# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Der GAU im Kopf | |
> Der Weißrusse Ivan Vasiliuk hat eine Zyste im Kopf. Er versucht, mit den | |
> Folgen der Katastrophe von Tschernobyl „normal“ zu leben. | |
Bild: Hochzeit von Ivan und Julia Vasiliuk am 14. Juli 2012 in Minsk. | |
Ich bin dreieinhalb Jahre nach der Katastrophe im Atomkraftwerk von | |
Tschernobyl geboren. Und doch schien es mir stets, als sei diese Tragödie | |
so weit von mir entfernt wie die Napoleonischen Kriege. In meiner Schule | |
machten jedes Jahr am 25. April Gerüchte die Runde, es habe wieder eine | |
Explosion gegeben – in Smolensk, in Ignalina. Um uns gegenseitig Angst | |
einzujagen, erfanden wir immer neue Details des nicht existierenden | |
Unfalls. Dann lachten wir von ganzem Herzen, ohne zu begreifen, wie gut wir | |
es hatten. Unsere Familien waren von Tschernobyl nicht direkt betroffen. | |
Doch das Schicksal wollte es, dass dieses Unglück auch zu meinem eigenen | |
wurde. In meinem Schrank liegt zwischen gewöhnlichen Dokumenten ein | |
unansehnliches graues Büchlein. „Bescheinigung“ steht darauf geschrieben. | |
Es ist eine Bescheinigung für die Geschädigten von Tschernobyl. Darin | |
eingeklebt ist ein Foto meines Mannes. Er wurde 1988 in der kleinen | |
weißrussischen Stadt Chlobin geboren. Sein Geschenk aus Tschernobyl ist | |
eine Zyste im Gehirn. Sie ist jetzt so groß wie ein Hühnerei. | |
Meine Schwiegereltern erzählen immer, dass in den 80er Jahren in der | |
Bevölkerung keine Panik herrschte. Die, die von der Radioaktivität leicht | |
zu beeindrucken waren, nahmen Mineralwasser, um eine Suppe zu kochen. Naiv | |
glaubten sie an die wundersame Kraft von Jod. In den Apotheken gab es | |
plötzlich „Zaubertabletten“ gegen Radioaktivität. „Wahrscheinlich verka… | |
sie gepresste Kreide“, tuschelten die Leute und versuchten über Bekannte an | |
das pseudomagische Mittel heranzukommen. | |
Als sie ihr erstes Kind erwartete, wurde meine Schwiegermutter für den | |
ganzen Sommer aufs Land, in das Dorf Dubezkoje geschickt. Denn die künftige | |
Mutter und der Kleine brauchten schließlich frische Luft, Vitamine. Die | |
Großmutter meines Mannes sammelte dort in den Wäldern Pilze und Beeren, um | |
sie zu verkaufen. Oh, was für schöne Steinpilze gab es da. Und die wilden | |
Erdbeeren waren ohnegleichen. | |
## Mit blauen Flecken übersät | |
Einmal standen Körbe mit nicht verkaufter Ware in der Nähe des Bettes des | |
viermonatigen Jungen. Augenblicklich war der Kleine über und über mit | |
blauen Flecken übersät. Im örtlichen Krankenhaus sagten die Ärzte, er sei | |
an Meningitis erkrankt. Doch dann zeigten die Analysen: So reagiert ein | |
noch schwacher Organismus auf verstrahlte Pilze und Beeren. | |
Erst einige Jahre später gaben die offiziellen Stellen zu, dass die Region, | |
in der sich Dubezkoje befindet, auch verstrahlt war. Eine verspätete | |
Evakuierung begann. Den Dorfbewohnern wurde erlaubt, wichtige Dinge | |
mitzunehmen. Sie erhielten Entschädigungen für ihre Häuser, die dann | |
Bulldozern zum Opfer fallen sollten. | |
Die, die rechneten, kapierten sofort: Warum die solide gebauten Wohnungen | |
zurücklassen? Die werden sowieso abgerissen. Und so bauten die Menschen die | |
Häuser nach und nach an neuen Orten auf, reparierten sie und verkauften sie | |
schließlich, wobei sie die freudlose Vergangenheit der Hütten verschwiegen. | |
Die Radioaktivität? Die sah doch keiner! | |
Gab es Weißrussen, die um die Gefahr der radioaktiven Bedrohung wussten? | |
Vielleicht die Liquidatoren? Wladimir Batura, ein Kollege meines Mannes, | |
bekam im Mai 1986 eine Vorladung vom Kreiswehrersatzamt. Ihm war sofort | |
klar: Es geht in die Tschernobyl-Zone. So war es auch. Ein zehntägiges | |
