# taz.de -- Debatte Reden über Antisemitismus: Tragische Bindung | |
> Als Nachfahren der Judenmörder haben wir eine besondere Beziehung zu | |
> Israel. Das Spannungsverhältnis müssen wir aushalten. | |
Bild: Ein Mahnmal allein reicht nicht – über Antisemitismus muss auch gespro… | |
Manche scheinen zu vergessen, dass es in diesem Land einen [1][deutschen | |
Antisemitismus] gibt, der keinen Israelbezug braucht. Er blüht als | |
einheimisches Gewächs im reichen, satten Land der Täter, in engster | |
Nachbarschaft mit Gedenkstätten und Stolpersteinen aus Messing – ohne einen | |
Funken Empathie. | |
Und just als dieses Milieu neue Bühnen betritt, in Parlamente zieht, sich | |
auf Staatskosten verbreiten darf, geschieht eine eigentümliche doppelte | |
Verlagerung. [2][Wir schieben Flüchtlingen und Einwanderern den | |
Antisemitismus in die Schuhe] und [3][setzen uns eine Kippa auf:] Wir sind | |
die Guten! | |
Etwas leiser und bescheidener könnten wir uns diese Frage stellen: Werden | |
im deutschen Alltag, in der deutschen Politik Lehren aus der Schoah so | |
gelebt, dass ein Ankommender sie auf Anhieb begreifen und womöglich | |
überzeugend finden kann? | |
Dieser Tage wird ein sogenannter Erinnerungskonsens bemüht, gegen den | |
niemand verstoßen dürfe. Als ob das nicht längst geschähe! Und auch die | |
Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Israel wirkt wenig überzeugend, | |
weil sie in Formelhaftigkeit erstickt – sei es aus Unsicherheit, aus | |
Heuchelei oder aus Gleichgültigkeit. | |
Israel lässt sich nicht von der Schoah lösen. Das bindet uns Deutsche an | |
Israel, und wir müssen das Spannungsverhältnis, das daraus resultiert, | |
aushalten. Das Wort Dilemma ist zu leichtgewichtig, um diese Spannung zu | |
beschreiben. Eher ist unsere Bindung an Israel tragisch, und sie wird es so | |
lange bleiben, wie dieser Staat durch seine Besatzungspolitik das | |
Völkerrecht auf eine Weise verletzt, die üblicherweise die Forderung nach | |
Sanktionen nach sich ziehen würde und nicht die Versicherung von | |
Solidarität. | |
## Einwanderungsgesellschaft Deutschland ist einzigartig | |
Als Herkunftsdeutsche, als Nachfahren der Judenmörder haben wir eine | |
historisch begründete Beziehung zu Israel, die nicht nur einzigartig ist | |
(weil der Holocaust einzigartig war), sondern unweigerlich auch | |
widersprüchlich und in gewissem Maße jenseits üblicher Logik angesiedelt. | |
Dies Außenstehenden zu erklären, ist nicht leicht, und außenstehend sind | |
zunächst einmal alle, die nicht Nachfahren der Täter sind. Wer will | |
freiwillig einer derart widersprüchlichen und tragischen Beziehung | |
beitreten? | |
Als Einwanderungsgesellschaft ist Deutschland folglich ebenfalls | |
einzigartig – nämlich einzigartig schwierig. Dass in jüngster Zeit viele | |
kamen, die Israel als Feind betrachten, verschärft das Problem. Doch auch | |
für einen Vietnamesen oder eine Inderin ist Deutschland nicht wie Kanada. | |
Ein Bekenntnis zu Israel, das so tut, als gebe es dort keine gravierenden | |
Menschenrechtsverletzungen, ist wenig glaubwürdig. Wir gewinnen an | |
Glaubwürdigkeit, indem wir öffentlich darüber sprechen, welchen Ballast die | |
israelische Regierungspolitik auf unsere historisch bedingte Verpflichtung | |
lädt und wie traurig oder wütend uns das macht. | |
Wir brauchen ein neues Sprechen über Israel, habe ich an dieser Stelle vor | |
drei Jahren geschrieben. „Neue Räume des öffentlichen Denkens und Sprechens | |
über Israel müssen in Deutschland von Juden und Nichtjuden gemeinsam | |
geschaffen werden.“ | |
## Das Existenzrecht anerkennen | |
Dies würde bedeuten, sich von der Ritualsprache zu emanzipieren, wie sie in | |
den offiziellen Apparaten üblich ist und gerade aus einer | |
Bundestagsresolution zu Israels 70-jährigem Bestehen tönt. Für den | |
politischen Apparat erfüllt dieses Sprechen eine diplomatische Funktion: So | |
kann Dissens markiert und zugleich vernebelt werden. Am Beispiel Iran: | |
Deutschland hat den Nuklearvertrag mit ausgehandelt, den Israels Premier | |
