber waren, dass die | |
Belastung so hoch ist? | |
Eher umgekehrt: Es gab Produkte, bei denen wir uns wunderten, warum sie | |
nicht belastet sind. Polnische Pilze etwa. Die müssten etwas abbekommen | |
haben. Aber wir haben nie was gefunden. Ob die Dosen alt waren? Kann | |
eigentlich nicht sein. Bis heute ist mir das ein Rätsel. | |
Haben Sie selbst auf Lebensmittel verzichtet? | |
Nein, ich hatte damals keine kleinen Kinder, und manche der stark | |
belasteten Lebensmittel wie Käse mag ich sowieso nicht. | |
In der letzten Ausgabe der Lupe schreiben Sie im Februar 1989, bei Bedarf | |
seien Sie binnen zwei Wochen wieder da. Gab es Momente, in denen Sie | |
darüber nachgedacht haben? | |
Überhaupt nicht. Auch bei Fukushima nicht, das war viel zu weit weg. Und | |
heute bin ich zu alt dafür, wenn jetzt etwas passiert, muss das die junge | |
Generation machen. Denn ich bin sicher: Gäbe es jetzt einen GAU, würde | |
genauso schnell alles Belastete für unbedenklich erklärt wie damals. Ich | |
bin allerdings nicht sicher, ob die junge Generation das so schaffen würde | |
wie wir. | |
Warum nicht? | |
Wir hatten damals alle feste Jobs, ein Einkommen und konnten uns in unserer | |
Freizeit darum kümmern. Heute, mit den ganzen prekären | |
Arbeitsverhältnissen, liegt doch der Fokus ganz woanders. So etwas wie die | |
Friedensbewegung damals, das wäre doch heute gar nicht vorstellbar. | |
Andererseits gäbe es heute dann vermutlich ganz schnell ein Messgerät zum | |
Anstöpseln ans Smartphone, inklusive App. | |
Ja, das könnte stimmen. Damit käme dann natürlich eine ganz andere Masse an | |
Daten zusammen, auch über die Landesgrenzen hinaus. Aber ich hoffe, die | |
AKWs werden abgeschaltet, bevor so etwas nötig ist. | |
25 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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