# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Leben in der Zone | |
> Dort, wo nach der Katastrophe evakuiert wurde, leben heute Wölfe, Pferde, | |
> Elche und Biber. Es gibt sogar Pläne für ein Biosphärenreservat. | |
Bild: Auch Bisons gibt es in der 30-Kilometer-Zone in Tschernobyl | |
Mit etwas Glück kann man die Elche röhren hören. „Früher hat es hier nie | |
welche gegeben“, sagt Yaroslav Movchan, der an der Nationalen | |
Luftfahrt-Universität der Ukraine eine Umweltprofessur innehat. Früher – | |
das war vor der Reaktorkatastrophe 1986, „die Gegend um Tschernobyl war | |
Industrielandschaft mit stark verbreiteter Agrarwirtschaft“. Nach der | |
Katastrophe wurden alle Menschen im Umkreis von dreißig Kilometern | |
evakuiert, eine Sperrzone wurde eingerichtet und diese sich größtenteils | |
selbst überlassen. Die Natur kehrte zurück. | |
„Wir haben heute eine beachtliche Wolfspopulation in der Zone. Ebenso | |
Wildpferde, Wildschweine, Damwild und die Elche“, sagt Movchan. Neben dem | |
Raub- und Großwild seien auch kleinere Arten zurückgekehrt. „Die Biber zum | |
Beispiel, die mit ihrem Dammbau die einst trockengelegten Prypjat-Sümpfe | |
wieder zu dem gemacht haben, was sie einmal waren“. Hat ausgerechnet die | |
bis dato größte Umweltkatastrophe, die die Menschen zu verantworten haben, | |
paradiesische Natur hervorgebracht? | |
Amerikanische Wissenschaftler hatten Mitte der 90er Jahre angefangen, die | |
Auswirkungen der Radioaktivität vor allem auf die Fauna zu untersuchen. | |
Robert Baker beispielsweise, ein Biologieprofessor der | |
Texas-Tech-Universität, publizierte über erhöhte Mutationsraten bei | |
Wühlmäusen. Sein Kollege Timothy Mousseau, Professor für Biologie an der | |
Universität von South Carolina, stellte eine gesunkene Artenvielfalt fest, | |
insbesondere einen Rückgang von Vogelarten, Insekten und Spinnen. Außerdem | |
fand er bei Rauchschwalben körperliche Anomalien, was ihn auf Mutationen | |
schließen ließ. Beide Professoren wurden stark kritisiert, Baker musste | |
seine Arbeit sogar zurückziehen. Unsaubere Studienmethoden, hieß es. | |
Auch Professor Movchan hält Aussagen zu Genschäden für verfrüht. Drei | |
verschiedene Gebiete gebe es, erklärt er – da seien zunächst jene, die sehr | |
stark verstrahlt waren und wo sich die Frage nach Mutationen überhaupt | |
nicht stelle: Die Tiere dort seien alle verendet. „Dann gibt es Zonen mit | |
geringer Strahlung. Und es gibt wahre Öko-Gebiete, in denen die Bewohner | |
beste Entwicklungsbedingungen vorfinden.“ | |
Dass die Reaktorkatastrophe die Natur damals stark beeinträchtigt hat, | |
zeigt sich am „Roten Wald“: Der radioaktive Niederschlag war zwei Kilometer | |
westlich des Reaktorblocks 4 so stark, dass die Bäume sofort abstarben – | |
und sich gelb färbten. Vergleichbar ist das mit dem Herbst: Das Chlorophyll | |
mit seiner grünen Farbe stirbt ab; an seine Stelle tritt Xanthophyll, das | |
die Bäume gelb färbt. | |
Warum dann „Roter Wald“? Nur eine Methapher für die Nachwelt, sagt Movchan. | |
„Die Ureinwohner Amerikas wurden ja auch als ‚Rothäute‘ bezeichnet, obwo… | |
sie keine rote Haut hatten.“ Das Holz der Bäume sei dunkelbraun gewesen, es | |
wurde gefällt und in „Zwischenlager“ gebracht, „also von Bulldozern unter | |
die Erde gepflügt“, sagt Movchan. Wo es heute noch strahlt. | |
## Tschernobyl strahlt heute etwa so stark wie Nürnberg | |
Allerdings nicht mehr so intensiv. „Die Strahlung der radioaktiven Isotope | |
von Cäsium und Strontium hat bereits deutlich nachgelassen“, sagt | |
Konstantin Loganovsky vom ukrainischen Forschungszentrum für | |
Strahlenmedizin. | |
Cäsium-134 beispielsweise habe eine Halbwertszeit von zweieinhalb Jahren, | |
die Strahlendosis von Cäsium-137 halbiert sich nach dreißig Jahren. | |
„Größere Probleme bereiten die Isotope von Americium und Plutonium, die | |
wesentlich langlebiger sind“, so Loganovsky an seinem Institut in Kiew. | |
„Aber deren Konzentration hat sich in der Sperrzone zum Glück als sehr, | |
