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# taz.de -- Folgen eines Amoklaufs vor 30 Jahren: Jagdszenen aus Oberbayern
> Vor dreißig Jahren tötete ein psychisch kranker Mann im bayerischen
> Dorfen mehrere Menschen. Schuld daran waren für viele „die Anderen“.
Bild: Ort des Amoklaufes am 4. März 1988: Polizeiwache in Dorfen
Der Amoklauf im oberbayerischen Dorfen war für Anton Renner „das
Schlimmste“, was er in seiner beruflichen Laufbahn jemals erlebt hat. Am 4.
März 1988, vor 30 Jahren, wohnte der Journalist und Rettungssanitäter
gegenüber der Polizeiwache in der Kleinstadt drei Stunden östlich von
München und hörte Schüsse.
„Da lagen lauter blutende Menschen … Am Nachbarhaus ist ein angeschossener
Polizist gelegen, der Alfred Maier, ein sehr guter Freund und Nachbar. Er
war sehr schwer verletzt. Zusammen mit der Nachbarin und anderen Sanitätern
habe ich versucht, die blutenden Wunden irgendwie zu stillen. Aber er war
so schwer verletzt … Seine letzten Worte waren: ‚Es geht zu Ende.‘“
Alfred Maier stirbt mit 46 Jahren. Auch seine Kollegen Karl Heinz Loibl
(47) und Robert Gebler (27) werden getötet. Der Täter, Slobodan Stefanovic
(37), wird von Polizeihauptmeister Frank K., der auf den Notruf der
Kollegen hin eintrifft, mit einer Maschinenpistole getroffen und erliegt
vier Tage später seinen schweren Verletzungen.
Slobodan Stefanovic stammte aus dem serbischen Teil der ehemaligen
Volksrepublik Jugoslawien. Seit 16 Jahren lebte er mit einer
Aufenthaltserlaubnis in Dorfen, wohnte zur Untermiete bei einer türkischen
Familie. „Er war immer sehr nett, korrekt gekleidet und sprach sehr gut
deutsch“, sagt seine Nachbarin Hedwig G. (77). Zwei Tage vor seinem
Amoklauf schenkte er Friseurinnen im Nachbarhaus Nelken.
Und doch soll er im Klub-Gasthaus des Schützenvereins meist alleine am
Tisch gesessen und zu schießen angefangen haben, wenn die anderen noch beim
Bier saßen. Die Wirtin fordert ihn einmal auf: „Leisten Sie doch Ihren
Schützenbrüdern Gesellschaft.“ „Ich habe Knoblauch gegessen“, sagt er d…
„das mögen viele nicht.“
## Sieben Waffen, auch Großkaliber
Stefanovic ist häufig auf Montage, hält sich lediglich vier Monate im Jahr
in Dorfen auf. In Ludwigshafen ist er einem Schützenverein beigetreten, wo
ihm ausgerechnet Polizisten das Schießen beibringen. Das Landratsamt Erding
erteilt ihm 1984 eine Waffenbesitzkarte. Diese erlaubt es ihm, Waffen zu
besitzen und sie verschlossen von seiner Wohnung in den Schießstand und
zurück zu transportieren. Er legt sich sieben Waffen zu, darunter auch
einige großkalibrige, samt 2.000 Schuss Munition.
Im Oktober 1987 beantragt er beim Landratsamt Erding einen Waffenschein, um
die Waffen immer legal mit sich führen zu dürfen. In einem elfseitigen
Brief begründet er, warum er die Waffen benötigt. Er fühlt sich laut dem
damaligen Staatssekretär Peter Gauweiler (CSU) verfolgt „von Hubschraubern,
von der RAF und von finsteren Mächten“. Aber auch von der CIA, dem KGB und
Boxweltmeister Mohammed Ali. Polizisten seien ebenfalls hinter ihm her.
