# taz.de -- Protest 30 Jahre nach Tschernobyl: Leise ist das neue Laut | |
> Die Anti-Atom-Bewegung ist alt geworden und weniger zahlreich. Aber sie | |
> bewegt noch – etwa unsere Autorin, die beim Super-Gau noch nicht mal | |
> geboren war. | |
Bild: Daueraktuell: Rund vierzig Jahre gibt es die Anti-Atom-Bewegung jetzt sch… | |
Als Vera Belsner vom Reaktorunfall im sowjetischen Tschernobyl erfährt, ist | |
die Nachricht schon zwei Tage alt. Wo es genau zum SuperGAU gekommen war, | |
wissen die Wilmersdorferin und alle anderen BelinerInnen in diesen Tagen | |
vor 30 Jahren noch gar nicht. Auch, was die freigesetzte Strahlung für die | |
Stadt bedeutet, sagt ihr niemand. Dass sie mit ihrer dreijährigen Tochter | |
nicht mehr rausgehen könne, ist ein Gedanke. „Fiiiiiiep“: plötzlich kann | |
ich die 56-Jährige nicht mehr verstehen. | |
Uwe Hiksch von den Naturfreunden Berlin hat mit ein bisschen zu viel Elan | |
das Mikro an sich genommen; ein lautes Quietschen sorgt für allgemeines | |
Gesichtsverzerren. „Wir werden alle bekämpfen, die weiterhin Atomkraftwerke | |
bauen wollen“, schallt quer über den Kreuzberger Heinrichplatz. Circa 50 | |
Leute sind zum Anti-Atom-Markt am Dienstagabend gekommen, den das | |
Anti-Atom-Bündnis Berlin zum 30. Jahrestag des verheerenden Unfalls in | |
Tschernobyl organisiert hat. Nicht gerade viel für die bisher größte | |
Atomkatastrophe, die einst hunderttausende Menschen zum Protest gegen | |
Kernenergie mobilisierte. | |
Und es gibt auch nur drei Stände, an denen Aktive und GreenpeaclerInnen | |
über Fukushima informieren, jenen vor fünf Jahren explodierten Atomreaktor | |
in Japan. Eine Unterschriftenliste zur Schließung des wieder aktiven | |
Testreaktors am Wannsee liegt an einem anderen Stand aus. | |
Barbara Hövener steht dahinter. Früher war sie auf Demos. Heute lässt es | |
die 74-Jährige ruhiger angehen: „Wir setzen darauf, die Leute zu | |
informieren und zur Unterschrift zu bewegen.“ Die Anti-Atom-Bewegung ist | |
leiser geworden, agiert mehr im Hintergrund, denke ich gerade, als ich jäh | |
von den Toten Hosen unterbrochen werde, die aggressiv aus den Lautsprechern | |
wummern. | |
Die Hosen dürften hier auf dem Anti-Atom-Markt nicht allzu viele aus ihrer | |
Jugend kennen. Fast ausschließlich die Generation 50 plus ist zu dem Markt | |
gekommen. „Die persönliche Erinnerung spielt eine Rolle“, sagt Vera | |
Belsner, die für Greenpeace vor Ort ist. Vielleicht hat sie recht: Auch ich | |
war 1986 noch nicht auf der Welt und überlege, ob mich das sehr beeinflusst | |
in meiner Meinung über Atomenergie. Als ich kurz vor einem persönlichen | |
Fazit stehe, tänzelt Uwe Hiksch ins Blickfeld. Er hat das Lied „Karl, der | |
Käfer“ aufgelegt. | |
## Und dann rollen die Atommüllfässer an | |
„Das ist der Pop-Ausdruck der damaligen Umweltbewegung“, erzählt er und | |
fühlt sich zurückversetzt in diese aufwühlende, für AktivistInnen brisante | |
Zeit. Kurz erinnere ich mich an den Freundeskreis meiner Tante, der sich | |
1972 an Bäume in Südhessen gekettet hatte, um den Bau einer Giftmülldeponie | |
zu verhindern. | |
Im Vergleich ist er leiser geworden heute, der Umweltaktivismus, denke ich, | |
als mir ein Trommelwirbel um die Ohren weht, ausgelöst von | |
GreenpeaclerInnen in gelben Anoraks. Sie schlagen inbrünstig auf neongelbe | |
Atommüllfässer ein und produzieren dabei erstaunlich mitreißende Rhythmen. | |
Jetzt bebt er doch, der Heinrichplatz. | |
Als ich beim Gehen Barbara Hövener noch mal begegne, rutscht mir ein „Alles | |
Gute“ heraus, und ich drücke ihr insgeheim die Daumen, dass sie viele | |
Unterschriften bekommt. Mich mal so richtig einlesen, das nehme ich mir | |
vor. Ob daraus dann ein lauter oder leiser Protest wird, das weiß ich noch | |
nicht. Aber Protest ist ja Protest. | |
27 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva Schneider | |
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