# taz.de -- Andreas Reckwitz' Buch „Verlust“: Rasender Stillstand | |
> Soziologe Andreas Reckwitz stellt in seinem Buch „Verlust“ fest: Die | |
> Motoren der westlichen Gesellschaften laufen auf Hochtouren – mit | |
> Schäden. | |
Bild: Das vielleicht eindrücklichste Sinnbild für Verlust: Eisberge, die schm… | |
Wenn Sie gern Texte wie diesen in der gedruckten taz lesen, steht Ihnen ein | |
Verlust ins Haus. [1][Die gedruckte taz wird ab Herbst 2025 nur noch als | |
Wochenzeitung erscheinen, nicht mehr täglich.] Die taz ist erst der Anfang. | |
Die meisten gedruckten Tageszeitungen werden untergehen. Ist das ein | |
Verlust? | |
In der klassischen, fortschrittsfrohen Moderne würde dieses Ende eher nicht | |
als Minus verbucht, sondern als Übergang zu einer besseren, schnelleren, | |
billigeren Art, Informationen unter die Leute zu bringen. Printzeitungen | |
rechnen sich nicht mehr. Ihr Aus erscheint in der Erzählung ökonomischer | |
Ratio und technischer Effektivierung zwingend. Die Gutenberg-Galaxis ist | |
Vergangenheit, die wir getrost abhaken können. Das Digitale ist das Neue, | |
das ein besseres Morgen verheißt. Kein Grund zur Trauer. Was untergeht, ist | |
in einer besseren Zukunft aufgehoben. | |
[2][Wenn wir Andreas Reckwitz folgen, befinden wir uns seit gut 40 Jahren | |
in der Spätmoderne.] Die wird noch immer von den Dynamiken der Moderne | |
angetrieben. Aber die Kalkulationen mit Vergangenheit und Zukunft fallen | |
anders aus: zwiespältiger, skeptischer, düsterer. | |
Vor allem Boomer, die mit Zeitungen groß geworden sind, werden die | |
haptische Erfahrung vermissen, beim Frühstück die taz in der Hand zu haben. | |
Das ist eine Marginalie, die aber auf ein größeres Bild verweist: Ist es | |
das wert? Ist das Neue besser? Werden in dem entgrenzten, beschleunigten, | |
digitalen Social-Media-Kosmos Informationen so rational verarbeitet wie in | |
der Welt der Papierzeitungen und Brötchenkrümel? | |
## Orkanartig digitale Umwälzung | |
Das Ende der Tageszeitungen ist ein mikroskopisch kleiner Teil der | |
orkanartigen digitalen Umwälzung, die die westlichen Gesellschaften | |
durchschüttelt. Industrien gehen unter, digitale Tycoone sind mächtiger, | |
als es Industriebarone je waren. Die Klimakatastrophe, Ergebnis | |
entfesselten Fortschrittsglaubens, verschlingt Inseln. Der Fortschritt ist | |
auch nicht mehr, was er mal war. Verluste haben, so Reckwitz’ zentrale | |
These, ein gefühltes Gewicht bekommen, das von keiner lichten Zukunftsidee | |
mehr schwerelos gemacht wird. | |
„Verlust“ ist der nicht unbescheidene Versuch, die westlichen | |
Gesellschaften als Projekt zu beschreiben, das vor allem damit befasst ist, | |
die Schäden wegzuerklären, die sie in ihrem Zukunftsfuror selbst | |
anrichteten. Westliche Gesellschaften sind erfindungsreich, um den Preis | |
des Fortschritts zu verkleinern, zu verdrängen, zu banalisieren. Der Unfall | |
gilt als Ausnahme. Wer keinen Erfolg hat, ist selbst schuld. Weil Tod eine | |
Kränkung für jede Fortschrittseuphorie ist, wurde er in der Moderne | |
weitgehend aus dem sozialen Leben verbannt. | |
Reckwitz katalogisiert und summiert in der ersten Hälfte der Studie die | |
Narrative, die minimieren, was den Fortschritt stört. Bearbeitet werden vor | |
allem Begriffe, Empirie spielt eine Nebenrolle. Die ersten 200 Seiten lesen | |
sich wie eine Schadensbilanz, die ein leicht nerdiger Begriffs-Buchhalter | |
auflistet. Ideen sind seltsamerweise in Fußnoten versteckt. Man rechnet | |
hier offenbar mit einer geduldigen, hochkonzentrierten Leserschaft. | |
## Selbstverwirklichung im Kulturkapitalismus | |
Reckwitz gilt als präziser Beobachter, der mit dem Besteck soziologischer | |
Begriffsanalyse der Gesellschaft den Puls fühlt. [3][In „Gesellschaft der | |
Singularitäten“ fusionierte er 2017 Individualisierungstheorien mit | |
Analysen des Selbstverwirklichungskapitalismus zu einer neuen Erzählung.] | |
Im Kulturkapitalismus müssen alle besonders sein. Das ist ganz schön | |
anstrengend, kann aber auch klappen. | |
Reckwitz hat ein feines Gespür für Zeitstimmungen. Angesichts von Corona | |
und Kriegen, Klimawandel und Abstieg des Westens ist Verlust als Buzzword | |
treffsicher gewählt. Diese Stimmungsbilder fügt Reckwitz wie Mosaiksteine | |
in großformatige, sperrige Theorien ein. Anders als dunkle, postmoderne | |
Zeitdiagnostiker wie Byung- Chul Han können wir uns Andreas Reckwitz als | |
