# taz.de -- Tschernobyl: 30 Jahre danach: Leben in der Geisterstadt | |
> Im ukrainischen Orbita sollte in den 80er Jahren ein Akw entstehen. Nach | |
> Tschernobyl wurde das Projekt gestoppt. Jetzt kommen Flüchtlinge aus der | |
> Ostukraine. | |
Bild: Alles kaputt: Stilleben in Orbita | |
Gas, öffentliche Verkehrsmittel, Trinkwasser, davon träumen die Bewohner | |
von Orbita nur. Der Ort befindet sich im Tscherkasser Gebiet, rund 300 | |
Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt, und ist auf keiner | |
Landkarte verzeichnet. Hierher fährt kein Bus, hier gibt es weder | |
Kindergärten noch Schulen. In zwei halb leeren fünfgeschossigen Häusern | |
leben etwa 150 Menschen. Nein, sie leben nicht, sie versuchen zu überleben. | |
Vor einigen Jahrzehnten war Orbita ein grandioses Projekt mit | |
ambitionierten Plänen. Anfang der 70er Jahre entwickelte sich unweit der | |
Kreisstadt Tschigirin die Bauwirtschaft. Zuerst gab es ein Kraftwerk für | |
Heizöl, dann für Kohle. Schließlich sollte auch noch ein Atomkraft | |
errichtet werden. | |
Für den Bau kamen Leute aus der ganzen Sowjetunion, erinnert sich der | |
ehemalige Bauarbeiter Wasili Prychno. Er war einer der Ersten. „Sie haben | |
mich gleich auf einen Traktor gesetzt“, erzählt er. Er beförderte zunächst | |
Stahlteile und Glaswatte. Mit größeren Traktoren ging es dann an den Bau | |
von Häusern. | |
3.000 Personen arbeiteten auf der Baustelle. Sie bauten das Kraftwerk, | |
gleich daneben eine Siedlung für 20.000 Menschen dazu noch ein Kaufhaus und | |
eine Kantine. Auch ein Krankenhaus, Kindergärten, Schulen und ein | |
Kulturpalast waren vorgesehen. In den Zeitungen stand damals geschrieben: | |
„In der Stadt Orbita soll ein Energiegigant entstehen.“ Doch dann kam alles | |
anders. Nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl und | |
Massenprotesten der verängstigten Bevölkerung wurde der Bau gestoppt. | |
## Kein Trinkwasser | |
„Alle Häuser waren bezogen. Nach dem Unfall jedoch wurde die Nachricht | |
verbreitet, dass hier keiner mehr ein Atomkraftwerk brauche, und alles ging | |
zum Teufel“, sagt Wladimir Kononenko. In den 80er Jahren arbeitete er in | |
der Bauleitung. | |
Nachdem das Projekt begraben worden war, verließen die Menschen die Stadt. | |
Wladimir blieb. Er ist Rentner und wohnt in einem der fünfgeschossigen | |
Häuser. Trinkwasser gibt es nicht, das holt er aus dem Nachbardorf, das | |
einige Kilometer entfernt ist. Er hat einen Garten, um sich zu versorgen. | |
Einige Leute gibt es noch in dem zweiten Wohnblock, alles in allem 60 | |
Familien. 400 Wohnungen stehen leer. Wo Fenster waren, klaffen schwarze | |
Löcher. Zwischen den Ruinen liegen Gegenstände früherer Bewohner und Fetzen | |
von Tapeten. | |
Doch jetzt kommt wieder etwas Leben nach Orbita mit der Ankunft von | |
Flüchtlingen aus der Ostukraine. Ein Rentnerehepaar aus Wolnowacha hat sich | |
mit der neunjährigen Enkelin hier im September 2014 vor dem Krieg in | |
Sicherheit gebracht. Sie hatten gehofft, dass sich die Lage beruhigen würde | |
und sie bald wieder nach Hause würden zurückkehren können. | |
## Herzlicher Empfang | |
Von Orbita hörten sie von Mitreisenden. Sie mieteten eine Wohnung und | |
kauften diese dann für 30.000 Hrywnja (rund 1.000 Euro). Jetzt leben sie | |
schon anderthalb Jahre hier. | |
„Wir wurden herzlich empfangen. Wir bleiben erst mal hier, wie es | |
weitergeht, weiß niemand“, sagt die Rentnerin Ljudmilla Limarschenko. Über | |
ihr Leben beklagen sich die Flüchtlinge nicht. Sie haben sich irgendwie | |
eingerichtet. Eine Rente des Ehepaares geht für kommunale Dienstleistungen | |
drauf, von der zweiten leben sie. | |
„Wir haben einen Radiator und heizen nur ein Zimmer. Im letzten Monat haben | |
wir 400 Hrywnja bezahlt, wir müssen sparen, aber es war ja auch nicht | |
besonders kalt“, sagt Ljudmilla. | |
Ihre Wohnung stand die letzten zehn Jahre leer. Für eine richtige | |
Renovierung hätte die Rente nicht gereicht. Aber Ljudmillas Mann Wladimir | |
ist Schlosser und ein Meister seines Fachs. „Es gab kein Wasser, alle | |
Leitungen waren verrostet. Aber ich habe alles selber wieder hergerichtet“, | |
sagt Wladimir. | |
## Investoren gesucht | |
Ein großes Problem der Einwohner von Orbita ist das Wasser. Ein Programm | |
zum Anschluss an die Wasserversorgung wurde mangels Geld eingestellt. „Es | |
geht hier um Millionen, deshalb suchen wir einen Investor“, sagt die | |
Vorsitzende des Dorfrates, Larissa Postrigan. | |
Mittlerweile leben zehn Familien aus den Gebieten Donezk und Luhansk in | |
Orbita. Die Alteingesessenen freuen sich über die Flüchtlinge. Sie hoffen, | |
dass weitere kommen und dass die Menschen sich wieder an diesen vergessenen | |
Ort erinnern. Dass endlich die Infrastruktur ausgebaut wird und | |
Arbeitsplätze geschaffen werden. Und ihr Leben eine Perspektive bekommt. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
27 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Irina Zimbal | |
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