Der hinzugezogene Amtsarzt des Gesundheitsamtes Erding stellt reichlich
spät „expansive Wahnvorstellungen“ fest, weil Stefanovic dem Termin zum
freiwilligen psychiatrischen Sprechtag zweimal nicht nachgekommen war. Er
kommt aber zu dem Ergebnis, dass Stefanovic nicht in einer „akuten
psychotischen Art so erkrankt ist, dass etwa ein Handlungsbedarf bestand“.
Knapp fünf Monate, nachdem er den Antrag auf einen Waffenschein gestellt
hat, wird ihm am Morgen des 4. März 1988 sein Waffenarsenal von zwei
Polizeibeamten abgenommen. Er geht auf die Wache, brüllt: „Gebt mir meine
Waffen zurück!“, schnappt sich einen auf dem Tisch liegenden Colt, der
zuvor bei ihm sichergestellt worden war und tötet die Polizisten Robert
Gebler und Karl Heinz Loibl.
## Erschütterung über die Grenzen des Dorfes hinaus
Dann greift er sich eine Schrotflinte und eine Magnum, beide ebenfalls aus
seinem Waffenarsenal, und schießt wild um sich, sogar auf die bald
eintreffenden Rettungssanitäter. Nur eine zufällig anwesende Frau wird
verschont. Bis heute hält die Polizei ihre Identität geheim.
Die Tat erschüttert nicht nur die Menschen vor Ort. Sie diente als eine der
Begründungen, warum Polizist*innen heute Waffen auf der Wache tragen.
Manche Dorfener, damals Kinder, erinnern sich noch, dass sie große Angst
verspürten. Im Zustand der Angst können wir flüchten, angreifen oder
erstarren, damit uns der oder die Angreifende nicht sieht. Wenn nun ein
„Fremder“, einer, der nicht dazugehört, „einen von uns“ angreift, ersc…
es für manche, als greife er alle an.
Verstärken Autoritäten das Gefühl der Andersartigkeit des Angreifers, wird
auch das Bedürfnis nach Verteidigung des „eigenen“ Territoriums potenziert.
Dann herrscht Krieg. Dann bläht sich Patriotismus auf, wird zu
Nationalismus und damit zu einer Waffe der Herrschenden.
Kurz nach der Tat stimmen Teile der Polizei und Politik Kriegsgeschrei an.
Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter Ingo Herrmann erklärt:
„Es ist völlig unverständlich, dass einem Ausländer in der Bundesrepublik
ein Waffenschein erteilt wurde.“
## Kriegsrhetorik und die CSU
Staatssekretär Peter Gauweiler fragt bei der Pressekonferenz nach der Tat,
„ob wir jeden Psychopathen im Land belassen müssen, bis ein Unglück
geschieht“. Die Aufenthaltsberechtigung hätte längst überprüft werden
müssen. Auch einen politischen Hintergrund wolle er nicht ausschließen. Der
damalige Innenminister August Lang (CSU) ordnet „eine umfassende
Untersuchung der waffenrechtlichen, ausländerrechtlichen und
unterbringungsrechtlichen Fragen“ an.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt dazu: „Seltsam muten freilich die
Stichworte an, die Gauweiler in dem Frage- und Antwortspiel fallen lässt.
‚Unterbringungsfrage, Aufenthaltssituation, Ausländergesetz‘. Gerade, als
ob man Jugoslawe sein müsste, um im Zustand geistiger
Unzurechnungsfähigkeit zur Waffe greifen zu können.“
CSU-Politiker*innen machen immer wieder durch (Kriegs-)Rhetorik von sich
reden. Wie 2011, als Horst Seehofer sich „bis zur letzten Patrone“ dagegen
wehren wollte, dass „wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme
bekommen“. Im Hinblick auf damals stellt sich die Frage, ob von den
Verfehlungen des Landratsamtes Erding abgelenkt werden sollte. Dauerte es
doch geschlagene fünf Monate vom ersten auffälligen Verhalten des
hochpsychotischen späteren Amokläufers bis zur Konfiszierung der sieben
Waffen und 2.000 Schuss Munition.
