# taz.de -- Debatte Rassismus: Schnell, schneller, Nazi-Vorwurf | |
> Das antirassistische Lager zeigt wenig Humanität, ist selbstgerecht und | |
> unfähig, Fehler zu verzeihen. Antifaschistisch ist das nicht. | |
Bild: Zuletzt wurden die Betreiber der Essener Tafel mit Nazi-Vorwürfen konfro… | |
Mich bedrückt eine Tonart, die mir im antirassistischen Freundeslager mehr | |
und mehr auffällt. Facebook durchzusehen wird mir zuwider, so viel | |
großspurige Notate. Woher rührt die Selbstgerechtigkeit? Niemand scheint | |
mehr geneigt, einen Fehler zu verzeihen, einen Irrtum zuzugestehen. Als ob | |
wir schon im Endkampf stünden – keiner verlasse den Schützengraben! Wer die | |
Organisatoren der Essener Tafel „Nazis“ nennt, dem könnten bald die Worte | |
ausgehen. | |
Dieser Tage fiel mir ein alter Text in die Hände, ich schrieb ihn vor mehr | |
als zwei Jahrzehnten für ein Handbuch Rechtsextremismus. „Die Themen der | |
Rechten sind die Themen der Mitte“, lautete die Überschrift; auch sonst | |
wirkte die Analyse der düsteren Mitt-90er erstaunlich aktuell. Phobien | |
gegen Fremde, Populismus, Abschmelzen der Stammwählerschaften. | |
In einer Gemeinde namens Ötisheim wählten wegen 30 Asylbewerbern 22 Prozent | |
die „Republikaner“. Mit Flüchtlingszahlen weit unterhalb von allem, was | |
heute als Obergrenze im Gespräch ist, war die Luft gleichwohl schwer von | |
rechtem Geraune. Der Vergleich mit damals hilft aber auch zu verstehen, was | |
heute anders ist und warum es so schwer ist, Klarheit zu gewinnen: | |
Deutschland ist zugleich fortschrittlicher und rückschrittlicher geworden. | |
## Der Neoliberalismus hat die Diversity gekapert | |
Da ist einerseits die Selbstanerkennung als Einwanderungsland, ein | |
epochaler Einschnitt, andererseits die Folgen einer neoliberalen | |
Verarmungspolitik. Die soziale Frage und die Obsession mit dem Islam: | |
beides hat seit den 90ern an Macht gewonnen, und aus beidem ließ sich | |
anhand der Flüchtlinge ein Gift mischen, dessen Wirksamkeit uns, wenn wir | |
ehrlich sind, immer noch verstört. Statt Vollmundigkeit ist heute vor allem | |
ein kühler Kopf vonnöten, denn die komplexe Lage schreibt ihre eigenen | |
irren Narrative. | |
Etwa so: Der Neoliberalismus hat einerseits sozial Abgehängte erschaffen, | |
die Vielfalt als Bedrängnis erleben – aber er hat zugleich die Diversity | |
gekapert, Unternehmen machen sich damit effizienter, Städte touristisch | |
attraktiver. Oder nehmen wir diese Szene: In einer Apotheke in Berlin-Mitte | |
wirbt beiläufig ein Gratis-Magazin mit „traumhaften Reisezielen für | |
Queers“, auf dem Cover ein schöner Mensch of colour, während draußen eine | |
„patriotische Frühjahrsoffensive“ vorbeimarschiert, mit Bierbauch, Fahne, | |
Hitlergruß. | |
Die rasanten Lebensläufe junger Leute, die – durch soziale Herkunft und | |
Bildung begünstigt – das neue weltoffene bunte Deutschland repräsentieren, | |
machen mich manchmal schwindlig. Mitte 20 – und kaum noch einzuholen. Heute | |
scheinen die einen beflügelt, verkörpern das Beste des Deutschseins von | |
morgen, während sich bei den flügellos Zurückbleibenden das Nachteiligste | |
unseres Deutschsein von gestern sammelt. | |
Es würde uns stärken und keineswegs schwächen, wenn wir anerkennen, dass es | |
