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# taz.de -- Landtagswahlen in Ostdeutschland: Brandmauer! Welche Brandmauer?
> Gegen die AfD wird gern eine feste Brandmauer gefordert. Diese ist im
> Osten nicht nur nicht vorhanden, sondern im Alltag überhaupt nicht
> möglich.
Kein Wort zum aktuellen politischen Geschehen in der Bundesrepublik bündelt
die größte Furcht nichtautoritärer Kräfte so sehr wie dieses: Brandmauer.
Also die Unvereinbarkeit politischer Allianzen mit der AfD oder anderen
rechtsextremistischen Kräften. Und das in jeder Hinsicht umfassend: Selbst
im allerletzten Dorf und in jeder Kleinstadt soll – wenn schon nicht formal
per Beschluss, dann doch durch mehr oder weniger stille Übereinkunft – der
Grundsatz gelten, mit der AfD nicht zu paktieren.
Die Brandmauer ist ein politisches Konstrukt, das vor allem den
Politikerinnen* der Union gilt. Aber was ist mit den Ebenen darunter?
Vereinen, Schulen, Firmen? In zivilgesellschaftlichen, aber ebenso
vorpolitischen Räumen, in denen auch Machtbeziehungen bestehen? Oder in der
Kommunalpolitik? Hier wird die Brandmauer nicht zu halten sein. Das liegt
nicht nur daran, dass die Akteurinnen* der AfD zu Zebrastreifen,
Schultoiletten und Umgehungsstraßen auch etwas zu sagen haben, sondern
auch, weil [1][im gelebten Alltag ein Berührungsverbot mit dieser Partei
schlecht praktiziert werden] kann.
Bei Bäckereien, in Frisierläden, Autowerkstätten, bei Handwerkerinnen*, in
Arztpraxen kann nicht ausgeschlossen werden, dass man es mit AfD-geneigten
Wählenden zu tun bekommt. Die Rechtsextremen sind vor allem im Osten der
Republik kein unappetitlicher Minderheitsfaktor mehr, sondern faktisch
schon Volkspartei. Zumindest in den Mentalitäten der einstigen
DDR-Landstriche. So ähnlich wie die Le-Pen-Ultranationalisten in
Frankreich, die in der Provence und im Norden des Landes erheblichen
kommunalen Einfluss ausüben.
Dass die AfD nach der Wahl in Thüringen und Sachsen am 1. September und am
22. September in Brandenburg eine stark tonangebende Kraft sein könnte, ist
offenkundig. Eine Koalition mit ihr kann es nicht geben – und wird es auch
nicht. Die [2][CDU, an der diese Frage hängt,] weiß, dass auch nur ein Grad
Nachgiebigkeit in dieser Frage sofort und zu Recht im ganzen Land
skandalisiert würde. In anderen Ländern, etwa in Großbritannien,
Frankreich, Italien wurde und wird den deutschen Konservativen vorgelebt,
wie es ist, den Rechtspopulismus zu nähren, indem man sich diesem
inhaltlich annähert: parteizerstörend.
## Der Osten funktioniert anders
Das sind Erwägungen, wie sie in den Berliner Parteizentralen angestellt
werden, weit weg vom echten Leben bis in die kleinsten Verästelungen
politischer Machtausübung. Dass der „Osten“ anders funktioniert als der
Westen, hat das politisch wache Publikum vor fünf Jahren erlebt, als die
FDP-Zentrale es nicht schaffte, ihren heutzutage nur noch irrlichternd zu
nennenden Politiker Thomas Kemmerich davon abzuhalten, sich zum
Ministerpräsidenten Thüringens mit Hilfe der AfD wählen zu lassen – gegen
den populären Bodo Ramelow von der Linkspartei. Auch die damalige
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer musste erkennen, dass ihre Macht an
den Landesgrenzen zu Thüringen nichts mehr gilt. Dahinter machten sie ja
doch, was sie wollen – eine Lehrstunde für die deutsche Parteiendemokratie,
nicht nur der Union: Ja, doch, der Osten tickt irgendwie anders.
Wer annimmt, von oben anweisen zu können, wie der Laden unten zu laufen
hat, der verliert. Wer sich glaubwürdig von den, aus ostdeutscher Sicht,
Allüren hauptstädtischen Dirigats absetzt, kann gewinnen. Niemand weiß das
besser als der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der beim
Angriffskrieg auf die Ukraine Haltungen äußert, die der Beschlusslage
seiner Partei im Bund widersprechen. So setzt er von Beginn an auf
Verhandlungen, auch mit dem Aggressor Russland.
Aber dort, wo er regiert, muss er so reden, ob es uns gefällt oder nicht.
Der postrealsozialistische Osten tickt diesbezüglich augenscheinlich anders
als vergleichbare Gesellschaften etwa im Baltikum oder in Polen.
Das bestätigt nicht nur die kluge Studie des im Osten aufgewachsenen
[3][Soziologen Steffen Mau mit dem Titel „Ungleich vereint“]. Daher sind
Debatten um Brandmauern unterhalb von Landesparlamenten immer nur
theoretisch. Im praktischen Leben, in Dörfern, Landkreisen, Städten, also
im konkreten Alltag der kommunalen Arbeit, werden
Unvereinbarkeitsbeschlüsse nicht oder nie lupenrein umgesetzt werden
können. Zumal SPD, Grüne und Linkspartei in den Kommunen nur noch selten
über reale Durchsetzungsfähigkeit verfügen.
Man wird also mit dem Zeitgeist und seinen Akteurinnen* im Osten der
Republik umgehen müssen. Eine andere Wirklichkeit dort kann man sich
wünschen und für sie kämpfen, man kann sie aber nicht wegbeschließen. Die
[4][Verfassungsblog-Leute um Maximilian Steinbeis] haben Vorschläge
gemacht, wie man der Eroberung der Institutionen und Rechtsorgane durch die
AfD und ihre Leute Einhalt gebieten kann. Und doch: Man wird eine im Osten
populäre Partei wie die rechtsextremistisch gefärbte AfD nicht völlig außen
vor halten können.
