| # taz.de -- Spaltung der deutschen Gesellschaft: Reizbares Dromedar | |
| > Gibt die Rede von der Spaltung der Gesellschaft ein falsches Bild? Das | |
| > haben die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser | |
| > erforscht. | |
| Bild: Lastenfahrräder haben heftige Diskussionen im Schlepptau | |
| Gesellschaftsdiagnosen, egal ob in Buch- oder Artikelform, sorgen selten | |
| für gute Laune. Seit Jahren häufen sich alarmierende Befunde, wonach wir | |
| eine fortschreitende Spaltung in politische und weltanschauliche Lager | |
| erleben, eine Polarisierung von Meinungen und Positionen. Das passt auch | |
| bestens in die allgegenwärtige Krisenstimmung: Krieg, Klimawandel, | |
| Wirtschaftsflaute, man könnte noch ergänzen: Rechtsruck, soziale | |
| Ungleichheit, Pflege-und Bildungsdesaster. | |
| Die Soziologen [1][Steffen Mau], Thomas Lux und Linus Westheuser haben | |
| dafür das Bild vom Wandel einer Dromedar- hin zu einer Kamelgesellschaft | |
| gefunden: Aus einem dicken Konsenshügel in der Mitte bilden sich nach und | |
| nach zwei Höcker, auf denen sich Menschen unversöhnlich gegenüberstehen, | |
| mit einem tiefen Graben in der Mitte. | |
| Ob es wirklich in die Kamelrichtung geht, das wollten die Autoren | |
| herausfinden. Dazu befragten sie in einer repräsentativen Umfrage 2.530 | |
| Personen ab 16 Jahren am Telefon zu Themen wie Lebenssituation, | |
| Mediennutzung, wahrgenommenem Meinungsklima – und ihrer Meinung zu Fragen | |
| von (Un-)Gerechtigkeit und Konflikten. Begleitend fanden sechs nach | |
| gesellschaftlicher Schichtzugehörigkeit ausgewählte Diskussionsgruppen in | |
| Essen und Berlin statt und eine Fragebogenaktion. | |
| In „Triggerpunkte“ haben Mau, Lux und Westheuser ihre Ergebnisse | |
| zusammengefasst. Die Überraschung in dem trotz Soziologendeutsch ganz gut | |
| lesbaren Buch kommt gleich am Anfang: Die Autoren sehen keine Höcker und | |
| Gräben wie in den USA und stellen fest: Deutschland bleibt ein Dromedar. | |
| ## Grundkonsens mit radikalen Rändern | |
| Wenn auch ein leicht reizbares: Die hitzigen Diskussionen, die sich an | |
| Themen wie Flüchtlingsobergrenze, Heizungsgesetz oder Waffenlieferungen | |
| entzünden, sind laut Mau und Co. kein Hinweis auf eine tiefe Spaltung, | |
| sondern lediglich Ausdruck einer lebendigen Debattenkultur in einer | |
| Gesellschaft, die nach wie vor von einem Grundkonsens getragen wird – mit | |
| radikalen Rändern, worunter sie interessanterweise nicht nur die AfD-, | |
| sondern auch die Grünen-Wähler fassen. | |
| „Man versteht das Land und seine Politik besser, wenn man begreift, dass | |
| […] ‚Middle of the road‘-Positionen und nicht zugespitzte Meinungen | |
| besonders politisierter Gruppen die Grundhaltungen der Mehrheit prägen – | |
| allen Sorgen um das Erstarken des Rechtspopulismus zum Trotz“, heißt es. | |
| Klingt beruhigend, aber werden diese Ränder nicht breiter? Hat nicht erst | |
| kürzlich die „Mitte-Studie“ eine allgemein wachsende Zustimmung zu | |
| ultrarechten Positionen festgestellt? Soll wirklich alles in Ordnung sein | |
| in einem Land, in dem der Vorsitzende der bürgerlich-konservativen Partei | |
| Stimmung macht gegen Migranten und indem in mancher Gemeinde | |
| holocaustverharmlosende Demokratieverächter hoch in der Wählergunst stehen? | |
| ## Neuralgischer Punkt Gendersternchen | |
| Das nun auch wieder nicht. Steffen Mau und Kollegen fanden in ihren | |
| Erhebungen sehr wohl eine „zerklüftete Konfliktlandschaft“ vor, mit | |
| unterschiedlich verlaufenden Gräben. Die können sich unverhofft auftun | |
| anhand von Kleinigkeiten wie einem Gendersternchen. „Triggerpunkte“ nennen | |
| die Autoren, angelehnt an einen Begriff aus der Physiotherapie, solche | |
| neuralgischen Punkte, an denen sich Schmerzen zeigen, beziehungsweise | |
| Konflikte scheinbar willkürlich entzünden. | |
