# taz.de -- Wahlen in Ostdeutschland: Was ist Ostidentität? | |
> Ostdeutsche teilen gemeinsame Erfahrungen, die ihre Identität geprägt | |
> haben. Doch Identitäten bestehen aus vielen Bausteinen und können sich | |
> ändern. | |
Neulich huldigte die [1][Berliner Zeitung einem 92-jährigen Mann: Wolfgang | |
Mitzinger]. Er war der letzte Energieminister der DDR und rühmt sich, trotz | |
Rohstoffmangels und Misswirtschaft dafür gesorgt zu haben, dass es in den | |
letzten Jahren der untergegangenen Republik keinen Blackout gab und Strom | |
stets in Strömen floss. | |
Wenn also jemand wisse, wie man Energiesicherheit in unsicheren Zeiten | |
herstelle, dann er: mit Kohle und Kernkraft. All das habe Mitzinger, führt | |
die Berliner Zeitung aus, sowohl dem grünen Wirtschaftsminister Robert | |
Habeck als auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) geschrieben. Auf all seine Briefe | |
habe der Experte, so wird er im Text tatsächlich genannt, nie eine Antwort | |
erhalten. Das sei doch unerhört, findet der frühere hochrangige SED-Kader. | |
Und das findet auch die Berliner Zeitung – und widmet dem Mann diesen | |
langen Text. | |
Was soll das? Erwartet uns vor drei ostdeutschen Landtagswahlen eine | |
weitere und noch verklärendere Ostalgie-Welle? Will man damit den Osten | |
erklären? Oder ist das einfach nur gaga? | |
Schon möglich, dass sich manche Ostseele durch Texte wie diesen | |
gestreichelt fühlt. Menschen aus der DDR, denen der Mauerfall und die damit | |
für sie einhergehenden Verletzungen noch immer in den Knochen stecken. Die | |
Wende war zugegebenermaßen für viele nicht nur Freude pur über Freiheit, | |
Reisen und Konsum, sondern ein Existenzkampf: Job- und Statusverlust, | |
Familien zerfielen, Lebenspläne mussten geändert werden. Kurz: eine | |
kollektive Abwertung, gebrochene Biografien, schmerzhafte Verluste. | |
Einerseits. | |
## Gelebtes Leben formt die Identität | |
Andererseits liegen Mauerfall und Einheitsvollzug mittlerweile 35 Jahre | |
zurück. Ein Drittel Leben der Älteren, ein halbes Lebens der Mittelalten. | |
Nach wie viel Jahren ist Schluss mit Vergangenheitsschönmalerei und | |
Rückwärtsgewandtheit? Mit dem Geraune, es sei doch nicht alles schlecht | |
gewesen in der DDR? Denn zurückhaben wollen die wenigsten Ostdeutschen die | |
DDR. | |
Doch unabhängig davon sind gelebtes Leben und eine dadurch entstandene | |
Identität – im Falle von Ostdeutschen eben im Osten – nicht so leicht | |
abzustreifen. | |
Und es stellt sich die Frage: Ostidentität – was ist das eigentlich? Ist es | |
das Gefühl, im Osten zu Hause zu sein? Sind es die mit 17 Millionen | |
anderen Menschen geteilten Erfahrungen? Resultiert aus dieser gemeinsamen | |
Historie inzwischen ein Selbstverständnis von „proud Ossis“, wie es der in | |
[2][Dresden geborene Schauspieler Jan Josef Liefers einmal ausdrückte? Er | |
sagte: „Wir haben schon mal ’ne Regierung gestürzt, also fuck you!“] Oder | |
ist es eine Selbstbeschreibung, die sich möglicherweise erst nach dem | |
Mauerfall und in Abgrenzung zu Westdeutschen entwickelt hat? | |
Der Historiker Patrice Poutrus wurde in Ostberlin geboren, hat einen | |
sudanesischen Vater und seine Dissertation über die Geschichte des | |
Goldbroilers geschrieben. Wenn er nach seiner Identität gefragt wird, sagt | |
er so etwas wie: Wer ich bin, was mich ausmacht, wem ich mich zugehörig | |
fühle und ob das anerkannt wird, das hängt von vielen und sich ständig | |
wandelnden Faktoren meines Lebens ab. | |
## Oststolz und Osttrotz | |
Identitäten können wechseln, niemand muss dauerhaft festgelegt sein auf | |
