# taz.de -- Soziologe über Angst vor Terrorismus: „Es gibt keine absolute Si… | |
> Paris, Istanbul, Brüssel: Der Soziologe Wolfgang Bonß plädiert für eine | |
> Akzeptanz der Unsicherheit – schon deshalb, weil uns nichts anderes | |
> übrigbleibt. | |
Bild: Irgendwann setzt die Normalität wieder ein: zurückgelassenes Gepäck na… | |
taz: Herr Bonß, Paris, Istanbul, Brüssel: Der Takt des Terrors wird | |
schneller. Was macht das mit unseren Gesellschaften? | |
Wolfgang Bonß: Es irritiert sie eindeutig und verstärkt bestehende Ängste. | |
Allerdings ist die Verengung des Takts kein Zufall und nicht zuletzt eine | |
Folge der Globalisierung: Die Wege, Informationen und | |
Handlungsmöglichkeiten haben sich heute für alle erweitert und damit leider | |
auch für Terroristen. Das Netz möglicher Attentäter hat sich verfeinert und | |
verdichtet. Das schafft ohne Frage neue Unsicherheiten und Gefährdungen. | |
Aber strukturell hat sich nichts geändert. | |
Auch nicht durch die Häufung? | |
Quantität schlägt nicht automatisch in Qualität um. Es hat früher Anschläge | |
gegeben, und es wird wohl leider immer wieder Anschläge geben. Sie können | |
diese Möglichkeit trotz aller Vorsichtsmaßnahmen niemals ausschließen. | |
Allerdings ist die Wahrnehmung dieser Gefahr derzeit stärker. | |
Neu aber ist, dass die Täter inzwischen beliebige Orte des öffentlichen | |
Lebens attackierten: einen Flughafen, eine Metrostation, einen Musikclub | |
oder ein Stadion. Es kann nun jeden überall treffen. | |
Auch das ist nicht so neu – es konnte theoretisch schon vorher jeden | |
überall treffen, auch wenn dies erst jetzt realisiert wird. Die Frage ist | |
daher eher: Was folgt daraus? Lassen wir uns auf diese Angstwahrnehmung | |
ein? Dann können wir die nächsten Fußballspiele alle absagen, dann können | |
wir nur immer weiter zurückweichen, dann können wir im Prinzip das | |
komplette öffentliche Leben aufgeben. Und das kann ja kaum eine sinnvolle | |
Perspektive sein. | |
Was also sollten wir jetzt tun? | |
Wir sollten eher versuchen, Normalisierungsstrategien zu stärken. Die | |
Bedrohung ist zwar gestiegen – aber wir können nicht dauerhaft in der | |
Bedrohung leben. Wir müssen sie normalisieren. Und das werden wir wohl | |
auch, schon in kurzer Zeit. Was sollen wir auch anderes tun? Keine U-Bahn | |
mehr fahren? Die Leute werden schnell Strategien entwickeln, um trotzdem | |
wieder in die U-Bahn zu steigen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die | |
Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Da ist hier in München der Großmarkt | |
zusammengebrochen, die Leute haben kein Gemüse mehr gekauft, gar nichts. | |
Nach drei bis vier Wochen aber sind sie wieder auf den Markt gekommen und | |
haben sich nach Lebensmitteln erkundigt. Es trat eine neue Normalität ein – | |
obwohl die Hintergrundstrahlung weiter erhöht war. Die Angst wird | |
irgendwann verdrängt, und sie muss es wohl auch. | |
Ist das gut – oder gefährlich? | |
Weder noch. Es ist aber insofern alternativlos, als wir nur so unseren | |
Alltag weiterleben können. Und die Brüsseler reagieren ja momentan genauso. | |
Sie verkriechen sich nicht in ihren Häusern, sondern gehen raus, besuchen | |
Gedenkveranstaltungen oder funktionieren das Manneken Pis symbolisch um. | |
Das ist toll. | |
Sie plädieren für eine neue Kultur der Unsicherheit. Was heißt das? | |
Ich denke, wir brauchen einen grundlegenden Perspektivwechsel, und zwar | |
nicht nur bei terroristischen Bedrohungen. Bisher gehen wir davon aus, dass | |
wir – Geld und Zeit vorausgesetzt – alles immer sicherer machen können. Und | |
da sage ich: Das stimmt einfach nicht. Was wir gerade jetzt wieder einmal | |
sehen. Daher sollten wir den Blick umdrehen und akzeptieren, dass | |
Unsicherheiten zu unserem Leben dazugehören, und seien es so | |
verhängnisvolle wie Terroranschläge. Denn ungeachtet aller Bemühungen | |
werden wir Unsicherheit nie vollständig in Sicherheit verwandeln können, | |
und nur wenn wir davon ausgehen, dass es keine absolute Sicherheit gibt, | |
können wir mit Verunsicherungen besser umgehen. | |
Ist das nicht zynisch gegenüber den jetzigen und künftigen Opfern? | |
Nein, denn die Trauer bleibt. Zwar kann man den Sicherheitsbehörden in | |
Brüssel vielleicht manches vorwerfen. Aber auch wenn Polizei und | |
Nachrichtendienste Fehler machen können und wohl auch machen, so gilt | |
gleichwohl: Sie können einfach nicht alles verhindern, und es wäre falsch, | |
ihre Aktivitäten am Maßstab völliger Sicherheit zu messen. | |
Aber ist diese Haltung nicht auch ein Sieg für die Attentäter: Wir finden | |
uns mit eurem Terror ab? | |