| Diese Konflikte seien nicht einfach da, sie würden fabriziert, durch | |
| mediale Stimmungsmache und politisch motivierte „Polarisationsunternehmer“. | |
| Doch hätten hochgekochte Debatten über genderneutrale Toiletten, | |
| fleischfreies Kantinenessen oder „Sozialschmarotzer“ stets auch reale | |
| Ursachen. | |
| Als Grund für Empörung, die sich zur politischen Polarisierung nutzen | |
| lässt, machen die Soziologen durchwegs „Ungleichheitskonflikte“ aus, die | |
| sie in folgende Arenen unterteilen: das Oben und Unten (Verteilungsfragen), | |
| Innen und Außen (Migration), Wir und Sie (Umgang mit Minderheiten), sowie | |
| Heute und Morgen (Klimapolitik). | |
| Dem in letzter Zeit wieder populären Begriff der Klassengesellschaft | |
| erteilen die Autoren eine klare Absage: Selbst in der Arbeiterschaft stehe | |
| man offensichtlichen materiellen Ungleichheiten erstaunlich gleichgültig | |
| gegenüber, so ihr Befund. | |
| Auch könne man nicht von entlang Klassenlinien geteilten Einstellungen etwa | |
| zu Migration, Gleichstellung von Minderheiten oder Klimafragen sprechen. | |
| Erstaunlich sind hier Einzelergebnisse aus den Befragungen: Unter den | |
| Produktionsarbeitern sehen demnach 40 Prozent keinen Ressourcenkonflikt mit | |
| im Land lebenden Migranten. Und ganze 84 Prozent wünschen sich „eine | |
| normale Anerkennung für Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben“. | |
| Wenn es um die Sichtbarkeit solcher Gruppen geht, nimmt die Toleranz | |
| allerdings dann doch merklich ab. | |
| Diskursnostalgie, wonach es früher friedlicher und weniger aufgeregt zuging | |
| in öffentlichen Debatten, lassen Mau, Lux und Westheuser übrigens nicht | |
| gelten: Zur Zeit der Studentenproteste oder während der Kontroversen um die | |
| Stationierung der Pershingraketen sei es mindestens genauso hoch | |
| hergegangen. | |
| ## Es ist komplizierter | |
| Auch andere populär zelebrierte Gegensätze wie Ost-West, Frau-Mann, | |
| Stadt-Land, Jung-Alt sehen Mau und seine Kollegen nicht: So machten sich | |
| unter den über 70-Jährigen 85 Prozent „große Sorgen um den Klimawandel“, | |
| unter den 16- bis 29-Jährigen aber nur 62 Prozent, was gar nicht zur | |
| Erzählung von panischen Kids und bräsigen Alten passen will. Die | |
| Kernaussage des Buchs lautet: Es ist komplizierter. Zuspitzen lässt sich | |
| die Analyse allenfalls auf eine These, die bereits prominent von dem | |
| Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz formuliert wurde: Bildung ist die | |
| neue Klasse. | |
| So ergeben die von dem Soziologentrio erhobenen Daten denn auch folgendes | |
| Bild: Während vor allem akademisch Gebildete ihre Interessen gut | |
| durchsetzen könnten, am Wohlfahrtsstaat und dem existierenden | |
| Parteiensystem festhielten, fühlten sich ökonomisch und sozial | |
| Schlechtergestellte ohnmächtig – hielten aber gleichzeitig an der | |
| Aufstieg-durch-eigene-Leistung-Logik fest, was eine Politisierung | |
| erschwere. | |
| Steffen Mau und Co. stimmen ihrem Kollegen Klaus Dörre zu, der von der | |
| „demobilisierten Klassengesellschaft“ spricht. | |
| „Triggerpunkte“ wird mit Sicherheit viel und kontrovers diskutiert werden. | |
| Garantiert wird man den Autoren Verharmlosung des Rechtsrucks vorwerfen. | |
| Dabei leugnen die drei Soziologen vorhandene radikale und | |
| demokratiefeindliche Positionen nicht. | |
| Sie demontieren aber populäre Schreckgespenster wie den „alten weißen | |
| Mann“: Die Einstellungen von über 60-Jährigen mit zwei deutschen | |
| Elternteilen, so heißt es im Buch, unterschieden sich in nichts von denen | |
| anderer befragter Gruppen. „Transformationsmüde“ sei der alte weiße Mann | |
| nur dann, wenn er einen niedrigen sozialen Status und einen niedrigen | |
| Bildungsgrad habe. | |
| 20 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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