| # taz.de -- 30 Jahre nach dem Super-GAU: Tschernobyl-Reaktor unter der Haube | |
| > Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Der alte Tschernobyl-Sarkophag bröselte | |
| > auseinander. Nun ist die neue Schutzhülle für Block 4 fertig. | |
| Bild: Die neue Hülle wird auf Schienen über Block 4 geschoben | |
| Tschernobyl taz | In der Stadt Tschernobyl gibt es normalerweise nichts zu | |
| feiern. Das ist an diesem Dienstag anders. Die ukrainische Regierung, | |
| Präsident Petro Poroschenko, Vertreter der Europäischen Bank für | |
| Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) sowie Hunderte international geladene | |
| Gäste haben sich in der Nähe des 1986 havarierten vierten Reaktors von | |
| Tschernobyl zu einem Festakt eingefunden. Der Grund: eine neue Schutzhülle | |
| für den zerstörten Reaktor. Das über 1,5 Milliarden Euro teure und von der | |
| französischen Firma Novarka gebaute Projekt wurde von 40 Staaten unter | |
| Führung der EBRD finanziert und soll mindestens 100 Jahre bestehen. | |
| Mit dem neuen Dach, dem „Confinement“, sei, so die Veranstalter, eine | |
| Gefahr gebannt. Die 1986 in aller Eile fertiggestellte Betonhülle, auch | |
| Sarkophag genannt, die die Umwelt für lange Zeit vor einem weiteren | |
| Austreten der im Reaktor verbliebenen Radioaktivität hatte schützen sollen, | |
| wurde zusehends brüchig. Eine bogenförmige Metallkonstruktion, 260 Meter | |
| breit, 110 Meter hoch und 36.000 Tonnen schwer wurde aus | |
| Strahlenschutzgründen 300 Meter vom Reaktor entfernt gebaut und Anfang | |
| November auf Gleisen über den alten Reaktor gefahren. | |
| „Wir haben einen Wettlauf mit der Zeit gewonnen“, erklärt Balthasar | |
| Lindauer, stellvertretender Chef der Abteilung für nukleare Sicherheit bei | |
| der EBRD, gegenüber der taz. „30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von | |
| Tschernobyl sind die verbliebenen radioaktiven Stoffe von Reaktor 4 durch | |
| eine weltweit einzigartige Ingenieurleistung sicher verschlossen“, heißt es | |
| in einer Presseerklärung des ukrainischen Umweltministeriums. Mit dem | |
| Confinement sei man auf dem Weg, die Sperrzone um Tschernobyl in ein | |
| ökologisch sicheres Gebiet zu transformieren, erläutert Ostap Semerak, der | |
| ukrainische Umweltminister. | |
| Auch der Busfahrer Andrej, der Gäste für die EBRD von Kiew nach Tschernobyl | |
| gefahren hat, freut sich über die neue Schutzhülle. „Heute Morgen bin ich | |
| hier in Tschernobyl angekommen, und endlich ist dieser hässliche Sarkophag | |
| nicht mehr zu sehen. Ich denke, jetzt können wir uns sicherer fühlen.“ | |
| Während andere ständig auf ihr Mobiltelefon gucken, lässt Andrej seinen | |
| Geigerzähler nicht aus den Augen. „Ich bemühe mich hier in Tschernobyl, | |
| nicht vom Asphalt abzukommen. Sobald man auf das Gras geht, tickt der | |
| Geigerzähler schneller.“ | |
| ## Fortdauernde Katastrophe ignoriert | |
| Fachleute gehen davon aus, dass noch an der neuen Schutzhülle gearbeitet | |
| werden muss. „Das Projekt ist noch nicht zu Ende“, erklärt EBRD-Vertreter | |
| Lindauer. „Systeme müssen angeschlossen, Tests gefahren, alles versiegelt | |
| werden. Dann muss die Übergabe samt Genehmigungsverfahren erfolgen. Das | |
| dürfte noch ein Jahr dauern.“ | |
| Nicht alle teilen die Euphorie über die neue Schutzhülle. „Es ist eine | |
| verdrehte Wahrnehmung der Realität, den neuen Sarkophag als großartiges | |
| Projekt zu feiern. Die fortdauernde Katastrophe dahinter wird geradezu | |
| ignoriert“, erklärt die grüne Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Sie | |
| bemängelt, dass es kein Konzept für den im Reaktor 4 verbliebenen | |
| radioaktiven Müll gebe. | |
| Bei der EBRD ist man sich dessen bewusst, geht jedoch davon aus, dass mit | |
| dem Bau der neuen Schutzhülle Zeit gewonnen worden sei. „Man kann jetzt | |
| planen, wie man den Sarkophag zurückbaut und das radioaktive Inventar | |
| bergen wird“, sagt Balthasar Lindauer von der EBRD. Das müsse zügig | |
| passieren. Zudem sei geplant, sogenannte instabile Teile an dem alten | |
| Sarkophag abzubauen. Dafür biete das New Safe Confinement die Ausrüstung. | |
