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# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Gedenken an die guten alten Zeiten
> In der Sperrzone von Tschernobyl: Einmal im Jahr, kurz nach Ostern,
> besuchen Ausgesiedelte die Gräber ihrer Angehörigen.
Bild: Der Priester Maxim Strihar bei einer Messe auf dem Friedhof von Ladyshyts…
Lachende und weinende Gesichter der Alten. Begrüßungen, herzliche
Umarmungen. Hunderte, Tausende festlich gekleidete Menschen. Am Großen
Gedenktag, der Radoniza, am Sonntag nach Ostern füllen sich die Dörfer um
Tschernobyl mit Menschen, die heimkehren, um ihrer verstorbenen Angehörigen
zu gedenken. Die Schornsteine auf den Dächern, aus denen Bäume ragen,
fangen wieder zu rauchen an. Die Häuser werden durch Öfen und den Austausch
von Jugenderinnerungen wieder heimelig warm.
Nach der größten Nuklearkatastrophe in der Geschichte der Menschheit
entstand vor 30 Jahren mitten in Europa ein fast menschenfreies
Territorium, so groß wie Luxemburg. Es ist zu einem imaginierten Friedhof,
zu einem Mahnmal für die Lebenden geworden. Einmal im Jahr jedoch
verwandeln sich die Friedhöfe in der Tschernobyl-Todeszone in blühende
Gärten.
Genauer gesagt, sind die Friedhöfe das Einzige, was dort intakt geblieben
ist. Gepflegt werden sie von denen, die umgesiedelt wurden. Trotz ihres
hohen Alters kehren sie jedes Jahr in ihre Dörfer zurück.
Nina Nowohatnaja ist eine von ihnen. Ihr Dorf Ladyshitschi liegt in der
30-Kilometer-Sperrzone. Die 67-Jährige ist an Krebs erkrankt und hat
bereits vier Operationen hinter sich. Sie kommt in jedem Jahr zurück, um
nach „ein paar Grabhügeln“ zu sehen. Vor dem GAU hat Nina in einer
Schulkantine gearbeitet. Neuerdings habe sich dort eine Bärin mit ihrem
Jungen niedergelassen. Die Rentnerin ist überzeugt, dass ihr Dorf das
sauberste in der gesamten Sperrzone ist.
## Wieder lebendig
Nach der Umsiedlung in das Dorf Sukatschi in der Nähe der ukrainischen
Hauptstadt Kiew hat Nina fast zur selben Zeit fünf Verwandte verloren. Sie
kehrt zurück, um deren Gräber zu pflegen. Hier trifft sie sich mit
ehemaligen Dorfbewohnern und den Priestern. Ladyshitschi werde an diesem
Tag wieder lebendig wie zu den guten alten Zeiten.
„Es ist, als ob wir nach Hause fahren würden. Wir sind alle fröhlich! Das
Dorf erwacht zum Leben. Jetzt sind wir nicht mehr so viele wie früher. Nach
der Havarie waren es um die neun Busse. Wir pflegen Grabhügel, renovieren
Zäune, machen den Friedhof sauber. Einiges sollte man neu bauen, es fehlt
aber an Kraft“, sagt Nina. „Söhnchen, stell dir nur vor, das wäre deine
Heimat, ein Ort, wo du geboren und zur Schule gegangen bist und wo du deine
Kindheit verbracht hast. Die Seele schmerzt!“
Die dem Tod geweihte Frau ist sich sicher: Würde sie nach Ladyshitschi
endgültig zurückkehren, würde sie noch mindestens zehn Jahre weiterleben.
„Wenn ich hierherkomme, fange ich sofort an zu singen, und zwar so laut,
dass die Elche weglaufen. Ich fürchte mich nicht, obwohl alles haushoch
zugewachsen ist. Es macht mir nichts aus“, sagt sie. Nina kann ihre Tränen
nicht zurückhalten. „Früher habe ich nie geträumt. Und jetzt habe ich immer
wieder den gleichen Traum von meinem Haus und wie es war, als ich dort
gelebt habe.“ Nina sagt, dass sie sich jedes Mal frage, ob sie wohl auch
nächstes Jahr wieder in ihr Dorf werde kommen können.
Der Priester der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, Maxim
Strihar, der die Umsiedler begleitet, ist der Meinung, dass, spätestens
wenn es um ein Begräbnis gehe, jeder Mensch religiös werde. „Das Grab der
Ahnen zu besuchen, das ist eine Art genetisches Gedenken und geht auf die
vorchristliche Zeit zurück. Ganz egal ob ein Mensch gläubig ist oder
Atheist, wird er immer wieder zum Grab seiner Väter zurückkehren“, sagt er.
## Kaplan im Kriegsgebiet
Maxim Strihar hat eine Zeit lang während der Kriegshandlungen im
ostukrainischen Donbass bei der ukrainischen Armee als Kaplan gearbeitet.
Er sagt, dass keine noch so große Katastrophe das genetische Gedächtnis und
die Kraft der Verwandtschaftsbande zerstören könne. Er habe dort erlebt,
dass die Menschen in ihre von der Erdoberfläche verschwundene Siedlungen
zurückgekehrt seien, um der Verstorbenen zu gedenken. „Sie laufen durch
nicht mehr existierende Straßen und unterhalten sich mit denjenigen, die
nur für sie sichtbar sind.“
Ein anderer Priester, Vater Dmitri Prisjashnyj, der ebenfalls jedes Jahr
zur Radoniza in die Sperrzone fährt, sagt, die Geistlichen seine eine
wichtige Stütze für die Menschen, die ihre Heimatorte verlassen mussten.
Die Menschen bräuchten jemanden, der ihnen helfe, mit ihren Ängsten
fertigzuwerden, über ihre Verzweiflung hinwegzukommen und durch ein
gemeinsames Gedenken an die Toten in der Osterwoche Freude und Genugtuung
zu empfinden.
„Als wir 1998 zum allerersten Mal in die Sperrzone kamen, hat sich
herausgestellt, dass die Priester mindesten 75 Jahre lang auf einige
Friedhöfe in dieser Gegend keinen Fuß mehr gesetzt haben. Es war sehr
ergreifend, zu sehen, dass der Verstorbenen zum ersten Mal nicht mit einem
Glas Wodka oder einem Stück Käse, wie sonst bei solchen Zeremonien üblich,
gedacht wurde, sondern mit einem Gebet“, erinnert sich der Priester. „Die
menschliche Seele dürstet nicht nach Essen und Trinken, sondern nach einem
innigen Gebet.“
Vater Dmitri ist überzeugt davon, dass das Leben eines Tages in die
Tschernobyl-Zone zurückkehren wird. „Was ein Mensch nicht schafft, dass
schafft nur Gott. Uns bleibt die Hoffnung.“
Obwohl es offiziell streng verboten ist, finden in der Todeszone weiter
Beerdigungen statt. Die Ausgesiedelten verfügen in ihrem letzten Willen,
dass man sie in der Zone an der Seite ihrer verstorbenen Verwandten
beisetzen möge. Am 26. März wurde eine 90-Jährige zu Grabe getragen. Im
nächstes Jahr zu Ostern werden ihre Hinterbliebenen in die Tschernobyl-Zone
zurückkehren.
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk
26 Apr 2016
## AUTOREN
Juri Larin
## TAGS
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