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# taz.de -- Strahlenforschung nach dem Atomgau: „Vergiftete Wissenschaft“
> Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist
> gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.
Bild: Auch Wölfe passieren die durch die verseuchte Region gehende Grenze zwis…
Kiew taz | Der Konflikt in der Ostukraine hat auch tiefe Spuren in die
Forschung getrieben. Beispielsweise bei sämtlichen Projekten, die sich mit
der Aufarbeitung der Reaktorkatastrophe 1986 von Tschernobyl befassen. „Uns
ist von den Behörden verboten worden, mit den russischen Instituten weiter
zusammenzuarbeiten“, sagt Professor Konstantin Loganovsky, der am
ukrainischen Forschungszentrum für Strahlenmedizin den Bereich
Psychoneurologie leitet.
Lediglich ein Fünftel der besonders verstrahlten Gebiete liegt auf
ukrainischem Territorium, „entsprechend wichtig wäre es, mit den Kollegen
aus Russland und Weißrussland zusammenzuarbeiten“. Seit der russischen
Annexion der Krim – unmöglich.
Yaroslav Movchan von der Nationalen Luftfahrt-Universität der Ukraine
spricht gar von einer „vergifteten“ Wissenschaft. „Wir haben festgestellt,
dass man den Daten der russischen Kollegen nicht mehr trauen kann“, sagt
Movchan. Der Ökologie-Professor befasst sich mit den radioaktiven
Auswirkungen auf Flora und Fauna, „die selbstverständlich nicht an der
Staatsgrenze haltmachen“.
Wichtig wäre es beispielsweise, Daten über Wildschweinpopulationen in der
Ukraine mit denen in Westrussland zu vergleichen. „Denn Wildschweine haben
einen nächtlichen Aktionsradius von bis zu 50 Kilometern. Um etwa
strahlungsbedingten Mutationen auf die Spur zu kommen, ist die
Zusammenarbeit mit Forschungsprojekten in Westrussland unabdingbar.“
Movchan glaubt nicht, dass die russischen Kollegen, mit denen er Kontakt
hält, selbst die Daten „vergiften“. Der 59-Jährige sagt: „Das ist einde…
das Werk des russischen Geheimdienstes.“ Strahlenmesswerte,
Isotopen-Konzentration, Konstruktions- oder Einsatzpläne – es lagern etwa
99 Prozent aller in den 80er Jahren erhobenen Daten rund um den havarierten
Reaktor und der 30-Kilometer-Sperrzone in russischen Archiven.
„Die sowjetische Atomforschung war auf die Zentren Dubna bei Moskau und
Tscheljabinsk am Ural konzentriert. Nach dem Ende der Sowjetunion blieb
alles da und wurde so russisch“, sagt Movchan. Für die eigene ukrainische
Forschung seien aber gerade die ersten Messreihen nach dem Reaktorunfall
immens wichtig. Movchan sagt: „Archivanfragen sind derzeit zwecklos.“
Auch mit Weißrussland sei die Zusammenarbeit schwer, erklärt der Biologe
Movchan. „Die Wissenschaftler dort haben unter der Repression des Regimes
zu leiden.“ Präsident Lukaschenko habe kein Interesse an Aufklärung.
„Lukaschenko gehört die Firma Belarus Produktui, die den Lebensmittelmarkt
beherrscht.“ Milch, Käse, Soßen – „natürlich hat Lukaschenko kein Inte…
daran herauszufinden, was in den Lebensmitteln drin ist. Ich kenne
Wissenschaftler, die wegen ihrer Arbeit zu Umweltgiften ins Gefängnis
gekommen sind.“
## Ein Forschungsreaktor auf der Krim
„Wir haben zwei atomare Forschungsreaktoren: einen in Kiew und den anderen
in Sewastopol“, sagt Konstantin Loganovsky. Sewastopol liegt auf der Krim,
seit der Annexion durch Russland im März 2014 sind alle ukrainischen
Forschungsprojekte, die auf diesen Forschungsreaktor angewiesen waren,
obsolet.
„Der Reaktor in Sewastopol ist und bleibt eine ukrainische
Forschungseinrichtung! Ich habe nichts gegen Russen, ich bin selbst einer,
komme aus Sankt Petersburg“, sagt Loganovsky. „Aber Russland muss uns die
Krim zurückgeben.“
„Es gab eine breite Zusammenarbeit mit den Russen, mit vielen meiner
Kollegen bin ich befreundet“, sagt Loganovsky. Er zählt
Forschungseinrichtungen in Sankt Petersburg, Moskau, Tscheljabinsk auf.
