# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Innere Sperren und Grausamkeiten | |
> Junge ukrainische Künstler setzen sich zunehmend mit Tschernobyl | |
> auseinander – auch auf der Bühne. Ein Stück ist bald in Magdeburg zu | |
> sehen. | |
Bild: Probe für das Tschernobyl-Stück in Magdeburg | |
„Tschernobyl ist zu meiner privaten Katastrophe geworden“, sagt der | |
Lemberger Pavlo Arie zur Entstehung seines Stücks „Am Anfang und am Ende | |
aller Zeiten“. „Meine Mutter war eine Liquidatorin, sie ist schwer krank. | |
Das war der Auslöser. Für mich ist Tschernobyl ein Portal, das wir noch | |
nicht gelernt haben, uns zu eigen zu machen, aber für das wir bereits | |
bezahlt haben und fortdauernd bezahlen, und zwar einen unvorstellbar hohen | |
Preis.“ | |
Im Mai findet in Magdeburg das Theaterfestival „Wilder Osten Ereignis | |
Ukraine“ statt. Aries in der Ukraine viel besprochenes Stück hat das Zeug, | |
zu einem der Highlights zu werden. | |
Oma Prisja lebt mit ihrer lebensmüden Tochter Olesja und dem Enkelsohn in | |
der Sperrzone. Der einzige Mensch von außen ist Olesjas Liebhaber – ein | |
Milizionär, der in der „normalen“ Welt eine Ehefrau hat. Die Familie lebt | |
nach eigenen Gesetzen, wo die Realität mit uralten Mythen verflochten ist. | |
Eines Tages dringen Fremde in ihr Leben ein: die Jäger, die es auf den | |
geistig behinderten Wowtschik, den Enkelsohn, abgesehen haben. | |
Die Story geht einem unter die Haut. Sie macht weinen und lachen zugleich. | |
Es geht nur bedingt um Tschernobyl. Erzählt wird von inneren Sperren und | |
von der Grausamkeit. Bissige Dialoge, ein Minimum an Dekoration und ein | |
Radio, das ohne Akkus auskommt. Die Apokalypse in uns. | |
## Suche nach neuen Antworten | |
Das Stück steht exemplarisch für junge Intellektuelle in der Ukraine, die | |
sich zunehmend mit Tschernobyl beschäftigen. Die neue – nur scheinbar | |
unbelastete – Generation sucht nach neuen Antworten. Was war Tschernobyl? | |
Warum? Und was hat das mit uns zu tun? | |
Auch im Film ist Tschernobyl Thema. „Der russische Specht“, eine | |
Koproduktion mit den USA und England, wurde 2015 für den Oscar nominiert. | |
Er balanciert zwischen einem investigativen Dokumentarprojekt und einem | |
Verschwörungsthriller. Der exzentrische Künstler Fjodor Alexandrowitsch | |
geht der Frage nach, was der wirkliche Grund für den GAU war. Wer ist | |
schuld daran, dass sein Körper ruiniert und er seiner Familie beraubt | |
wurde? | |
Seine Version: Die streng geheime Militärfunkanlage in unmittelbarer | |
Nachbarschaft des Kernkraftwerks in Tschernobyl hatte eine zersetzende | |
Wirkung auf die menschliche Psyche. Die gigantische Stahlpyramide „Duga“ | |
konnte Raketen in bis zu 3.000 Kilometer Entfernung lokalisieren. Wegen der | |
typischen Funksignale bekam die Radaranlage im Westen den Spitznamen | |
„Russischer Specht“. | |
Fjodor ist sich sicher, dass das AKW 1986 mutwillig gesprengt wurde, um das | |
Geheimnis der „Duga“ zu verbergen. Er kehrt in die verseuchte Sperrzone | |
zurück, um nach Beweisen für seine These zu suchen. Nun steht er vor einem | |
Dilemma: Soll er seine Enthüllungen publik machen und sich damit in | |
Lebensgefahr begeben? | |
## Schmiergeld gezahlt | |
Der New Yorker Produzent und Dramatiker Chad Gracias hatte sich | |
ursprünglich nach Kiew aufgemacht, um eine kurze Erstlings-Doku zu drehen. | |
Schließlich begleitete er Fjodor Alexandrowitsch ein ganzes Jahr lang. Als | |
Journalisten wissen wollten, wie es dem Drehteam überhaupt gelungen sei, | |
auf das immer noch gesperrte „Duga“-Territorium zu gelangen, räumte | |
Alexandrowitsch ein, Schmiergeld bezahlt zu haben. | |
Stas Shirkow, der Regisseur des Kiewer Theaters „Goldenes Tor“, an dem das | |
Stück „Am Anfang und am Ende aller Zeiten“ zuletzt erfolgreich gelaufen | |
war, sagt: „Es handelt nicht von Tschernobyl, sondern davon, dass wir alle | |
unser ganzes Land in einer großen Zone leben und es noch lange dauern wird, | |
bis wir da herauskommen.“ | |
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk | |
26 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Oksana Maslowa | |
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