Netanjahu mit aller Macht verhindern wollte. | |
Deutschland möchte das Abkommen retten, während Netanjahu jubeln wird, wenn | |
Donald Trump es am 12. Mai aufkündigt. Nimmt man noch die Eröffnung der | |
US-Botschaft in Jerusalem am 14. Mai hinzu, so markieren die kommenden Tage | |
ein Desaster für die Perspektive einer friedlichen Nahostpolitik. Nur | |
gesagt wird es so nicht. | |
Eindeutiger spricht der Bundestag an dieser Stelle: „Wer in Deutschland | |
leben will, und sei es nur vorübergehend, muss das Existenzrecht Israels | |
anerkennen.“ Als ließe sich Einsicht erzwingen oder verordnen. Dem | |
Beschluss hat übrigens auch die AfD zugestimmt; [4][Mahnmale für die Opfer | |
zu schmähen] geht zusammen mit proisraelischen Floskeln. | |
Aus dem Holocaust folgt, dass es eine sichere Heimstatt für Juden geben | |
muss; einen Staat, der ihnen die Option auf Zuflucht offenhält. Allerdings | |
sagte der israelische Schriftsteller David Grossmann zum Thema Heimstatt | |
kürzlich Folgendes: „Wenn Israel ein anderes Volk erobert und seit 51 | |
Jahren unterdrückt hält, ein Apartheidsregime in den besetzten Gebieten | |
schafft, dann ist es viel weniger geworden als ein Zuhause. […] Israel | |
versetzt uns in Schmerz, weil es nicht das Zuhause ist, das wir uns | |
wünschen. […] Solange die Palästinenser kein Zuhause haben, werden auch die | |
Israelis keines haben.“ | |
Dies stimmt auch in einem konkreten numerischen Sinne: Die Zahl der Juden | |
und der Araber, die heute unter israelischer Kontrolle auf dem Gebiet | |
zwischen Mittelmeer und Jordan leben, ist mit je 6,5 Millionen annähernd | |
gleich, so gab es kürzlich das Militär gegenüber der Knesset bekannt. Ohne | |
eine Zweistaatenlösung wird Israel zu einem palästinensischen Staat mit | |
jüdischer Minderheit (oder zu einer jüdischen Diktatur.) Am Zwang zu | |
teilen, kann keine Siedlungspolitik etwas ändern. | |
Als Einwanderungsgesellschaft müssen wir billigen, dass es zum Thema Israel | |
ein jüdisches und ein palästinensisches Narrativ in unserer Mitte gibt. | |
Dies ist keinesfalls mit Toleranz gegenüber Antisemitismus gleichzusetzen. | |
Gewiss: Die Scheidelinie zu definieren, ist schwierig und wird nicht immer | |
gut gelingen. Doch beschäftigen sich damit zum Glück bereits tüchtige | |
Aufklärer, die selbst als Migranten kamen. Wenn der völkische | |
Antisemitismus ebenso viel Aufmerksamkeit und Widerspruch erführe wie der | |
eingewanderte, wäre die Erregung dieser Tage sogar von Nutzen. | |
3 May 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5501565 | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus-merkel-beklagt-judenhass… | |
[3] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5497496 | |
[4] /Bjoern-Hoecke-und-das-Holocaust-Mahnmal/!5376704 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Shoa | |
Migration | |
Stolpersteine | |
Echo | |
Kippa | |
Antisemitismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Hitze und Gerechtigkeit: Im postkolonialen Treibhaus | |
Die Erderwärmung ist ein Gerechtigkeitsthema – die Täterschaft ist weiß. | |
Wir brauchen unbedingt eine Vision vom Teilen im globalen Maßstab. | |
SchülerInnen verlegen Stolperstein: Einfach mal wieder stehenbleiben | |
SchülerInnen der Freien Waldorfschule Kreuzberg haben das Schicksal einer | |
jüdischen Familie recherchiert. Ein kleiner Ortstermin. | |
Nach Antisemitismus-Kritik an Rappern: Einladung in KZ-Gedenkstätte | |
Holocaust-Überlebende legen den Rappern einen Besuch in der Gedenkstätte | |
Auschwitz-Birkenau nahe. Farid Bang und Kollegah könnten auf diesem Weg ein | |
Signal senden. | |
Soli-Aktion gegen Antisemitismus: 2.500 BerlinerInnen tragen Kippa | |
Zur Soli-Demo vor der Jüdischen Gemeinde in Berlin kommen rund 2.500 | |
Menschen. Vertreter der Gemeinde mahnen, Judenhass nicht kleinzureden. | |
Pädagoge über Hass auf Juden: „Antisemitismus ist ein Wissensdefizit“ | |
Woher kommt der Judenhass arabischer Geflüchteter? Der Museumspädagoge | |
Samuel Schidem versucht, sie zu kritischem Denken zu bringen. |