Weshalb ein hochrangiger, nicht namentlich genannter Polizeibeamter das
Vorgehen der Ämter gegenüber dem Dorfener Anzeiger scharf kritisierte: Er
sei entsetzt, wie der „Fall Stefanovic gelaufen ist beziehungsweise laufen
gelassen wurde“, spricht vom „Scheiß-Amtsschimmel“.
## Migrant*innen als „Möderschweine“
Der Erdinger Landrat Xaver Bauer (CSU) behauptet zwei Tage danach: „Wir
haben uns nichts vorzuwerfen (…) Die Beamten lagen instinktiv völlig
richtig.“ Oberstaatsanwalt Friedrich Bethke von der Staatsanwaltschaft
München II kündigt dagegen an, die Versäumnisse auf dem Verwaltungsweg zu
prüfen.
Meine Anfrage an die Oberstaatsanwaltschaft München zum Ergebnis blieb
unbeantwortet. Dass das Landratsamt nach wie vor etwas zu verbergen hat,
zeigt sich daran, dass die Einsicht in den elfseitigen Brief des späteren
Amokläufers immer noch verwehrt wird. Auch in geschwärzter Form oder unter
Aufsicht darf er nicht eingesehen werden.
Nach dem Amoklauf ließen Migrant*innen ihre Kinder nicht mehr auf die
Straße, weil sie und andere aus ihrer Community bespuckt und als
„Mörderschweine“ beschimpft wurden. Für viele Menschen in Dorfen war klar:
Einer von euch hat drei von uns getötet.
Wie sehr diese Logik präsent war, zeigte sich einen Monat später, im April
1988. Ein 20-jähriges NPD-Mitglied aus dem Nachbarort Isen, der sich
selbst als „Nazi“ bezeichnete und von den Medien als „Mister X“ titulie…
wurde, überfiel die Dorfener Sparkasse und forderte die Auslieferung von
„drei Türken, es dürfen auch Jugoslawen sein. Hauptsache Ausländer“.
Glücklicherweise konnte ihn der Sparkassendirektor Hans Flurl durch gutes
Zureden, Schnaps und Zigaretten zum Aufgeben bewegen.
## „Wir“ gegen „die Anderen“
Bürgermeister und Landratsamt erhielten Morddrohungen, weil sie zu
„ausländerfreundlich“ seien, vor Fremdenfeindlichkeit gewarnt und die
„üblen und abstoßenden Reaktionen“ verurteilt hatten.
Heute könnte man meinen, AfD und IS hätten einen Pakt geschlossen.
IS-Anschläge sollen das Zusammenleben zwischen Muslim*innen und
Nichtmuslim*innen stören. Jeder Anschlag forciert Ressentiments gegen
Muslime, was tendenziell Kreuzchen für die Rassist*innen der AfD generiert.
Daraus resultieren noch mehr Anschläge und Übergriffe auf Geflüchtete und
Muslime. Migrant*innen und Muslime fühlen sich dadurch
nachvollziehbarerweise ausgegrenzt und angegriffen.
Dies machen sich Islamist*innen zunutze, indem sie gerade jungen Männern
der zweiten oder dritten Einwanderergeneration suggerieren, ihre bröckelnde
Identität mit dem Gift des Islamismus kitten zu können, verbunden mit
Gemeinschaftsgefühl und Anerkennung.
„Wir und die Anderen“ ist für die (extreme) Rechte wie für Islamist*innen
ein konstituierendes Moment geblieben. Kapitalismus und damit einhergehende
Ellbogenmentalität und institutionalisierter Rassismus, wie er sich bei den
Ermittlungen nach den NSU-Morden brutal entlarvt hat, spielen ihnen dabei
in die Hände.
Nur wenn wir versuchen, Abgehängte und Ausgeschlossene in einen
dynamischen, reziproken Prozess einzubinden, gleiche Chancen für alle
ermöglichen, unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht, und aus
unserer Komfortzone und über Klassengrenzen hinaus in Dialog treten, können
wir diese Fronten aufbrechen und ein umfassendes „Wir“ zum Leben erwecken.
Hoffentlich.
3 Mar 2018
## AUTOREN
Leonhard F. Seidl
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Bayern
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