Training in der Nähe von Minsk, und der junge Mann fand sich 30 Kilometer | |
entfernt von dem explodierten Reaktor wieder. | |
## Selbstgebrannter mit Industrieöl | |
Alle erhielten Ratschläge, wie man sich schützen könne. Ein Liquidator | |
erzählte: Man muss Selbstgebrannten mit Industrieöl trinken, er hilft am | |
besten gegen Radioaktivität. Aber man solle dabei nicht übertreiben. | |
Klar, die Menschen sind unterschiedlich. Einige tranken wirklich nur in | |
kleinen Mengen Alkohol als Medikament. Andere stürzten sich freudig auf die | |
Flasche und begannen Dummheiten zu machen. Für die, die total über die | |
Stränge schlugen, waren Strafen vorgesehen. Man fuhr sie in die Nähe des | |
Atomkraftwerks. Nach dem Motto: Guckt mal, was dort passiert, und überdenkt | |
euer Verhalten! | |
Was war für Wladimir der schlimmste Moment während seines Einsatzes? Er | |
zuckt mit den Schultern. Den gab es nicht. Und die Familie, die in Minsk | |
geblieben war, machte sich auch nicht im Geringsten Sorgen um den | |
Liquidatoren. Er erfüllte seine Pflicht. | |
In diesem Sommer legten sich die demobilisierten Jungen seelenruhig in die | |
Sonne und dachten nicht an mögliche Folgen des Tschernobyler „Solariums“. | |
Und das ungeachtet dessen, dass alle Liquidatoren „den Atem des Reaktors“ | |
spürten. Zu bestimmten Zeiten hatten sie einen metallischen Nachgeschmack | |
im Mund. Das passierte auch noch, nachdem der Sarkopharg fertig war. | |
## Regelrechte Dramen | |
„Wir standen Mann an Mann, damit die Bevölkerung sich nicht in der | |
Sperrzone herumtrieb“, erzählt Wladimir. „Aber dorthin wollten viele. Es | |
spielten sich regelrechte Dramen ab. Irgendwie erwischten sie einen Mann | |
auf einem Motorrad mit Beiwagen. Er hatte aus einem Haus in der mit | |
Stacheldraht abgezäunten 10-Kilometer-Zone einen 40-Liter-Kanister mit | |
Selbstgebranntem herausgeholt. Er bat, durchgelassen zu werden. ‚Männer, | |
versetzt euch in meine Lage. Ich verheirate meine Tochter. Womit soll ich | |
sie jetzt auf der Hochzeit bewirten?‘ “ | |
In den ersten Monaten konnten die Soldaten den Andrang derer, die in ihre | |
Häuser zurückkehren wollten, abwehren. Danach drückten sie ein Auge zu. | |
Wladimir lächelt. Was hätte man machen sollen? In einem Land mit einer | |
Partisanenvergangenheit kannten die Menschen noch aus der Zeit des Zweiten | |
Weltkrieges alle Pfade im Wald. | |
Vor allem die Alten kamen zurück. Sie wollten nicht mit den Kindern, die | |
schon selbst Familie hatten, in einer Wohnung zusammenleben. Aber es gab | |
auch Familien mit kleinen Kindern. Diejenigen, die sich nicht an das Leben | |
in der Stadt gewöhnen konnten. Ihr Herz schmerzte beim Gedanken an die | |
verlassenen Gärten und Tiere … | |
Ein Liquidator schickte Geschenke nach Hause. „Man konnte Pakete bis zu | |
einem Gewicht von zehn Kilogramm verschicken. Einige machten das zwei- bis | |
dreimal am Tag. Die Tischler, die die Kisten für die Pakete | |
zusammenzimmerten, kamen nicht hinterher. „Ich schickte der Familie | |
Büchsenfleisch, das sie uns gaben, weil ich keine Konserven mehr sehen | |
konnte. Es gab Kumpels, die schickten, was sie fanden. Eine Brigade von | |
Chemikern, die eine Bibliothek säuberte, teilte die Bücher auf und schickte | |
sie nach Hause“, erzählt Wladimir. | |
Es ist möglich, dass einige dieser „Souvenirs“ bis heute in einigen | |
Familien aufbewahrt werden. Es erinnert sich niemand mehr daran, woher | |
dieser oder jener Gegenstand ins Haus gekommen ist. Die Radioaktivität? Die | |
sieht doch keiner!“ Genauso wenig wie die fünf Zentimeter große Zyste, die | |
sich im Gehirn meines Mannes versteckt hat. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
26 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Vasiliuk | |
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