# taz.de -- Landtagswahlen im Osten: Diktatur der Mehrheit | |
> AfD und BSW streben einen starken, autoritären Staat an, der durchgreift. | |
> Das spricht viele Menschen im Osten an, denn das kennen sie aus der DDR. | |
Bild: Eine „Diktatur der Mehrheit“ konstatierte bereits John Stuart Mill al… | |
Die DDR ist mittlerweile bunt und pluralistisch wie nie zuvor. Fast täglich | |
erscheinen neue Publikationen, die eine faszinierende Gesellschaft malen. | |
Der SED-Staat wird als Kulisse gezeichnet, um die sich die Gesellschaft | |
anscheinend wenig gekümmert hat. In Spielfilmen kommt meist eine lustige, | |
sich behauptende Gemeinschaft vor, die den Staat verachtet und sich von | |
diesem nicht unterkriegen lässt. In den sozialen Medien gibt es unzählige | |
Erinnerungsgruppen, in denen alles rosarot gezeichnet wird. Millionen | |
schwelgen in Erinnerungen, die sie in eine Zeit zurückversetzen, die | |
solidarisch, warm und vor allem eines war: sicher. | |
Wenn sich eine [1][Mehrheit der Ostdeutschen an der Freiheitsrevolution | |
1989 gegen den SED-Staat beteiligt] hätte, müsste man heute fragen, ob | |
diese Mehrheit es bereut. Doch die Frage ist sinnlos, denn an der | |
Freiheitsrevolution beteiligte sich nur eine Minderheit. Es ist eine | |
Banalität: An Revolutionen beteiligen sich immer nur Minderheiten. Die | |
große Mehrheit wartet ab und schlägt sich rasch und voller Überzeugung auf | |
die Seite der Sieger. Das war 1989 nicht anders. Als Anfang November 1989 | |
klar war, wohin die Reise gehen würde, entschied sich die Mehrheit, nun | |
auch gegen den Staat dabei zu sein. Millionen aber blieben ihm treu – das | |
wird gern vergessen. | |
Die echten Revolutionäre wollten Freiheit, Demokratie und | |
Rechtsstaatlichkeit. Die Befreiten wollten volle Geschäfte und die D-Mark. | |
Das ist nicht verwerflich, veränderte aber die Geschäftsgrundlage. Der | |
tiefste Einschnitt in der ostdeutschen Revolutionsgeschichte war nicht der | |
Mauerfall am 9. November oder der Wahltag am 18. März, sondern der 1. Juli | |
1990 – die Einführung der D-Mark in der DDR, verbunden mit der Übernahme | |
der bundesdeutschen Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung. | |
Was nun passierte, hatten die Befreiten nicht erwartet. Sie bauten Trabis | |
und Wartburgs, wollten aber selbst VW und Mercedes fahren. Sie kauften ihre | |
eigenen Produkte nicht mehr. Der im Osten bis heute weitverbreitete Hass | |
auf die Treuhand – die natürlich viele Fehler machte – war schon immer eine | |
Form von Selbsthass. Wer auf die schnelle Einführung der D-Mark setzte – | |
und das waren nun einmal etwa 80 Prozent der Menschen –, hätte auch damit | |
rechnen können, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Haben damit | |
viele gerechnet? Die meisten glaubten wohl, an ihnen würde der Kelch | |
vorübergehen. | |
## Ostdeutsche waren nicht nur Opfer | |
Den Einigungs- und Transformationsprozess begleiteten viele Fehler. Aber | |
lief die Einigung so ab, wie es der Literaturprofessor Dirk Oschmann in | |
seinem Wutseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ behauptet? Die | |
Ostdeutschen nur als Opfer und Objekte der Geschichte? Nein, sie waren | |
weder das eine noch das andere. Sie haben selbstbestimmt entschieden, dass | |
das Westgeld so schnell wie möglich kommt. Damals haben besonnene Köpfe | |
davor gewarnt, die Folgen der schnellen Einführung der D-Mark wären | |
unüberschaubar und kaum beherrschbar. Das wollte kaum jemand hören. Im | |