eine wie auch immer geartete Fremd- oder Selbstzuschreibung. Eine | |
eindeutige Ostidentität als kollektives Konstrukt gibt es nicht. Und das, | |
was als solche benannt wird, ist nichts Homogenes, sondern etwas Diffuses | |
mit vielen Facetten. Der Soziologe Steffen Mau schlussfolgert: „Die | |
Ostdeutschen sind durch Gemeinsamkeiten verbunden, die sie mit anderen – | |
den Westdeutschen zum Beispiel – nicht teilen.“ Der Titel des Essays, aus | |
dem dieser Satz stammt, heißt bezeichnenderweise „Oststolz und Osttrotz“. | |
Doch was heißt das konkret? Zum Beispiel das: [3][40 Prozent der Menschen | |
in Ostdeutschland definieren sich einer Umfrage von Infratest Dimap zufolge | |
explizit als „Ostdeutsche“ und nur 52 Prozent als Deutsche]. Das | |
verwundert, denn schon kurz nach dem Mauerfall ertönte auf ostdeutschen | |
Straßen der Ruf nach Wiedervereinigung: „Wir sind ein Volk!“ Den | |
Demonstrierenden konnte es gar nicht schnell genug gehen mit dem | |
Zusammenschluss beider deutscher Staaten. Fragte man sie, wie das neue Land | |
heißen sollte, kam die Antwort blitzschnell: Deutschland. Identität? | |
Deutsch. Ostdeutsch? Auf keinen Fall! | |
In den Wendewochen war auch ich auf der Straße: für Freiheit und | |
Demokratie. In den Wochen nach dem Mauerfall hingegen blieb ich zu Hause, | |
die Ein-Volk-Rufe waren mir nicht nur zuwider, ich verstand sie auch nicht. | |
Was hatte ich mit den Millionär:innen in Hamburg-Blankenese, den | |
Autobauern in Stuttgart, den Hausbesetzer:innen in Kreuzberg zu tun? | |
Kurioserweise wurde ich, als ich mich in den ersten Monaten nach dem | |
Mauerfall vor allem in Kreuzberg 36 auf der Suche nach dessen Mythos | |
herumtrieb, für eine Anwohnerin gehalten. Darüber war ich so irritiert wie | |
entrüstet. Ich fühlte mich „im Westen“ die ersten Jahre nach dem Mauerfall | |
wie eine Touristin, genauer: wie eine ostdeutsche Touristin. Mit der | |
Fremdzuschreibung „eine von uns aus Westberlin“ hatte ich damals so viel zu | |
tun wie ein Wolfsburger VW-Monteur mit einem Fahrrad. | |
## Die Leichtigkeit der Anarchos | |
Schon bald war ich mit westdeutschen Hausbesetzer:innen befreundet und | |
hätte mir vorstellen können, in ihr Haus zu ziehen. Aber nicht in | |
Kreuzberg, sondern dort, wo ich mich auskannte und – Achtung! – zu Hause | |
fühlte: im Osten. An der Ecke August- und Tucholskystraße in Berlin-Mitte | |
hatten Künstler, Studis, Sozialhilfeempfänger:innen ein | |
heruntergekommenes Haus besetzt. | |
Die Treppen waren morsch, die Toiletten zerbrochen, die Winter ohne | |
Heizung. Aber die Leichtigkeit, mit der diese Anarchos – allesamt Kinder | |
reicher Eltern, wie ich später mitbekam – das Leben nahmen, die Partys und | |
der schönste Blick vom Hausdach auf die goldene Kuppel der Synagoge | |
gegenüber, waren für mich der Westen im Osten. | |
Heute fühlt sich knapp die Hälfte der Ostdeutschen als „Bürger zweiter | |
Klasse“. Das mag man ihnen gar nicht verwehren. Der Westen pumpt zwar noch | |
immer viel Geld in den Osten, aber wie der Osten wirklich tickt, war ihm | |
bis jetzt weitgehend egal. Und: Ostdeutsche sind als Elite in Politik, | |
Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur unterrepräsentiert. | |
Äußerungen, der Osten habe das mit der Demokratie noch immer nicht | |
begriffen, sind kontraproduktiv und produzieren statt einem | |
Zugehörigkeitsgefühl Abwehr, (Ost-)Trotz und das Gefühl, weiterhin | |
ausgegrenzt zu sein. | |
## Neid auf den reichen Wessi nebenan | |
Gleichzeitig geht es den allermeisten Ostdeutschen heute finanziell besser | |
als in der DDR, selbst den Ärmeren. Wer sich allerdings fortlaufend mit dem | |
