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# taz.de -- Spurensuche nach Brüssel-Anschlägen: Warum gerade Molenbeek?
> Die meisten Attentäter von Brüssel und Paris haben marokkanische Wurzeln.
> Viele lebten in Molenbeek. Was lief bei ihrer Integration falsch?
Bild: Wird in den Medien als „Dschihadistennest“ bezeichnet: Brüssels Mole…
BRÜSSEL taz | Seit den Anschlägen vom 22. März stürzen sich die Medien
wieder auf Molenbeek. Und obwohl die Bewohner des Brüsseler Stadtteils, in
dem die größte marokkanischstämmige Gemeinschaft der belgischen Hauptstadt
lebt, ihren Unmut über die Stigmatisierung ihres Bezirks deutlich äußern:
Die Bezeichnung „Dschihadistennest“ ist längst fest in der Medienlandschaft
verankert.
Das ist kein Wunder: Fast alle Selbstmordattentäter und mutmaßlichen
Komplizen im Umfeld der Anschläge von Brüssel und Paris sind
marokkanischstämmige Einwanderer der zweiten Generation. Und die meisten
von ihnen stammen aus Molenbeek, wie die in die Pariser Anschläge
verwickelten Brüder Salah und Brahim Abdeslam, der tote Chef des Pariser
Terrorkommandos, Abdelhamid Abaaoud, die Brüder Ibrahim und Khalid El
Bakraoui, die sich jetzt in Brüssel in die Luft sprengten.
Ebenfalls aus Molenbeek stammen Abdetassar Dahmane, einer der Mörder des
afghanischen Warlords Massud im September 2001, Hassan el Haski, einer der
Attentäter von Madrid 2004 und die drei Islamisten, die wegen Beteiligung
an Anschlägen der islamistischen Shabaab-Miliz in Somalia 2011 verurteilt
wurden. Viele von ihnen kannte die Polizei schon vor ihrer Konversion zum
radikalen Islamismus, meist im Zusammenhang mit Drogen. Und: Viele genossen
zumindest das Verständnis ihres Umfelds.
Von den etwas über eine Million Einwohnern der Region Brüssel sind 13
Prozent marokkanischen Ursprungs, 4 Prozent stammen aus der Türkei. In
einigen Gemeinden ist der Anteil von Muslimen sehr viel höher als im
Schnitt: 38,5 Prozent in Scharbeek, 39,3 in Molenbeek, ja gar 49,3 in
Saint-Josse-ten-Noode.
## Kaum mit belgischer Gesellschaft verbunden
Eine besondere parteipolitische Bindung haben die Einwanderer nicht, wohl
aber eine kommunitaristische: Im Wahlkampf prangen an den Schaufenstern der
türkischen, kongolesischen und marokkanischen Läden Kandidaten aller
Parteien – aber immer nur aus der jeweiligen Gemeinschaft. Politische
Diskussion findet fast nur innerhalb der jeweiligen Gruppe statt – so wie
im zwischen Wallonen, Flamen und Deutschen geteilten Belgien insgesamt.
Der Islam spielt dabei keine übergreifende vereinigende Rolle, der Hang zum
Dschihadismus beschränkt sich auf die Belgo-Marokkaner. Laut Experten sind
die Mehrheit der 800 Belgier, die sich in Syrien und Irak dem IS und
anderen islamistischen Gruppen angeschlossen haben, marokkanischer
Abstammung. Sie wurden vom Netzwerk Sharia4Belgium in Antwerpen rekrutiert,
von Khalid Zerkani in Molenbeek oder eben über das Internet, was man auf
Brüssels Straßen „Scheich Google“ nennt.
