| # taz.de -- Pädagoge über Hass auf Juden: „Antisemitismus ist ein Wissensde… | |
| > Woher kommt der Judenhass arabischer Geflüchteter? Der Museumspädagoge | |
| > Samuel Schidem versucht, sie zu kritischem Denken zu bringen. | |
| Bild: Am Mittwoch ruft die Jüdische Gemeinde in Berlin zum Tragen einer Kippa … | |
| taz: Herr Schidem, Sie arbeiten mit arabischstämmigen Jugendlichen in der | |
| Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors. Warum? | |
| Samuel Schidem: Der Berliner Senat hat im letzten Jahr Mittel zur Verfügung | |
| gestellt, um mit geflüchteten Jugendlichen zu arbeiten. Für diese sollte | |
| ich ein Bildungsangebot zu den Themen Demokratie und Antisemitismus | |
| entwickeln. Ich wollte ein Angebot nicht nur für, sondern mit Geflüchteten. | |
| Denn wir haben verstanden, was viele andere Einrichtungen nicht so gut | |
| verstanden haben, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, eine ganz | |
| andere Geschichte haben als das hier vorherrschende Geschichtsbild. | |
| Zum Beispiel? | |
| Mir fällt ein junger Mann ein, der aus dem Iran kommt. Dort war er | |
| Journalist und schrieb über die Holocaustleugnung. Er hat deshalb 13 Jahre | |
| im iranischen Staatsgefängnis verbracht. Wie kann ich diesem Menschen, der | |
| selbst in einer Diktatur gelebt hat, die hiesige Geschichte vermitteln, die | |
| für ihn völlig abstrakt ist? Wie kann ich Brücken schaffen? Bezüge | |
| herstellen? Ich vergleiche dabei Geschichte, ich mache sie aber nicht | |
| gleich. Ich setzte nicht die Nazidiktatur mit heutigen Diktaturen gleich. | |
| Diese Linie überschreite ich nicht. | |
| Wie geht das: Geschichte vergleichen ohne gleichzusetzen? | |
| Viele von den Leuten, die hier in Deutschland ihre Fluchtgeschichte | |
| aufarbeiten, haben einen Familienteil, der vielleicht gerade in der Türkei | |
| oder sonst wo sitzt – die Familie ist verstreut über den Erdball. Noch mal: | |
| Es ist keine Gleichstellung. Aber dass Familien zerrissen werden, | |
| Familienmitglieder umkommen oder ausgelöscht werden, das ist auch der | |
| Erfahrungshorizont der jüdischen Minderheit. | |
| Diktatur und Krieg zerstören Familien. | |
| Ja, hier setze ich an und wähle einen individuellen Zugang, auf die | |
| Biografie, die die Leute mitbringen, abgestimmt. Wir haben zum Beispiel in | |
| der Topographie des Terrors das historische Hausgefängnis. Die Biografien | |
| der damaligen Insassen löste bei den Teilnehmern sofort eine Faszination | |
| für deren Geschichten aus. Den gleichen Ansatz kann man wählen mit einer | |
| Gedenkstätte für Zwangsarbeit oder der Stasigedenkstätte in | |
| Hohenschönhausen oder die Berliner Mauer. Es gibt in Berlin so viel | |
| Geschichte … | |
| Ist das der Schlüssel: Geschichte emotional erlebbar machen? | |
| Nein, von diesem Begriff bin ich kein Fan. Das Emotionale haben sie schon | |
| durchgemacht auf ihrer Flucht. Ich bringe sie nur dazu, mit | |
| museumspädagogischen Mitteln, zu Zeitzeugen ihrer eigenen Biografie zu | |
| werden. Das ist ein Prozess. Das Thema Antisemitismus in all seinen | |
| geschichtlichen Facetten finde ich dabei unverzichtbar. | |
| Erklären Sie das genauer. | |
| Antisemitismus ist nicht nur Hass, sondern auch ein Defizit, ein | |
| Wissensdefizit. Ein Wissen, das die geflüchteten Jugendlichen nicht haben. | |
| Wir haben kurdische Iraner, syrische Christen, sunnitische Syrer. Mein | |