## Das BSW dürfte die Wahlergebnisse der AfD dämpfen
Dass das zu Schäden am bundesdeutschen Haus der Demokratie führen wird,
muss jetzt schon nicht sonderlich mutig geweissagt werden. In Europa konnte
man das bereits beobachten. So hat die PiS-Partei in Polen über acht Jahre
vorgemacht, wie man die Unabhängigkeit der Justiz fast zerstört, die
[5][neue konservativ-liberal-linke Regierung Donald Tusks] weiß davon nicht
nur ein Lied zu singen. Eine vollständige Prophylaxe gegen schwere
Verletzungen des demokratischen Gefüges gibt es nicht. Es ist schlicht: So
ist das mit der gesellschaftlichen Realität, so bitter das auch klingen
mag.
Immerhin kann nach allem, was Demoskopinnen* voraussagen, der Schluss
gezogen werden, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht die AfD-Popularität
insgesamt dämpfen wird. Was das politisch konkret bedeuten kann, ist (noch)
offen. Eines kann man aber schon voraussagen: Eine Machtergreifung der AfD
wird nicht stattfinden.
Das bedeutet für [6][zivilgesellschaftlichen Akteurinnen*, für die Schar
der Kämpferinnen* für eine bunte Gesellschaft], dass die beiden Wahlabende
keine Jubeltage werden. Die Partei, auf die es nach den Landtagswahlen
ankommt, ist die CDU. Sie muss ihren Einfluss, etwa über die
Innenministerien, nutzen, um die „bunten“ Teile im Gesellschaftlichen zu
schützen. Dass die hassschäumenden Demonstrantinnen* [7][beim CSD in
Bautzen] überhaupt so nah an die queere Parade herankommen konnten, dass
der sächsische Innenminister Armin Schuster viel zu lange brauchte, um ein
wertschätzendes Wort für den CSD zu finden, ist schwerer erträglich als
homophobe oder gendersprachkritische Hassparolen von Nazis.
Anders gesagt: Die CDU und die von ihr verantwortete Polizei muss dem
rechten Mob gegenüber deutlich artikulieren, dass man nötigenfalls mit
juristischen Eilverfahren auf ihn reagieren wird. Die CDU wird, sonst
fliegt ihr der demokratische Laden noch selbst um die Ohren, sich damit
befreunden müssen, so etwas wie queere Paraden zu mögen. Ohne gleich in
Liebe zu ihnen verfallen zu müssen.
## Schwächere müssen geschützt werden
An die Polizei muss der Anspruch gestellt werden, dass sie nichts hinnehmen
wird, was rassistisch, homophob, misogyn ist. Jede Attacke auf ausländisch
aussehende Menschen, überhaupt auf Personen, die verletzlich sind, gehören
geahndet. Zum demokratischen Miteinander zählt gerade für Schwächere das
Bewusstsein, dass sie geschützt werden, notfalls mit staatlicher, also
polizeilicher Gewalt. Ebenso gehören Lehrer und Lehrerinnen geschützt, die
sich den völkisch gesinnten Ansprüchen (auch aus ihrer Schülerschaft)
widersetzen: Hier warten echte Brandmauern auf die Union, zur Not auch
gegen Widerstände aus der Elternschaft.
Die Lage scheint trostlos, auch, weil das Wort „Brandmauer“ allzu stark die
parlamentarische Perspektive meinte. Diese zählt nicht gering, aber in den
drei Bundesländern hat man es mit anderen Mächten als einzig den Organen
der repräsentativen Demokratie zu tun: Was im Alltag Gewicht hat, sind vor
allem Dinge außerhalb der Parlamente. Das ist ohnehin kein Naturzustand,
auch wenn der [8][Ost-Diagnostiker Steffen Mau] kühl sagt, dass die
rechtspopulistischen Verhältnisse nicht über Nacht verschwinden werden, sie
haben auf absehbare Zeit Dauer.
Ist der Traum von einer bunten Republik also ausgeträumt? Sollte jetzt, wie
jüngst der Spiegel nahelegte, vom Faschismus spekuliert werden? Dass er
näher komme? Ich halte das für eine teufelsanbeterische Haltung. Klüger
ordnete das vor kurzem Nancy Pelosi, Grande Dame der Strippenzieherei im
US-Repräsentantenhaus und Hassobjekt Nummer eins des rechten US-Mobs, ein.
Sie antwortete auf die Frage, wie sie all die Jahre unter Trump und anderen
Präsidenten ausgehalten habe, nur dies: Politische Verhältnisse, das habe
sie in ihrem Leben gelernt, können sich ändern. Immer. So eben [9][auch im
Osten unserer Republik]. Die Marginalität der Anständigen und Bunten im
Osten, sie wird nicht ewig so sein.
31 Aug 2024
## LINKS
[1] /Zusammenarbeit-mit-der-AfD/!6029606
[2] /Brandmauer-in-Ostdeutschland/!6027118
[3] /taz-Talk-mit-Soziologe-Steffen-Mau/!6022132
[4] /Lehrkraefte-in-Thueringen/!6028387
[5] /Rechtsstaatlichkeit-in-Polen/!6013874
[6] /Demo-fuer-Brandmauer-in-Dresden/!6032152
[7] /CSDs-in-Sachsen/!6026782
[8] /taz-Talk-mit-Soziologe-Steffen-Mau/!6022132
[9] /Wahlen-in-Ostdeutschland/!6026467
## AUTOREN
Jan Feddersen
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