nicht leicht ist, Vielfalt zu leben. Denn dies bedarf mitnichten nur | |
Toleranz; es bedarf einer Selbstveränderung, die nicht jeder will. Die | |
Wiener Autorin Isolde Charim fasst das in den klugen Satz: „Man kann heute | |
nicht mehr auf dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie früher.“ | |
Ich selbst spüre diese Herausforderung sehr deutlich, obwohl ich ein | |
weitgereister Mensch bin. Um wie viel mehr muss jemand ohne solch | |
privilegierte Welterfahrungen mit den Umbrüchen ringen? | |
„Man muss sich mit Menschen an einen Tisch setzen können, die mit Vielfalt | |
ein Problem haben. Dazu zählen auch eingesessene Migranten“, sagt der | |
Historiker Kijan Espahangizi. Und er warnt: Im Vergleich zur Schweiz, wo | |
der Deutsch-Iraner derzeit forscht, „bleibt die Rechte in Deutschland | |
bisher unter ihren Möglichkeiten“. Wer sich für das Spiel der öffentlichen | |
Polarisierung hergebe, spiele nach ihren Regeln. | |
## Solidarität buchstabieren | |
Noch kann von rechter Hegemonie keine Rede sein, weder auf der Buchmesse | |
noch in den Betrieben. Doch sind die Betriebsratswahlen in diesen Wochen | |
ein wichtiges Barometer, zumal in der Automobilindustrie, wo die Rechten | |
die Chancen einer völkischen Arbeiterpolitik testen. Dafür liegen bereit: | |
Leiharbeit, Globalisierung, Diesel, Handelskriege. | |
In der IG Metall hat fast ein Viertel der Mitglieder einen | |
Migrationshintergrund, eine halbe Million Beschäftigte – als erste | |
Großorganisation ist die Gewerkschaft statistisch ein Spiegel des neuen | |
Deutschlands. Doch scheint auch hier eine Strategie gegenüber dem | |
Rechtstrend in der Kollegenschaft zu fehlen. Die wachsende Zahl von AfDlern | |
unter den Mitgliedern wurde lange beschwiegen. Wie seltsam, dass es auch | |
der IG Metall, mit all ihrer Erfahrung und ihren immer noch guten | |
Gehältern, nicht gelingt, damit umzugehen. Sind die Verhältnisse wirklich | |
zu kompliziert, um Solidarität buchstabieren zu können? | |
In der ominösen Tafel-Debatte konnte die einzig richtige Antwort nur | |
lauten: Es ist genug für alle da! Warum können wir das nicht provokant und | |
mitreißend inszenieren? „100 Euro mehr sofort für alle Hartz-IV-Bezieher!�… | |
das würde der Zurückweisung rassistischer Lösungen viele neue Freunde | |
eintragen. | |
Das antirassistische Lager strahlt zu wenig von der Humanität und der | |
Inklusion aus, die es so oft einfordert. Es muss ja Gründe haben, dass uns | |
keine Mobilisierungen gelingen, nichts, was auch nur im Entferntesten etwas | |
von der Power der US- Frauenmärsche gegen Trump hätte. Und natürlich geht | |
es auch um Gefühle, große Gefühle, um das Bedürfnis, irgendwo | |
dazuzugehören, zu einem gesellschaftlichen Lager, das schön und attraktiv | |
ist, mit good vibrations. | |
Nicht aus Furchtsamkeit sollten wir genau überlegen, wen wir Nazi nennen. | |
Sondern weil es eine antifaschistische Tugend ist, zu differenzieren. Und | |
achtsam zu sein mit den eigenen Worten. Nicht der anderen wegen, nicht für | |
ein eventuelles Brückenbauen, sondern um unserer selbst willen. | |
Wir dürfen eine an Menschenfreundlichkeit orientierte Intellektualität | |
nicht den Zuständen opfern. | |
17 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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