| Ein weiteres Problem könnte die Zusammenarbeit zwischen ukrainischer | |
| Atomwirtschaft und internationaler Gemeinschaft erschweren. In den letzten | |
| Monaten waren Korruptionsvorwürfe gegen Igor Gramotkin, den Direktor des | |
| Atomkraftwerkes Tschernobyl, laut geworden. Nach Angaben der ukrainischen | |
| Internet-Zeitung Nashi Groshi soll Gramotkin Aufträge in Höhe von 6,5 | |
| Millionen Euro an Firmen vergeben haben, in denen Verwandte des Direktors | |
| in führender Position seien. | |
| Mit Unterstützung des Direktors sollen 7.000 Tonnen radioaktiven Metalls | |
| abhandengekommen sein, die hätten dekontaminiert und an das AKW | |
| zurückgeliefert werden müssen. Stattdessen sei es unter Preis verkauft | |
| worden. Inzwischen läuft ein Ermittlungsverfahren gegen den Chef des vom | |
| Netz genommenen Kraftwerks. Das Internetportal strana.ua berichtet von | |
| 100.000 Dollar, die bei einer Hausdurchsuchung bei der Familie | |
| beschlagnahmt worden seien. | |
| Bei der EBRD kenne man die Vorwürfe, so Lindauer. Die ukrainischen Partner | |
| hätten jedoch versichert, dass EBRD-Gelder hiervon nicht betroffen und die | |
| Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. „Unser Geschäftsmodell ist so | |
| aufgebaut, dass von uns keine Gelder direkt an das Kraftwerk gehen“, so | |
| Lindauer. Sollten sich die Vorwürfe erhärten, dürften sie das Vertrauen von | |
| Geldgebern in die ukrainische Atomwirtschaft belasten. | |
| *** | |
| ## Chronik einer Katastrophe | |
| Dezember 1983: Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl geht ans Netz. | |
| 25. April 1986, 13 Uhr: Für einen Test wird ein Stromausfall simuliert, die | |
| Sicherungssysteme werden außer Betrieb gesetzt. | |
| 14 Uhr: Weil Kiew Strom anfordert, wird der Test unterbrochen, die | |
| Notkühlsysteme bleiben abgeschaltet | |
| 26. April 1986: Im Abstand von wenigen Sekunden kommt es zu zwei | |
| Explosionen, das Dach des Reaktorgebäudes wird weggesprengt. Die | |
| eindringende Luft facht einen Brand an. Rauch steigt kilometerhoch in die | |
| Atmosphäre und reißt radioaktiven Staub mit sich. | |
| 5 Uhr: Die Brände außerhalb des Reaktorgebäudes sind gelöscht. Der Versuch, | |
| das Innere des brennenden Reaktors mit Wasser zu kühlen, schlägt fehl. | |
| Stattdessen läuft kontaminiertes Wasser aus dem Gebäude. Inzwischen hat die | |
| Strahlung im 3 Kilometer entfernten Pripjat das 600.000-Fache des normalen | |
| Werts erreicht und steigt an. | |
| 27. April: Die Behörden befehlen die Evakuierung von Pripjat – als reine | |
| Vorsichtsmaßnahme und lediglich für drei Tage, heißt es zunächst. Um die | |
| Brände am Reaktor unter Kontrolle zu bekommen, werfen Helfer aus | |
| Hubschraubern und Flugzeugen tagelang Chemikalien, Blei, Sand und Lehm auf | |
| den zerstörten Reaktor ab. | |
| 28. April: Ungewöhnlich hohe Radioaktivität löst bei Messstationen in | |
| Schweden und Dänemark Alarm aus. Die amtliche sowjetische | |
| Nachrichtenagentur Tass meldet einen Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl. | |
| 29. April: Die UdSSR spricht erstmals von einer „Katastrophe“ und zwei | |
| Todesopfern. | |
| 30. April: Moskau dementiert Berichte über Tausende Tote. In der DDR werden | |
| die Menschen über eine Tass-Meldung informiert, dass es zum „Entweichen | |
| einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ gekommen sei. | |
| 19. Juli: Die Bilanz aus Moskau: Unglücksursache sei grobe Fahrlässigkeit | |
| des Bedienungspersonals gewesen. 28 Menschen seien gestorben, 208 verletzt. | |
| Tatsächlich sterben Tausende Menschen an den Folgen der Katastrophe. | |
| 15. November: Der Sarkophag ist fertiggestellt. Die Reaktoren 1 bis 3 sind | |
| wieder in Betrieb. | |
| 15. Dezember 2000: Der letzte Reaktor wird stillgelegt. | |
| 26. April 2012: Der Grundstein für die Schutzhülle New Safe Confinement | |
| (NSC) wird gelegt. | |
| 29. November 2016: Der fertige NSC wird endgültig über den Reaktor 4 | |
| geschoben. | |
| 29 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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