# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Ministaat mit Doppelleben | |
> Tausende Touristen besuchen in jedem Jahr die Sperrzone von Tschernobyl. | |
> Aber auch Plünderer treiben nach wie vor ihr Unwesen. | |
Bild: Mit dem Geigerzähler unterwegs in der Sperrzone | |
Sonntag, halb acht morgens. An den Kleinbussen mit Strahlenwarnzeichen | |
stehen verschlafene Passagiere mit Kaffeebechern in der Hand. Das sind | |
Touristen, die einen Tag in der Tschernobyl-Sperrzone verbringen werden. | |
Die erste Ansage des Reiseführers lautet: „In 20 Minuten halten wir an | |
einer Tankstelle. Dort ist die letzte begehbare Toilette auf der Route.“ | |
Reiseagenturen, die Tschernobyl-Touren anbieten, gibt es seit 2000. Sie | |
kümmern sich um die Organisation und die Formalitäten: Um in die Sperrzone | |
zu kommen, braucht man eine Genehmigung. Der Staat lässt sich dafür gut | |
bezahlen: Ein Ukrainer muss 27 Euro, ein Ausländer 90 Euro Tagesgebühr | |
berappen. | |
Sergej Mirnyj ist der Chef von „Tschernobyl-Tour“. Im Sommer 1986 war er am | |
Unfallort als Kommandeur einer Brigade zur Strahlungsmessung im Einsatz. | |
Heute führt er Touristen durch die Orte, wo er vor 30 Jahren die Strahlung | |
gemessen hat. Die Routen seien völlig ungefährlich. An einem Tag bekomme | |
der Besucher etwa so viel Strahlung ab wie bei einem einstündigen Flug. | |
Wenn man ein paar Regeln befolge. So dürfe man in der | |
10-Kilometer-Sperrzone nicht das Gras oder den Erdboden betreten. Auch das | |
Rauchen sei streng verboten. | |
## Ein Ausflug, der verändert | |
2015 hat Sergejs Reiseagentur 3.500 Touristen in die Tschernobyl-Zone | |
gebracht. Insgesamt zählten die Reiseveranstalter 17.000 offizielle | |
Tschernobyl-Besucher. Wie viele in die Zone illegal gelangen, weiß keiner | |
genau. So oder so, Sergej Mirnyj ist sich sicher: Der Ausflug in die Zone | |
verändert die Menschen. | |
„Sie sehen verlassene Häuser und Wohnungen, die 50.000-Einwohnerstadt | |
Prypjat, die innerhalb von drei Stunden evakuiert wurde. Die meisten | |
unserer Kunden sind Städter. Ob du willst oder nicht – du schlüpfst in die | |
Rolle der Ausgesiedelten. Arbeit, Karriere, Haus – das alles sind Dinge, | |
die für die Menschen absolute Priorität haben. Du begreifst, dass die | |
Arbeit, Karriere und das Haus, das du dir schwer erarbeitet hast, auf | |
Nimmerwiedersehen verschwinden können. Dann wird dir vielleicht zum ersten | |
Mal im Leben klar, wie wertvoll dein Haus ist und die Menschen, die darin | |
leben“, sagt Sergej. | |
Die Reise von Kiew bis zu der Sperrzone dauert anderthalb Stunden. Fast | |
genauso lang müssen die Touristen am Kontrollposten anstehen. Die Zone wird | |
oft als Staat im Staat bezeichnet. Sie hat eine eigene „Grenze“, eine | |
eigene Polizei und eigene Gesetze. Im Zentrum der Stadt Tschernobyl erhebt | |
sich ein Lenin-Denkmal – eines der letzten in der Ukraine. | |
Selbst diese offizielle Tschernobyl-Route offenbart das Doppelleben des | |
„Ministaates“. Die „Glanzstücke“ sind Paradeobjekte, das Kernkraftwerk… | |
Gedenkstätten, der fast fertige Sarkophag. Jedes Jahr am 26. April kommen | |
Delegationen, in diesem Jahr wird Präsident Petro Poroschenko erwartet. | |
## Haus auseinander genommen | |
Die dunkle Seite der Zone sind die Plünderer, die seit 30 Jahren am Werk | |
sind. Der Reiseleiter zeigt ein Haus im Dorf Salesje, wo noch bis vor | |
Kurzem eine illegal zurückgekehrte Rentnerin lebte. Im Garten blühen noch | |
liebevoll gepflanzte Blumen. Das Haus aber wurde gleich nach dem Tod der | |
Besitzerin auseinandergenommen. | |
Die zwei Kilometer vom Kraftwerk entfernte Stadt Prypjat wurde für die | |
Arbeiter des AKWs errichtet. Der Reiseleiter erzählt, dass nach der | |
Evakuierung Plünderer gusseiserne Badewannen aus den Fenstern warfen. Auf | |
den Straßen türmen sich Berge von Bruchmetall. Die Touristin Natalja | |
seufzt: „Wie viele glückliche Kinder sind wohl hier herumgelaufen …“ | |
Nicht das Ausmaß der Plünderungen erstaunt, sondern die Tatsache, dass | |
überhaupt noch etwas übrig geblieben ist. Zum Beispiel ein verrosteter | |
Liquidatoren-Pkw vor dem Eingang eines Hochhauses. Oder ein halb | |
verrostetes Riesenrad in dem Vergnügungspark, der am 1. Mai 1986 hätte | |
eröffnen sollen. | |
Auf den Service während des Ausflugs angesprochen, stichelt Natalja: „Gibt | |
es hier einen?“ In der Tat, in den 15 Jahren, seit der Staat mit | |
Tschernobyl-Tourismus Geld verdient, wurde keine Infrastruktur geschaffen. | |
Das einzige stille Örtchen ist ein Plumpsklo an der Einfahrt. Die | |
Speisekarte in der Werkskantine, wo die Touristen zu Mittag essen, ist | |
trotz Beanstandungen seit Jahren unverändert. In den Foren finden sich | |
zahllose Beschwerden von Besuchern des einzigen Hotels in der Zone. | |
Dennoch scheint den verlassenen Dörfern und Städten eine besondere | |
Faszination eigen. Das sind Räume, die die Natur den Menschen nach und nach | |
entreißt. Einige Erinnerungen an das frühe Leben eliminieren die Menschen | |
selbst. Aber es bleibt ein Ort, an dem die Spuren und das Ausmaß der | |
Katastrophe hautnah zu erleben sind. | |
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk | |
27 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Grigori Pyrlik | |
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