# taz.de -- Debatte Hitze und Gerechtigkeit: Im postkolonialen Treibhaus | |
> Die Erderwärmung ist ein Gerechtigkeitsthema – die Täterschaft ist weiß. | |
> Wir brauchen unbedingt eine Vision vom Teilen im globalen Maßstab. | |
Bild: Hat schon etwas Alttestamentarisches: Hitze und verdorrte Wiesen, wie hie… | |
Viele spüren in diesem endlos langen Sommer erstmals die Angst. Es ist die | |
Angst, die Grundlagen unseres Lebens könnten sich auf eine Weise ändern, | |
die wir für die nähere Zukunft keineswegs in Betracht gezogen hatten. Mit | |
stummer Gewalt hat der [1][Klimawandel] unsere Vorgärten betreten, ein | |
ungebetener Gast, der sich das Recht auf dauerhaften Aufenthalt durch einen | |
Tritt gegen den Gartenzaun genommen hat. | |
Dass die Hitze gerade in diesem Sommer derart auf den Plan tritt, auf | |
unsere schlechten Pläne, hat etwas Alttestamentarisches. Als reckte sich | |
eine rächende Faust aus der Sonne, weil wir nicht dafür gesorgt haben, dass | |
sich die Wasser des Meeres für Bedürftige teilten, und weil wir Seebrücken | |
nur aus luftigen Metaphern bauen. | |
Schlichter und glaubensfern formuliert: Dieser Sommer hält eine Botschaft | |
bereit, nicht nur in Gestalt eines ökologischen Alarmsignals, sondern als | |
eine Hilfe zur Selbsterkenntnis. Zur Erkenntnis, was wir sind und haben, | |
und wie wir sein müssten, um es zu bewahren. | |
Niemand hungert in diesem Land, wenn tonnenweise toter Fisch aus Gewässern | |
geschaufelt wird. Niemanden dürstet, wenn Seen in sich zusammensacken, und | |
keine Familie wird auseinandergerissen, wenn Wälder brennen. Wirklich | |
knapp werden nur die Plätze in Freibädern, und deswegen lagen manchen | |
bereits die Nerven blank. Polizei wurde gerufen, um etwas zu bekämpfen, was | |
wir vielleicht später, wenn es richtig ernst wird, Hitze-Riots nennen | |
werden. | |
In einem überfüllten Bus, dessen Lüftung nicht funktionierte, waren die | |
erregt Schwitzenden kaum mehr bereit, gegenüber den Schwächsten Rücksicht | |
walten zu lassen; jeder war sich nur noch selbst der Nächste. Eine solche | |
Szene enthält einen mikroskopischen Teil der Botschaft dieses Sommers, und | |
ich würde mir wünschen, dass viele sie verstehen. (Man muss dafür gar nicht | |
so derb sein und den Bus der fehlenden Rücksicht mit einem Schlauchboot auf | |
hoher See vergleichen.) | |
Es bedarf nur weniger Grade permanenter Erwärmung, und alles, was wir als | |
haltbar und belastbar erachten, kann im Nu zerschellen – auch der | |
zivilisatorische Grund, auf dem wir zu stehen glauben. Wer sich in diesem | |
Sommer von der Angst um die Grundlagen unseres Lebens berühren lässt, mag | |
besser nachvollziehen können, wie es passiert, dass Menschen zu | |
Flüchtlingen werden, ohne die Kategorien nördlicher Weltbetrachtung | |
passgenau erfüllen zu können. Klimawandel kann ein Grund zur Flucht sein, | |
obwohl die Geflüchteten keinen Nachweis erbringen können, von der Sonne | |
individuell verfolgt zu werden. | |
Zwischen dem sogenannten Wirtschaftsflüchtling einerseits und dem | |
klassisch-politisch Verfolgten andererseits klafft etwas großes Namenloses: | |
all jenes kollektive Schicksal, das aus globalem Unrecht resultiert. | |
## Überschrittene Grenzen | |
Die Erderwärmung ist ein Gerechtigkeitsthema, denn es handelt sich hier | |
