# taz.de -- Buch über Ostdeutschland: Jahrzehnte des Zorns | |
> Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ruft die Ostdeutschen | |
> dazu auf, die eigene Opferrolle und die ewige DDR-Nostalgie endlich | |
> abzulegen. | |
Bild: Als die ostdeutsche Wut noch klar fokussiert war: brennendes Plakat mit e… | |
Wir leben im Zeitalter des Zorns. So beschrieb 2017 der indische Publizist | |
Pankaj Mishra die Kehrseite der Moderne. Diese produziert einige Gewinner | |
und eine Legion an Verlierern. Deren Ressentiments befeuern die | |
Zornideologien unserer Zeit. Was Mishra im Weitwinkel erkennt, lässt sich | |
im Kleinen übertragen: Ostdeutschland, das dieser Tage mit 35 | |
Jahre-Mauerfall-Literatur bedacht wird, ist mit den Transformationsjahren | |
in seine eigenen Jahrzehnte des Zorns eingetreten. | |
Wut auf „die da oben“, auf die Grünen, auf den Westen scheinen | |
Gefühlsregungen der Abwehr zu sein, die Teile der ostdeutschen Gesellschaft | |
in die Arme autoritärer Ideologien treibt. Lange schien eine | |
gesellschaftliche Mitte dieser Wut mit Verständnis zu begegnen, doch | |
neuerdings entsteht eine Stimmung der Gegenwut. Einer, dem es so richtig | |
reicht, ist der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der in seinem neuen Buch | |
der ostdeutschen Gesellschaft einen „Freiheitsschock“ attestiert. | |
Das Buch ist ein Nachdenken über Freiheit und antifreiheitliche | |
Ressentiments. Der Autor sieht große Teile der ostdeutschen Gesellschaft | |
nicht in der Freiheit angekommen. Stattdessen sehnten sie sich nach | |
patriarchaler Fürsorge. In den ersten Nachwendejahren konnte diese noch von | |
Übervätern wie Helmut Kohl oder alten Autoritäten wie der PDS befriedigt | |
werden, nun geht der Blick zur AfD oder gleich nach Russland, so der Autor. | |
Kowalczuks eigener Freiheitsbegriff speist sich aus den großen Theorien des | |
bürgerlichen Liberalismus, vor allem Karl Popper ist ein zentraler | |
Bezugspunkt. Das verbindet ihn mit Figuren wie Joachim Gauck oder anderen | |
ehemaligen Bürgerrechtlern, die einer jahrelangen Beschallung durch den | |
Marxismus-Leninismus einen vom gesellschaftlichen Sein befreiten | |
Freiheitsbegriff entgegenstellen: Das selbstbestimmte Subjekt ist Souverän | |
seiner eigenen Freiheitsmöglichkeiten. | |
## Mythen von Freiheit und Unfreiheit | |
Mit klarer Überzeugung zerlegt Kowalczuk schließlich all das, was er als | |
Mythen von Freiheit und Unfreiheit identifiziert: Die ostdeutsche Wut redet | |
die Ketten herbei, die es sich selbst anlegt. Das liegt auch daran, dass | |
ein Großteil sich nie als politisches Subjekt konstituiert hat. | |
Die DDR war zwar ein ideologiereiches, aber politikarmes Land, das keine | |
Möglichkeiten der Partizipation vorsah. Und die Friedliche Revolution wurde | |
entgegen allen Verklärungen vor allem durch eine kleine Minderheit gemacht, | |
während die Mehrheit hinter den Gardinen zuschaute. Und nun machen sich | |
auch noch [1][Einlassungen wie die von Dirk Oschmann] daran, die | |
ostdeutsche Gesellschaft endgültig zu entmündigen, indem sie sie zu einer | |
westdeutschen Erfindung degradieren. | |
Die Widerborstigkeit des Autors ist erfrischend, schreibt sie doch | |
[2][gegen den irrlichternden Kitsch] an, dass man dem Autoritarismus nur so | |
lange ein offenes Ohr hinhalten müsse, bis er sich politisch erledigt habe. | |
Stattdessen nimmt Kowalczuk die Gesellschaft in die Pflicht, sich in „die | |
eigenen Angelegenheiten einzumischen“. | |
Dem Temperament des Autors mag es geschuldet sein, dass diese Ermunterung | |
im Ton der Berliner-Schnauzigkeit daherkommt, genauso wie er in diesem Buch | |
weiter am Image des ewigen Außenseiters dreht, obwohl er mittlerweile zu | |
den meistrezipierten Historikern des Landes gehört. | |
## Soziale Frage | |
Dass der Einladung des Autors wenige folgen werden, liegt nicht nur daran, | |
dass er die Tür rhetorisch schon zugeworfen hat, bevor die ersten Gäste | |
angekommen sind, sondern auch weil sein Freiheitsbegriff wiederum | |
ideologische Verbohrtheiten produziert: In seinem Kampf um die Freiheit | |
müssen Opfer gebracht werden, eines dieser Opfer ist die soziale Frage. | |
Kowalczuk möchte den Blick auf die Transformationsjahre vom starken Fokus | |
auf ihre sozialen Verwerfungen befreien und entökonomisiert damit die | |
politische Entwicklung Ostdeutschlands. So begibt sich die Diskussion | |
allerdings ohne Not auf einen Pfad der Übervereinfachung und | |
„Freiheitsschock“ beweist einmal wieder: Ein Schritt nach vorne kann auch | |
einer im Kreis sein. | |
30 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gerrit ter Horst | |
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