Belgo-Marokkaner sind einer Untersuchung der Freien Universität Brüssel
(ULB) zufolge viel weniger mit der belgischen Gesellschaft verbunden als
etwa Belgo-Türken. Paradoxerweise sind die in Belgien Geborenen noch
weniger integriert als die Zuwanderer: Ihre Teilnahme am Arbeitsmarkt, so
die vom Königshaus finanzierte Studie, ist geringer, ihre Beteiligung am
politischen Leben ebenso; sie stimmen in Umfragen weniger den Werten der
Demokratie zu, sie fühlen sich stärker diskriminiert und haben weniger
multikulturelle Freundeskreise. Eine andere Studie der Katholischen
Universität Leuven bestätigt, dass Angehörige der marokkanischstämmigen
Gemeinschaft in Antwerpen und Brüssel mehr Diskriminierung erfahren als
türkischstämmige.
Das allein erklärt nicht, warum Molenbeek eine Art rechtsfreier Raum
geworden ist. Der französische Maghreb-Historiker Pierre Vermeren von der
Pariser Sorbonne weist aber darauf hin, dass die meisten Marokkaner
Belgiens oder ihre Vorfahren aus der Bergregion Rif im Norden des Landes an
der Mittelmeerküste stammen. Das gilt auch für die Abdeslam-Brüder oder
Abdelhamid Abaaoud.
## „Mangelnde Entschlossenheit“ der Politik
Der Rif, so Vermeren, ist eine von jeher vernachlässigte, in sich gekehrte
Region, die immer wieder heftige Repression erlitten hat – in der
Kolonialzeit der 1920er Jahre wie auch nach der Unabhängigkeit Marokkos.
König Hassan II. ließ dort Napalm einsetzen, Tausende Zivilisten sind
gestorben, und der König selbst traute sich nie dorthin. Zudem ließ der
König die „Rifains“ gewähren, als sie ihre Parallelökonomie des
Haschischexports („Kif“) aus Marokko nach Europa ausbauten und darin das
Monopol errangen, organisiert in mafiaähnlichen Clanstrukturen ähnlich wie
auf Sizilien.
Die Rifains kultivieren eine Identität als Marginalisierte, als Rebellen
gegen jede Staatsmacht. Es ist, so schlussfolgert Vermeren, wenig
verwunderlich, dass sie all das auch in Belgien tun. Auf der Jagd nach
Islamisten kollaboriert die belgische Polizei weniger eng mit der von
Marokko – die von den „Rifains“ als Feind betrachtet wird – als die
Frankreichs, und Belgien hat weniger arabophone Agenten rekrutiert, um in
Erfahrung zu bringen, was sich in dieser Gemeinschaft tut. Das wird ihr
jetzt zum Vorwurf gemacht.
Die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat in Belgien
Empörung erregt mit der Bemerkung, Salah Abdeslam sei nach den Pariser
Anschlägen in Molenbeek „zweifellos geschützt“ gewesen. Frankreichs
sozialistischer Finanzminister Michel Sapin bezichtigte Belgiens politische
Klasse der „Naivität“ und der „mangelnden Entschlossenheit“, weil sie …
Molenbeek das Entstehen einer „Bastion des Islamismus“ zugelassen habe.
Belgiens Sozialisten – sie sind, anders als in Frankreich, in der
Opposition – lassen diese Kritik nicht gelten. „Das ist unanständig
gegenüber einem Volk, das leidet“, schimpft die Ex-Justizministerin und
sozialistische Fraktionsführerin im belgischen Parlament, Laurette
Onkelinx. „Wir brauchen Solidarität, keine Lektionen!“
Um diesen sozialistischen Bruderzwist zu verstehen, muss man wissen, dass
Molenbeek von 1983 bis 2012 einen sozialistischen Bürgermeister hatte,
Philippe Moureaux, verheiratet mit der jungen Marokkanerin Latifa Benaicha.