Das muss man trennen. Natürlich ist Terror nicht zu akzeptieren. Man muss | |
sehr wohl dagegen aktiv werden, etwa mit einer langfristigen | |
Integrationspolitik, die ich bis heute vermisse. Wir reden aber gerade von | |
der Gefahrenabwehr. Und da gibt es einfach kein Rezept gegen Anschläge, das | |
vollständige Sicherheit garantiert. Deshalb sollte man eher die neue | |
Unsicherheit als Normalität akzeptieren, so bitter es ist, und lieber | |
schauen, wie man damit umgeht. Und ich gehe sogar so weit zu sagen: | |
Eigentlich ist gar nicht so viel Neues passiert. | |
Kann man das sagen, bei 34 Toten in Brüssel, bei 140 Toten in Paris? | |
Die Zahlen sind natürlich schrecklich. Gleichwohl dürfen wir nicht | |
vergessen: Unser Alltag ist an ganz vielen Stellen gefährlich. Die Gefahr, | |
dass Sie sich mit Ihrem Auto umbringen, ist erheblich größer, als bei | |
irgendeinem Anschlag umzukommen. Es gab 2015 in Deutschland rund 3.000 | |
Verkehrstote, und trotzdem steigen die Leute immer wieder in ihren Wagen. | |
Das wird einfach so hingenommen. | |
Das heißt, die jetzige Diskussion nach den Anschlägen, die | |
Sicherheitsbehörden zu stärken und europäisch besser zu vernetzen, würden | |
Sie gar nicht führen? | |
Gegen eine bessere Vernetzung, insbesondere auf europäischer Ebene, ist | |
überhaupt nichts einzuwenden. Aber es gibt auch unsinnige Forderungen. Die | |
Idee, nun auch Flughafeneingänge und die Bereiche vor der | |
Sicherheitsschleuse zu sichern, ist eine solche. Dann verschiebt sich das | |
Problem eben auf das Vorfeld und damit auf den nächstliegenden Bahnhof. Und | |
wollen wir jetzt alle Bahnhöfe kontrollieren? Das ist Blödsinn. Ein | |
Flughafen ist ein so gut wie geschlossenes System, Bahnhöfe sind es nicht. | |
Das wäre weder finanziell noch technisch zu realisieren. Also muss man sich | |
dort mit Restunsicherheiten abfinden, so schwer und so bitter es auch sein | |
mag. | |
Aber werden von der Politik nicht Antworten und Lösungen verlangt? | |
Ja. Aber Versprechen nach mehr Sicherheit werden in der Regel schnell | |
enttäuscht. Und die Politik kann ja auch andere Antworten finden. Ich sehe | |
heute schon eine gewisse Relativierung der bisherigen Kultur der | |
Sicherheit. Inzwischen wird im Innenministerium ganz genau überlegt, ob und | |
wie lange man nach Anschlägen schwer bewaffnete Polizisten auf öffentliche | |
Plätze schickt: Wirkt das jetzt mehr aufschreckend oder normalisierend? | |
Anderswo ist die Reaktion anders. Frankreich hat nach den Anschlägen einen | |
Ausnahmezustand verhängt, der bis heute anhält ... | |
Frankreich reagiert extrem. Dies nicht nur, weil Ausnahmezustände | |
grundsätzlich Ausnahmen bleiben sollten. Vielmehr zerstört ein dauerhafter | |
Alarmismus eine Gesellschaft langfristig, weil sie dann nicht mehr zur Ruhe | |
kommen kann und der Ausnahmezustand zur Normalität wird. Genau das ist es | |
letztlich, was die Terroristen wollen, und das sollten wir vermeiden. | |
Auch in Deutschland werden Anschläge erwartet. Die Bundesregierung spricht | |
von einer abstrakten, aber hohen Gefahr. Ist das Land auf solch ein | |
Szenario vorbereitet? | |
Eher nicht, und es ist auch schwer, sich darauf vorzubereiten. Aber ich | |
finde das bisherige Vorgehen der Bundesregierung gar nicht so schlecht. Sie | |
verschweigt die Gefahr nicht, aber sie dramatisiert die Lage nicht | |
übermäßig. Und sie reagiert insofern adäquat, als sie etwa die mehreren | |
Hundert Syrienrückkehrer beobachten lässt. Ich denke, dass das ein durchaus | |
vernünftiger Weg ist. | |
Was wird passieren, wenn bei uns in Deutschland tatsächlich ein Anschlag | |
verübt wird? | |
Ich glaube, es gäbe ähnliche Reaktionen wie jetzt in Brüssel. Es gäbe | |
Trauer und die Diskussion, ob die Taten zu verhindern gewesen wären. Man | |
kann auch davon ausgehen, dass die AfD nach einem Anschlag weiter gestärkt | |
würde, weil sich viele dann nach einfachen Antworten und der alten | |
Sicherheit sehnen werden. Insgesamt bleibe ich gleichwohl optimistisch. Ich | |
halte unsere Gesellschaft trotz aller Zweifel für einigermaßen robust, auch | |
im europäischen Maßstab. Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten auf | |
Terrorbedrohungen eher vorsichtig reagiert – und im Falle des | |
rechtsextremen NSU-Terrors die Bedrohungen sogar eindeutig verdrängt. | |
Derart verdrängende Reaktionen wird es bei einem islamistischen Anschlag | |
sicherlich nicht geben. Aber ich sehe keine Anzeichen, dass in solch einem | |
Szenario Hysterie ausbräche. | |
29 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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