Osten galten die mahnenden Stimmen quasi als Kommunisten, im Westen wurden | |
sie als vaterlandslose Gesellen abgetan, und gesamtdeutsch galten sie als | |
Einheitsfeinde. | |
Die [2][Ostler, die etwa aus der Bürgerbewegung kamen] und vor der | |
sofortigen Einführung der D-Mark warnten, unterschieden sich in einem Punkt | |
tatsächlich grundlegend von der Mehrheit der DDR-Menschen: Sie besaßen ein | |
anderes Staatsverständnis. Sie glaubten, dass Freiheit und Demokratie einen | |
Staat benötigen, der die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten nicht | |
sanktioniert, sie hofften auf einen Staat, der nicht autoritär, nicht | |
paternalistisch ist. | |
Die Masse der Ostdeutschen aber meinte 1990: „Helmut, nimm uns an die Hand, | |
und führe uns ins Wunderland.“ Sie wollten alles sofort. Und der | |
Bundeskanzler? Kohl versprach, es genau so zu richten: blühende | |
Landschaften in drei, fünf, sieben Jahren. Woher sollte die Mehrheit der | |
Ostdeutschen auch wissen, dass „Vater Staat“ ein Konstrukt des 19. | |
Jahrhunderts war und der Staat nicht zum Selbstzweck existiert, sondern die | |
Rahmenbedingungen einer offenen Gesellschaft bietet? Die Westdeutschen | |
mussten das nach 1945 auch erst mühsam erlernen. | |
Demokratie und Freiheit sind keine hohlen und leeren Begriffe. Aber sie | |
müssen erlernt werden, immer wieder neu. Doch in den Jahren nach 1990 | |
gingen Ost- wie Westdeutsche davon aus, Freiheit und Demokratie seien | |
selbsterklärend. Sind sie aber nicht. Und niemand brachte den Ostdeutschen | |
nahe, dass das Leben in der Freiheit weitaus anstrengender ist als in der | |
Diktatur. Ständig muss man Entscheidungen treffen, „ich“ sagen, sich in | |
seine Angelegenheiten einmischen. In der Diktatur übernimmt das alles der | |
Staat. Die Regeln waren einfach und überschaubar: Tu einfach, was man dir | |
sagt! Und „man“ ist der Staat. | |
Niemand bemerkte, dass die [3][Mehrheit der Ostdeutschen nach 1990 genau | |
dieses paternalistische Staatsverständnis weiterhin pflegte.] Es war nicht | |
nur Helmut Kohl, der sich entsprechend aufspielte. Die berühmtesten | |
Ministerpräsidenten in Ostdeutschland nach 1990 – Kurt Biedenkopf in | |
Sachsen, Bernhard Vogel in Thüringen, Manfred Stolpe in Brandenburg – | |
agierten genau nach dem gleichen Muster: als paternalistische Herrscher, | |
die ihre Landes„kinder“ umsorgten. | |
Es war Uwe Johnson, der bereits 1970 klarsichtig anhand ostdeutscher | |
Flüchtlinge im Westen festhielt: Sie kamen in den Westen, und viele von | |
ihnen redeten über den SED-Staat, als handele es sich um einen Teil ihrer | |
Familie. Dieser Essay von Uwe Johnson gehört zum Klügsten, was je über | |
Ostler im Westen geschrieben worden ist. Und er bleibt bis heute aktuell. | |
## Autoritäre Staatsvorstellungen | |
Heute können wir beobachten – und das beobachten bislang kaum irgendwelche | |
viel gefragten Beobachter –, dass grundlegende Unterschiede zwischen Ost | |
und West vor allem darin bestehen, was vom Staat erwartet wird. Es gibt | |
viele Differenzen zwischen Ost und West. Die wird es auch in vielen Jahren | |
noch geben, und sie sind nicht einmal problematisch. Anders sieht es mit | |
den staatspolitischen Vorstellungen aus. Im Osten überwiegen | |
Staatsvorstellungen, die an autoritäre Modelle erinnern, an einen starken | |
Staat. Das ist ein grundsätzliches Problem – zumal sich solche | |
Vorstellungen wie ein Virus auch im Westen Europas verbreiten. | |