wohl vor allem um weiße Täterschaft – der Klimawandel hat eine unverkennbar | |
postkoloniale Note. Der Hinweis, was sich durch Chinas Aufstieg ändert, | |
kann nicht davon ablenken, dass für das bereits Geschehene die alten | |
Industriestaaten eine ungleich große Verantwortung tragen. | |
Wir haben schon lange die Grenze dessen überschritten, was uns zusteht. | |
Solange wir diesen Umstand nicht anerkennen und zur Grundlage aller | |
Überlegungen machen, wie wir mit den physischen, geografischen | |
Grenzübertritten anderer umgehen, werden wir keine rationale Haltung zur | |
Migration finden können. Man kann nicht oft genug unterstreichen, dass es | |
hier um Ratio geht, um das Anerkennen von Fakten und um die Konsequenzen | |
aus dieser Anerkennung. | |
Die gegenwärtige Konfrontation mit dem Rechtspopulismus ist unter diesem | |
Gesichtspunkt eine tragische Verschwendung von Zeit und Energie – der | |
Zwang, Umwege einzuschlagen, die wir uns objektiv nicht leisten können. Und | |
es ist ja kein Zufall, dass viele Rechtsautoritäre den Klimawandel ebenso | |
leugnen wie die Notwendigkeit einer zukunftstauglichen Migrationspolitik. | |
Sie versichern ihrer Klientel, es gäbe so etwas wie ein weißes Recht auf | |
Nicht-Zurkenntnisnahme des Offensichtlichen. | |
Wie wenig wir als eine nördliche oder westliche, jedenfalls wohlhabende | |
Gesellschaft auf der Höhe der globalen Herausforderung sind, beweisen die | |
disparaten emotionalen Erhitzungen dieser Tage: Der Jahrtausendsommer ist | |
unser Sommer der Debatte über den mangelnden Respekt untereinander. Denn um | |
nichts anderes handelt es sich beim Alltagsrassismus, wenn er die | |
gebildeten und arrivierten Migranten trifft, die sich nun in großer Zahl | |
bei #MeTwo äußern. Einem Teil der Bewohner unserer sich erwärmenden | |
Hemisphäre wird Respekt verweigert, weil sie keine Ureinwohner aus kalten, | |
grauen Vorzeiten sind. | |
## Begrenzte Reichweite | |
Wer hierzulande als eine Person of color gegen Rassismus kämpft, mag leicht | |
vergessen, dass er oder sie aufgrund der Beteiligung an der hiesigen | |
Wirtschafts- und Lebensweise zugleich Teil einer globalen weißen | |
Täterschaft ist. Wer die Dinge derart zusammendenkt, sieht: Reinweg aus | |
individueller Betroffenheit (oder Opferschaft) Politik abzuleiten, ist ein | |
Ansatz von begrenzter Reichweite. | |
Wir brauchen eine Vision von Respekt und von Teilen im globalen Maßstab; es | |
muss die Vision eines machbaren Teilens sein, das prinzipiell akzeptabel | |
ist – was heißt: Jene, die sich dennoch widersetzen, sollten möglichst | |
wenige Gründe finden, in Faschismus zu verfallen. Nur durch ein solches | |
Teilen finden wir Antworten auf die Angst, die in diesen Monaten ihre Hand | |
auf unsere Schultern gelegt hat. | |
Wenn es gelänge, eine Vision globaler Gerechtigkeit mit dem Kampf gegen | |
einheimische Armut und deutsches Lohndumping zu verbinden, wäre dies eine | |
Bewegung des „Aufstehens“ auf der Höhe der Zeit. Der Versuch, Gerechtigkeit | |
national zu definieren, kann nicht gelingen. Das könnte man am Ende dieses | |
Sommers wirklich wissen. | |
10 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/klima-klipppunkte/-/id=66… | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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