freundlichen Liberalen vorstellen, der in jedem Katastrophenszenario den | |
brauchbaren, sozialverträglichen Ausgang sucht. | |
„Verlust“ ist keine radikale Kulturkritik. Das Interesse gilt vielmehr kühl | |
der Frage, wie Gesellschaften Schäden bearbeiten oder verdrängen. Im | |
zweiten, inspirierteren Teil werden diese Manöver mit intellektuellem | |
Schwung seziert. Bereden und Verschweigen sind, so die hellsichtige | |
Deutung, weniger Gegenteile als Aggregatszustände der Verlustbearbeitung. | |
In der Spätmoderne (ein Begriff, der mit der Postmoderne nur entfernt | |
verwandt, mit der zweiten, reflexiven Moderne von Ulrich Beck eng verbunden | |
ist) gibt es fast eine Explosion von Verlustbearbeitungen. Der Bogen reicht | |
nicht mehr nur vom Sozialstaat bis zur Haftpflichtversicherung, er umfasst | |
Therapiekultur, postmoderne Architektur und postkoloniale Opferdiskurse. | |
Überall sind Strategien zu erkennen, mit denen künftige Verluste | |
kompensiert oder vergangene dem Vergessen entrissen werden sollen. | |
## Gefühlte Verluste | |
Reckwitz’ trickreiches Argument lautet: Sowohl die rüde Verdrängung als | |
auch die neuen Empfindsamkeiten zeigen, wie drängend Verlusterfahrungen | |
sind. Die gefühlten Verluste nehmen zu – das ist auch ein Effekt der | |
Gesellschaft der Singularitäten. „Das Ideal des lebenslangen Wachstums der | |
Persönlichkeit radikalisiert den Fortschrittsimperativ, indem er ihn sogar | |
in die Psyche des Subjekts hineinverlagert: Die Biografie selbst soll damit | |
dem Muster des „Immer-besser und des Immer-mehr folgen“. | |
Wo alle Anspruch auf sozialen Aufstieg, Wohlstand und private Erfüllung, | |
kurzum Glück, haben, wächst das Unglück auch. Gerade in Gesellschaften, in | |
denen kaum noch jemand an das bessere Morgen glaubt, bekommen die | |
Enttäuschungswellen enorme Wucht. | |
Die aggressiven Retrofantasien der Rechtspopulisten passen fast fugenlos in | |
diese Skizze. Trump & AfD antworten auf Verlustwahrnehmungen und verknüpfen | |
Opferinszenierungen mit einer rückwärtsgewandten Utopie. Trump ist das | |
Gesicht einer wütenden Gesellschaft, die für die Verluste, die zum Wesen | |
der Moderne gehören, keine sinnvolle Erzählung mehr hat – und dieses Vakuum | |
mit Hass auf Eliten und Migranten füllt. | |
## Aufstieg der Rechtspopulisten | |
Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist in „Verlust“ aber keineswegs der | |
Fluchtpunkt. Die Rechtspopulisten kommen nonchalant am Rande dieses | |
Panoramabildes vor – neben der alternden Gesellschaft (schon wieder – | |
Zukunftsverlust). Das passt zu Reckwitz’ diskursivem Stil, lieber das | |
Strukturelle zu beleuchten, als rhetorische Knalleffekte zu zünden. | |
Der Fortschritt ist in zwei Teile zerfallen. Die Maschinen der Gesellschaft | |
laufen zwar auf Hochtouren. Unternehmen investieren, weil sie mit Gewinnen | |
in der Zukunft rechnen. Generelles Zukunftsmisstrauen würde zum sofortigen | |
Kollaps der globalen Ökonomie führen. Auch Staaten und Wissenschaft planen | |
unverdrossen. | |
Doch der Zukunftshorizont ist verfinstert. Die Handys werden besser, | |
schneller, billiger. Aber die Erzählung, in der dies bedeutsam war, ist | |
zerbrochen. Diese widersprüchliche Lage beschreibt Reckwitz mit Paul | |
Virilio als „rasenden Stillstand“. | |
## China und Indien außen vor | |
Reckwitz betont, dass diese Befunde für westliche, individualisierte | |
Gesellschaften gelten, nicht global. Fair enough. Eine Antwort auf die | |
Frage, ob man 2024 eine Theorie der Moderne schreiben kann – das will | |
„Verlust“ sein –, ohne China und Indien im Augenwinkel wahrzunehmen, ist | |
das nicht. | |
„Verlust“ ist ein kluger, anregender, weit ausgreifender, manchmal ziemlich | |
steifer Versuch, unsere Gegenwart im Westen profund zu beschreiben. | |
Erstaunlich unterbelichtet bleibt dabei der Abstieg des Westens, der nach | |
Jahrhunderten vom imperialen Zentrum zu einem Player unter anderen wird. | |
Am Ende empfiehlt Reckwitz als Alternative zum Untergang oder stumpfem | |
„Weiter so“ die „Reflexion der Verlusterfahrungen“ und eine Art „repa… | |
Moderne“. Doch wer da warum den Klempner spielen wird, bleibt diffus. In | |
diese Passage schleicht sich nicht zufällig ein Ton des Appells und ein | |
Gestus des Händeringens. Vielleicht reicht es, wenn Soziologen für die | |
Diagnosen zuständig sind und nicht für Therapien. | |
17 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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