sehr gering erwiesen.“ | |
250 Meter von der Reaktorhülle entfernt werden derzeit um die 3,5 | |
Mikrosievert pro Stunde gemessen. Der „Rote Wald“ strahlt mit 1,6 | |
Mikrosievert, in der Stadt Tschernobyl liegt die Strahlendosis bei 0,17. | |
Das ist nur wenig mehr als beispielsweise in Nürnberg, wo die natürlich | |
vorkommende Strahlung bei 0,15 liegt. | |
„Man kann sagen: Die radioaktive Situation in der Zone ist unter | |
Kontrolle“, meint Loganovsky. Natürlich sollte man nicht im Boden graben | |
oder Pilze pflücken, und natürlich gebe es noch Gebiete, in denen die | |
Strahlung für die Gesundheit von Mensch und Tier gefährlich seien. „Aber | |
das Hauptproblem der Zone ist nicht mehr die Strahlung, vielmehr seien es | |
die sozialen Verwerfungen der 350.000 vertriebenen Menschen“. | |
Angesiedelt wurden dagegen zwei Dutzend Przewalski-Pferde, eine asiatische | |
Wildpferdunterart, die Ende des Zweiten Weltkrieges als ausgerottet galt. | |
„Wir mussten etwas gegen die Feuergefahr tun“, sagt Yaroslav Movchan, der | |
Professor, der damals Vize-Umweltminister der Ukraine war. In der | |
30-Kilometer-Zone wucherten die landwirtschaftlichen Nutzflächen allmählich | |
zu, besonders im Herbst erhöhte das trockene, hüfthohe Gras die Gefahr von | |
Steppenbränden, bei denen die im Boden gebundenen Radionuklide wieder | |
freigesetzt werden. „Die Pferde sind quasi lebende Rasenmäher, die dafür | |
sorgen, dass die Flächen offen bleiben“, sagt Movchan. Scheinbar mit großem | |
Erfolg. Mittlerweile sei die Herde auf weit über hundert Tiere angewachsen. | |
Yaroslav Movchan und sein Team wollen jetzt aus der Sperrzone ein | |
Biosphärenreservat machen. „Der Plan hat schon das Parlament beschäftigt, | |
jetzt liegt er beim Präsidenten zur Unterschrift.“ Demnach sollen 220.00 | |
Hektar unter Schutz gestellt werden: eine fast so große Fläche wie das | |
Saarland. | |
„Geplant ist ein reguliertes Schutzgebiet, in dem zum Beispiel | |
Schutzstreifen gegen Feuer gezogen werden und Ranger die Kontrolle | |
übernehmen.“ Nicht nur Flächen aus der etwas größeren Sperrzone sollen Te… | |
des Biosphärenreservats werden, sondern auch angrenzende Gebiete, in denen | |
Bewirtschaftung weiterhin möglich bleiben soll – so wie in Deutschland etwa | |
in den Naturparks. „Diese Natur für die zukünftige Generation zu | |
konservieren, das ist so ziemlich das einzige positive Signal, das von der | |
Zone ausgehen könnte.“ | |
Doch dieser Plan hat viele Gegner. „Zuerst natürlich all die Leute, die | |
heute in und um das Atomkraftwerk herum arbeiten und die Zone als ihr | |
Herrschaftsgebiet ansehen.“ Sie würden die Kontrolle verlieren. | |
## Lobbyisten träumen vom größten Atomlager der Welt | |
Die zweite Gruppe gegen das Naturschutzprojekt seien Atom- und | |
Kraftwerkslobbyisten. „Die träumen davon, aus dem einst geplanten größten | |
Atomkomplex der Welt nun den größten radioaktiven Endlagerbetrieb zu | |
machen.“ Nach dem Motto: Ist ja eh alles schon verstrahlt. Aber auch die | |
Entscheider der angrenzenden Oblaste – vergleichbar unseren „Landkreisen“… | |
müssen noch überzeugt werden. „Die fühlen sich wegen der Reaktorkatastrophe | |
sowieso schon stark belastet, und jetzt sollen sie auch noch Landflächen | |
zur Verfügung stellen.“ In der Ukraine wird Land noch immer als Geldquelle | |
angesehen. | |
Ob Präsident Petro Poroschenko also unterschreiben wird? Dass 10.000 | |
Menschen noch Jahre für den Rückbau des Atomkraftwerks im | |
Biosphärenreservat beschäftigt sein werden, stört Yaroslav Movchan nicht. | |
„Es betrifft nur ein ganz kleines Gebiet, das für das Naturschutzprojekt | |
nicht gebraucht wird“. Er gibt Poroschenkos Unterschrift eine 51-prozentige | |
Wahrscheinlichkeit: „Gerade in unserer jetzigen Situation ist es wichtig, | |
der Welt positive Signale aus der Ukraine zu senden“. | |
Das Biosphärenreservat Tschernobyl wäre so eines. | |
26 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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