Und genau an dieser Stelle [4][setzen AfD] und das Bündnis Sahra | |
Wagenknecht (BSW) an. Das eine oder andere mag beide Parteien voneinander | |
unterscheiden, aber in einem zentralen Punkt sind sie sich einig: Sie | |
erstreben einen starken, autoritären Staat, der die Gesellschaft einhegt, | |
bevormundet und homogenisiert. Das sprechen die Führungsfiguren beider | |
Strömungen aus. Die AfD weitaus offener als das BSW, aber auch hier | |
benötigt man nur Grundkenntnisse politologischer Theorien, um das | |
dekodieren zu können. Und daher ist auch ihre Nähe zu Russland oder China | |
kein Zufall. AfD wie BSW streben das „Durchgreifen“ an, einen Staat, der | |
sich an seinen eigenen Bedürfnissen orientiert und nicht an denen der | |
Gesellschaft. | |
Was dabei herauskommen wird? Das ist schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich | |
eine „Diktatur der Mehrheit“, etwas, das John Stuart Mill oder Alexis de | |
Tocqueville im 19. Jahrhundert bereits als eine sehr große Gefahr der | |
Demokratie konstatierten. Ein Blick nach Ostdeutschland könnte ein Blick in | |
die Zukunft sein: Genau das droht hier nämlich unter dem vermeintlichen | |
Vorzeichen, die Demokratie retten zu wollen. Den meisten ist diese | |
„Diktatur der Mehrheit“ gar nicht als Problem bewusst. Tatsächlich will im | |
Osten nur eine winzige Minderheit die DDR zurückhaben, so, wie sie war. | |
Eine größere Minderheit sehnt sich nach einer DDR, wie sie erinnert wird, | |
wie sie aber nie existiert hat. Die Mehrheit aber strebt einen Staat an, | |
der stark und autoritär die Angelegenheiten im Sinne des „gesunden | |
Menschenverstands“ (Lieblingsformulierung von Populisten wie Extremisten | |
jeder Couleur) regelt und allein den Wünschen einer Mehrheit seinen Dienst | |
erweist, verbunden mit der Unterdrückung von Minderheitenpositionen. | |
## Keine Konsensgesellschaft, sondern gelebte Freiheit | |
Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies bald zu einer gesamtdeutschen und | |
gesamteuropäischen Realität werden könnte. Das wäre ein später Sieg der DDR | |
– und ein mit unübersehbaren Folgen verbundener für den Kreml. Die Freiheit | |
lässt sich nur in der Freiheit verraten – wir könnten gerade Zeugen davon | |
sein. Noch ist es nicht zu spät, um nicht wie anderswo hautnah und | |
schmerzhaft zu erfahren, dass Freiheit wichtiger als Frieden ist, weil es | |
ohne Freiheit keinen inneren und keinen äußeren Frieden geben kann. | |
Wir brauchen keine Diktatur der Mehrheit, keine Konsensgesellschaft, | |
sondern [5][gelebte Freiheit und Demokratie]. Und das ist die faire, | |
demokratische Aushandlungsarena, die Kompromisse sucht. In dieser Arena | |
unterstellen sich die Kontrahenten gegenseitig, das Beste für alle zu | |
wollen; als politische Gegner lehnen sie zwar Mittel, Methoden und Ziele | |
der anderen gegenseitig zum Teil ab, aber sie behandeln sich gleichrangig | |
als demokratische Partner. | |
[6][Im Osten] hingegen vereinen AfD und [7][BSW mittlerweile etwa 50] | |
Prozent der Menschen hinter sich mit ihrer Feindideologie – die lässt keine | |
Kompromisse zu und strebt die völlige Neuordnung an. Das erinnert ebenfalls | |
an die DDR und den Kreml. Dagegen kann nur helfen, dass die Demokraten | |
gemeinsam gegen die potenziellen Mehrheitsdiktatoren zusammenstehen und | |
koalitionsfähig bleiben. | |
27 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ilko-Sascha Kowalczuk | |
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