| Ansatz ist nicht der, dass ich sie politisch umstimmen möchte. Mein Ziel | |
| ist, dass sie selbst kritisches Denken entwickeln. Wenn ich das erreiche, | |
| dann setzt sich ein Prozess fort. Und dass man anfängt, Fragen zu stellen | |
| zum eigenen Narrativ, zum Narrativ der Großeltern, zum nationalen und | |
| religiösen Narrativ – das ist toll. Wenn sie kritisches Denken lernen, muss | |
| ich deren politische Meinung nicht verändern wollen. Das entwickelt sich | |
| dann vielleicht von ganz allein. | |
| Wie halten Sie den Spagat aus? Als in Israel aufgewachsener Druse kennen | |
| und verstehen Sie ja Araber wie Juden gleichermaßen. | |
| Mein Ansatz ist, dass ich keine Sympathie oder Empathie für eine bestimmte | |
| Minderheit habe. Ich bin keiner ethnischen Gruppe und keinem Staat oder | |
| irgendeiner Nation verpflichtet, sondern der Verfassung und der Demokratie | |
| und der universellen Lehre. Ich finde es absurd, von Leuten, die zum | |
| Beispiel Palästinenser sind, zu erwarten, dass sie zum Thema Israel | |
| plötzlich ihre Meinung ändern. Von heute auf morgen. Weil sie zum Beispiel | |
| ein Konzentrationslager besucht haben. Das erwarte ich nicht. So eine Idee | |
| kann von Politikern kommen, nicht von Pädagogen. | |
| Seit wann arbeiten Sie mit den Teilnehmern? | |
| Seit März 2017 durchgängig, anfangs drei- bis viermal im Monat, jetzt, nach | |
| veränderter Finanzierung, nur noch zweimal im Monat. | |
| Sehen Sie Erfolge? | |
| Ich kann deutliche Veränderungen erkennen. Wenn die Teilnehmer selbst | |
| sagen: Wir müssen was tun! Okay, frage ich dann: Was denn? Der eine sagt, | |
| wir können doch auch teilnehmen an der Aktion „Berlin trägt Kippa“ und ei… | |
| Kippa tragen – ich würde es tun. Das ist doch toll. | |
| Aber es gibt sicher auch Rückschläge? | |
| Ja, auch. Die stellen sich ein, weil Menschen Emotionen haben. Die jungen | |
| Leute sind viel in Social Media unterwegs und es ist schwer, sie dort zu | |
| erreichen. Ich bin aber froh, dass wir eine Atmosphäre des Vertrauens | |
| geschaffen haben. Alles ist erlaubt. Ich urteile nicht, weil sie etwas | |
| antisemitisch formuliert haben. Denn ich weiß: Das haben sie in ihrer | |
| Heimat unter den Bedingungen einer Diktatur, die Israel und die Juden | |
| hasst, gelernt. | |
| Letztlich bilden Sie Multiplikatoren aus. | |
| Richtig. Pädagogische Konzepte haben wir dafür genug. Aber wieso muss ein | |
| Druse aus Israel hier in Deutschland gerade in diesem Bereich tätig sein? | |
| Das ist absurd. Das ist vielleicht ein Kompliment für mich und meine | |
| Arbeit. Aber es ist ein Defizit und ein Armutszeugnis für die Bildung und | |
| die Art und Weise, wie man in Deutschland Menschen bildet. Diese Themen | |
| müssen befreit werden von Nationalismus, von nationalen Gefühlen, von | |
| Religion, von den christlich-jüdischen Zusammenhängen, von all dem. Die | |
| Bildung muss für alle zugänglich und universell werden. Wir brauchen mehr | |
| Brückenbauer. | |
| Gehen Sie Mittwoch selbst zur Aktion „Berlin trägt Kippa“? | |
| Ich halte nicht so viel von Aktionismus, ich glaube an Prozesse. Wissen | |
| Sie, was ich tragen würde, wenn ich hingehen würde? Einen Zylinder wie ihn | |
| die Juden in Deutschland in Zeiten der Aufklärung trugen. Ich bin den | |
| jüdischen Traditionen sehr verbunden. | |
| 24 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
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