„Exzellent“ und „unerlässlich“ nennt er die gemeinsame Forschung. Für
Konstantin Loganovsky geht es bei den Arbeiten nicht um ein ukrainisches
oder russisches Thema.
„Tschernobyl gab der Wissenschaft viele neue Daten über die Auswirkung der
Radioaktivität auf den Menschen. Für die medizinische Forschung war das
eine Revolution.“ Bis zur Reaktorkatastrophe – und auch noch einige Jahre
danach – seien die Menschen absolut blind gewesen für die
Strahlenkrankheit. Loganovsky: „Das war ja eine Top-Secret-Angelegenheit in
der Sowjetunion.“
Deshalb seien seine Arbeiten und die seiner Kollegen „Forschungen für die
ganze Welt“. Loganovsky sagt: „Es ist doch klar, dass Fukushima nicht der
letzte atomare Unfall war. Speziell in Westeuropa und in den USA ist die
Dichte der Reaktoren enorm hoch. Und etliche laufen noch, obwohl ihre
ingenieurtechnische Lebenszeit längst abgelaufen ist.“ Wer so mit
technologischen Naturgesetzen umgehe, der fordere geradezu einen neuen
Unfall heraus.
## Forscher aus Japan
„Und dann kommen die Verantwortlichen zu uns“, sagt Loganovsky.
Entsprechend groß sei das Interesse japanischer Forscher an den Arbeiten
seines Instituts. „Die Kollegen kamen nach dem Unfall und haben uns nach
der Methodologie gefragt, mit der wir arbeiten“. Offenbar sei der Mensch so
gestrickt, dass er sich erst nach einem Ereignis überlegt, wie er damit
umzugehen hat.
„Wir stehen mit mehr als 1.000 japanischen Wissenschaftlern in regem
Kontakt, ich war selbst in Japan, mit einigen Kollegen ist das inzwischen
fast wie in einer Familie“.
Nicht überraschend ist deshalb, dass die jüngste Arbeit von Konstantin
Loganovsky „Gesundheitliche Effekte von Tschernobyl und Fukushima – 30 und
5 Jahre nach dem Ereignis“ heißt. „In Fukushima wurde nur etwa ein Zehntel
der Radioaktivität von Tschernobyl freigesetzt, und sie hatten Glück: Sehr
viel der Strahlung ging Richtung Meer, nur ein kleiner Teil wurde ins
Landesinnere abgegeben“, sagt der ukrainische Strahlenmediziner.
## Anerkannte Strahlenopfer
Entsprechend schlägt sich das in den Zahlen nieder: Dem Report zufolge
waren 3.361.870 ukrainische Staatsbürger im Jahr 2000 als „Überlebende der
Tschernobyl-Katastrophe“ klassifiziert – also Menschen, die anerkannte
Strahlenopfer sind. Bis zum vergangenen Jahr sank diese Zahl auf 2.025.141
Ukrainer. Nicht nur Heilungen reduzierte die Zahl, es waren vor allem die
Todesfälle. Auch weil in Fukushima 20-mal weniger Menschen mit dem Kampf an
den Reaktoren befasst waren, erwartet Loganovsky dort bei Weitem nicht eine
solche Dramatik.
Zentral bei Fällen der Strahlenkrankheit sei eine Schädigung des
vegetativen Nervensystems, sagt Konstantin Loganowsky. Bei höheren Dosen
seien Leukämie, Brust- oder Schilddrüsenkrebs die wahrscheinliche Folge.
„Wir konnten aber nachweisen, dass bereits geringere Dosen das vegetative
Nervensystem angreifen.“ Arbeitet das nicht mehr richtig, sind nicht selten
Fehlsteuerungen der Organe die Folge, „auch eine erhöhte Herzinfarktrate
haben wir registriert“.
Auf die Frage nach der eigenen Gesundheit antwortet der Biologe Movchan
lediglich: „Alle meine Kollegen, mit denen ich 1986 in der Zone gearbeitet
habe, sind tot. Mit zwei Ausnahmen.“
Der Strahlenmediziner Loganovsky sagt: „Ich bin gesund. Zumindest nach
ukrainischem Maßstab.“ Natürlich habe er seinen Lebensstil umstellen
müssen. Auch seien ständig Insulininfusionen notwendig. Aber Loganovsky
lacht: „Wahrscheinlich würde ich im Westen als schwerkrank gelten.“
21 Apr 2016
## AUTOREN
Nick Reimer
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