„Niemand verkennt die immense Verantwortung von Moureaux“, sagt Belgiens
liberaler Premierminister Charles Michel im Fernsehen kurz vor den
Anschlägen. Ein Bürgermeister sollte seine Bürger kennen. Moureaux kannte
die Familie Abdeslam: Er stellte einst Mohammed Abdeslam als
Gemeindeangestellten ein. Klar, dass auch Belgiens populistische Rechte
diesen Streit ausschlachtet.
## Die Rekrutierung findet im Internet statt
Bart De Wever, Chef der größten flämischen Koalitionspartei Nieuwe Vlaamse
Alliantie und charismatischer Bürgermeister von Antwerpen, erklärte am Tag
nach den Anschlägen, er sei empört darüber, dass „Leute, die hier geboren
sind, um die man sich hier ihr ganzes Leben gekümmert hat, besser als
irgendwo sonst auf der Welt, zu solchen Taten fähig sind“ und „oft die
Unterstützung ihrer Gemeinschaft“ hätten. In Reaktion sagte die
Kovorsitzende der Grünen, Zakia Khattabi, die Terroristen würden nicht von
ihrer „Gemeinschaft“ geschützt, sondern von ihren kriminellen Milieus. De
Wever spiele das Spiel des „Islamischen Staates“, „der sich an die Jugend
wendet, indem er ihnen weismacht, dass sie nicht zu ihrem Land gehören“.
Der Vorwurf, die Politik habe zu wenig gegen die Radikalisierung der jungen
Marokkaner der zweiten Generation getan, wird aber auch in der
marokkanischen Gemeinschaft selbst erhoben. Auch hier sind Belgiens
Sozialisten Ziel der Kritik. Deren Ex-Parlamentsabgeordnete Sfia Bouarfa
sagt, sie sei beschimpft worden, als sie innerhalb der Partei
fundamentalistische Tendenzen ansprechen wollte.
Schon vor zehn Jahren veröffentlichte die Journalistin Hinde Faini ein Buch
mit dem Titel „Undercover in Klein-Marokko“, in dem sie beschreibt, wie sie
sich als Soziologiestudentin ausgab, um die Welt der geheimen
salafistischen Gebetszirkel zu entdecken, verborgen in Hinterhöfen und
Autowerkstätten. Die Jugendlichen in Molenbeek, erläuterte sie jetzt in
einem TV-Interview, „wurden von Rekrutierern angesprochen, um Dschihad zu
führen. Es ging nicht nur darum, woanders zu kämpfen, sondern einen
islamischen Staat hier in Europa zu errichten“. Sie fuhr fort: „Die
potenziellen Terroristen rekrutieren sich aus verlorenen Jugendlichen. Es
sind wandelnde Zeitbomben, die jederzeit explodieren können.“
2006 warf man der Autorin für diese Sätze Islamophobie und
Sensationsjournalismus vor. Inzwischen sei die Radikalisierung diskreter
geworden, sagt Faini heute. Man sehe keine Buchläden voller Dschihad-Bücher
mehr, höre keine extremistischen Prediger mehr in den Moscheen. Die
Rekrutierung finde im Internet statt. „Damit wird es viel schwieriger,
gefährliches Verhalten zu identifizieren und dagegen vorzugehen“, folgert
Faini und fürchtet, man habe womöglich den geeigneten Zeitpunkt verpasst.
Auch die Belgo-Marokkaner haben derweil Opfer der Anschläge zu beklagen,
und viele von ihnen haben sich schon vorher gegen den Islamismus gewandt.
Der Präsident des Muslimischen Rates von Belgien, Salah Echallaoui, sagt:
„Angesichts von Jugendlichen, die sich auf die muslimische Gemeinschaft
beziehen, haben die muslimischen Führer eine schwere Verantwortung. Man
kann nicht leugnen, dass es ein großes theologisches Problem gibt. Es
existiert eine radikalisierte, gewalttätige und sektiererische
Interpretation des Islams. Wir müssen dem einen anderen Diskurs
entgegensetzen.“
28 Mar 2016
## AUTOREN
François Misser
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