# taz.de -- Tschernobyl: 30 Jahre danach: Getrenntes Erinnern | |
> Tschernobyl ist für viele Menschen in Deutschland politisch besetzt. In | |
> Weißrussland und der Ukraine stehen soziale Folgen im Vordergrund. | |
Bild: Denkmal für die toten Liquidatoren in der nordukrainischen Kleinstadt Iw… | |
Das Gedenken an Tschernobyl ist in Deutschland stets politisch, in der | |
Ukraine und in Belarus erinnert man sich vor allem an die sozialen Folgen. | |
Beide Sichtweisen könnten voneinander lernen, den GAU in seiner vollen | |
Tragweite zu begreifen. Doch auf dem Weg zu einer gemeinsamen | |
Erinnerungskultur trennt uns die aktuelle politische Situation. | |
Zum 30. Jahrestag der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl werden | |
bundesweit Demonstrationen stattfinden, die den deutschen Atomausstieg | |
bekräftigen und noch beschleunigt sehen wollen. Die Forderungen der | |
Demonstrierenden entsprechen dem gesellschaftlichen Konsens. | |
Tschernobyl und Fukushima haben viel dazu beigetragen. Tschernobyl brachte | |
eine gestärkte Anti-Atomkraft-Bewegung und die politische | |
Auseinandersetzung um die zivile Nutzung der Atomenergie. Das deutsche | |
Erinnern an Tschernobyl ist politisch, weil auch die Folgen des GAUs in | |
Deutschland vorrangig politisch waren. Denn letztlich war die hier | |
gemessene Strahlung im Vergleich zu den betroffenen Gebieten in der Ukraine | |
und in Belarus gering. | |
In diesen Ländern stehen die sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen | |
Folgen der Katastrophe im Vordergrund. Es werden die persönlichen | |
Geschichten derer erzählt, die ihre Heimat verlassen mussten oder als | |
Liquidatoren an den Unfallort geschickt wurden. Literatur, Kunst und Medien | |
greifen diese Schicksale auf, doch die nukleare Energiegewinnung wird nicht | |
in Frage gestellt. | |
## Nur eine Naturkatastrophe | |
In der Ukraine laufen noch immer vier Atomkraftwerke, in Belarus – dem | |
Land, in dem 70 Prozent der Verstrahlung ankam – wird gerade eines gebaut. | |
Die Regierung in Minsk stellt Tschernobyl als tragisches Unglück dar, | |
dessen Folgen nun bewältigt seien – wie eine Naturkatastrophe, nach der man | |
schließlich weiterleben kann, wie bisher. | |
„Die belarussische Politik stellt Tschernobyl heute als etwas Positives | |
dar. Zu jedem 26. April gibt es ein Konzert. Aber es ist ein zu ernstes | |
Datum, um ein Konzert zu veranstalten“, findet Olga Jerochina, Journalistin | |
aus Minsk. Sie und ihre Kollegin Julia Vasiljuk sind auf Einladung der taz | |
Panterstiftung nach Berlin gekommen. „Es hat mich sehr überrascht, dass | |
Deutschland entschieden hat, aus der Atomenergie auszusteigen“, erklärt | |
Julia. „In Belarus wird die Atomenergie als Energiequelle der Zukunft | |
betrachtet, es heißt, alle entwickelten Länder würden auf Atomenergie | |
setzen. Das ist die Propaganda bei uns.“ | |
Oliver Kaczmarek, MdB und Vorsitzender der Deutsch-Belarussischen | |
Parlamentariergruppe, fordert im Gespräch mit Journalisten aus Belarus, der | |
Ukraine und Deutschland eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur. | |
„Tschernobyl war eine europäische Katastrophe, und wir müssen uns gemeinsam | |
daran erinnern.Vielleicht wird es einmal eine europäische Gedenkstätte | |
geben.“ | |
Gemeinsames Erinnern würde in Deutschland ein klareres Bild der | |
gesellschaftlichen Konsequenzen schaffen, die ein nuklearer Unfall dieser | |
Größenordnung hat. Das würde uns klarmachen, wie glimpflich wir | |
davongekommen sind und zugleich die letzten Atom-Enthusiasten von einem | |
zügigen Ausstieg überzeugen. In Belarus und der Ukraine könnte die deutsche | |
Erinnerung zeigen, dass Tschernobyl auch eine politische Seite besitzt. | |
## Private Initiativen | |
Kaczmarek betont, wie viele Deutsche sich nach Tschernobyl hilfsbereit | |
zeigten. Private Initiativen und Vereine sammelten Spenden und | |
organisierten Aufenthalte in Deutschland für Kinder aus den am stärksten | |
verstrahlten Regionen. Doch Solidarität allein schafft noch keine | |
gemeinsame Erinnerungskultur. Dazu bedarf es auch politischer | |
Voraussetzungen, die in Belarus und der Ukraine heute fehlen. | |
In Belarus bestimmt die staatliche Propaganda die Erinnerung, politische | |
und zivilgesellschaftliche Beziehungen zu Deutschland werden misstrauisch | |
beäugt. Lukaschenkos Abschottungspolitik hat auch die zuvor unpolitischen | |
Hilfsorganisationen politisiert. Ihnen mangelt es 30 Jahre nach Tschernobyl | |
zudem an Mitgliedern. | |
Die Ukraine hat mit dem Konflikt im Osten, den Binnenflüchtlingen und der | |
gerade erst neu gebildeten Regierung in Kiev akutere Probleme. Protest | |
gegen die Nutzung von Atomenergie stößt auf wenig Interesse in einem Land, | |
das ohnehin stark abhängig ist von russischen Gas- und Ölexporten. | |
Von einer europäischen Erinnerungskultur sind wir daher weit entfernt. | |
Dabei würde es beiden Seiten helfen, die eigene Auffassung von Tschernobyl | |
um die jeweils andere Sichtweise – die politische oder die persönliche – zu | |
ergänzen. | |
27 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Luisa Podsadny | |
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