Lebensstandard von Westdeutschen vergleicht, der von vornherein höher war | |
und in den vergangenen Jahren ebenfalls gestiegen ist, bekommt unweigerlich | |
schlechte Laune. Die meisten Milliardäre leben in den USA, China und | |
Indien. Aber die sind weit weg und somit keine Referenzgröße. Neidisch ist | |
man auf den reichen Wessi nebenan. | |
Das ist verständlich, aber gefährlich für unsere Gesellschaft, der ein | |
weiterer Rechtsruck droht. In erster Linie aber für jene Ostdeutschen, die | |
sich in diesem Gefühl eingerichtet haben. Das Verharren in der Haltung, | |
übersehen, missachtet, diskriminiert zu werden, sorgt dafür, sich in der | |
Vergangenheit zu verorten und sich der Gegenwart zu verweigern. | |
Das führt zu Starre und verhindert einen selbstbestimmten Aufbruch, die | |
Übernahme von Eigenverantwortung für sich selbst. Es ist ja so schön | |
einfach, anderen die Schuld dafür zu geben, wenn es mit dem eigenen | |
Werdegang nicht ganz so geklappt hat wie geplant. Doch es sind nicht allein | |
die einst widrigen Umstände, die einen persönlichen Neuanfang verhindern. | |
Für diese Erkenntnis muss man kein FDP-Mitglied sein. Es reicht, wenn man | |
einfach nur beobachtet, welche Auswirkungen es auf Kinder hat, wenn Eltern | |
mantraartig auf die „Berliner Republik“ und „die da oben“ schimpfen, si… | |
verschwurbeln und ins politisch Extreme abgleiten. Vermutlich ahnen sie | |
nicht einmal, wie ihre Resignation und Destruktivität eine freie | |
Identitätsfindung ihrer Kinder behindert. | |
## Dritte Generation Ost | |
Der Schauspieler und Sänger Liefers hat das vor einiger Zeit in | |
Sachsen-Anhalt erlebt. Nach einem Konzert kamen zwei Teenager auf ihn zu | |
und sagten: „Schön, Herr Liefers, wenn mal einer von uns ganz oben | |
mitmischt.“ So erzählte es Liefers dem Spiegel. „Die kannten die DDR gar | |
nicht mehr. Ob Ost oder West inzwischen nicht längst egal wäre, hab ich sie | |
gefragt. Da schauten sie mich wissend an, wie zwei alte Opis, und | |
entgegneten ganz ernst: Herr Liefers, das wird noch lange nicht egal sein.“ | |
Glücklicherweise gibt es Netzwerke wie die „Dritte Generation Ost“ und „… | |
sind der Osten“. Der „Dritten Generation Ost“ gehören Frauen und Männer… | |
die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren und in der Bundesrepublik | |
aufgewachsen sind. Sie haben also den Vorteil, Leben und Alltag im | |
untergegangenen Land zu kennen, und sind gleichzeitig jung genug, um | |
politisch offen zu sein. Sie wollen das Bild des Ostens von Klischees und | |
Vorurteilen befreien, erst recht von solchen, die in der jüngsten | |
Vergangenheit eine Renaissance erfahren. | |
Gründungsmitglied Jeanette Gusko, 1984 in Ostberlin geboren und heute | |
Geschäftsführerin des Recherchekollektivs Correctiv, beschäftigt stark, wie | |
man die „eigene Beharrung“ überwinden kann: „Es gibt keinen Grund, jetzt | |
apathisch zu sein, sondern viel mehr Gründe zu sagen, wir wählen das Wir, | |
wir wählen eine empathische Verbundenheit untereinander.“ | |
Oder anders gesagt: Ja, es gibt diese DDR-Vergangenheit. Und ja, sie wird | |
unterschiedlich gesehen. Aber wenn wir genau das als Fakt anerkennen, dann | |
können wir unvoreingenommener miteinander umgehen. In Ost und West. | |
11 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/ddr-energieministe… | |
[2] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/ost-deutschland-jan-josef-lief… | |
[3] https://de.statista.com/infografik/23073/befragte-die-sich-in-erster-linie-… | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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