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# taz.de -- Debatte um Ostidentität: Haste was, biste was
> Zur Identität Ostdeutscher gehört, weitgehend besitzlos zu sein. Eine
> Ergänzung zum Essay über Ostidentität von taz-Redakteurin Simone
> Schmollack.
Bild: In der Erfahrung, Besitzloser zu sein, steckt ein großes Stück Ostident…
Die taz-Redakteurin [1][Simone Schmollack hat in der wochentaz vom 10.
August über Ostidentität nachgedacht] und dabei zwei Feststellungen
getroffen: Herkunft und Sozialisierung im Osten können auf Dauer nicht
alleiniges Merkmal für eine Ostidentität sein, sondern Identitäten bestehen
aus vielen Bausteinen. Wo sie als Ostidentität von Ostdeutschen auf Grund
verschiedener Lebenserfahrungen – meist auch schmerzlichen – gelebt wird,
ist sie sicher nicht so leicht abzustreifen. Ich stimme ihr zu, möchte aber
gern einen Gedanken hinzufügen.
Ich folge dem nachdenklichen Ton der Autorin lieber als dem schneidigen von
Ilko-Sascha Kowalczuk, der jetzt wieder stärker zu vernehmen ist, seit
[2][sein neues Buch] auf dem Markt ist. Betroffen machte mich eine
Einlassung, die er [3][nach dem AfD-Wahlsieg in Sonneberg] im Juli 2023
hier in der taz geäußert hat: „Aber auch hier wird so getan, als wenn
AfD-Wähler arme, verirrte Bürger sind. Aber das stimmt nicht: Wer Nazis
wählt, ist ein Nazi.“ Ich bin mir nicht sicher, ob diese Denunzierung etwas
nutzt, wenn wir am kommenden Sonntagabend die Wahlergebnisse der AfD
analysieren. Stimmt sein Nazivergleich, könnte man nur noch aus Deutschland
auswandern.
Ich bin die Debatte über ostdeutsche Identität und Störungen der deutschen
Einheit seit 1990 mit wachsendem Abstand zur Wende ohnehin leid. Auch weil
[4][Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“]
dazu viel Richtiges gesagt hat. Kowalczuk kommt den Lesern in seinem neuen
Buch mit einem neuen Deutungsschlüssel: Der Freiheitsschock, den die
Ostdeutschen in der Wendezeit erlitten hätten, habe dazu geführt, dass sie
sich in der Rolle der Opfer eingerichtet hätten. Sie seien
transformationsmüde, blickten zurück und da stünde die AfD mit offenen
Armen. Das bringt mich auf die Frage: War denn die Anerkennung der
Ostdeutschen, die sich mit der friedlichen Revolution ihre Freiheit
erkämpft haben, nur Gerede? Mit dem Ziel, dass sich die westdeutsche Elite
bei ihrem Sprung in den Osten auch diesen Sieg aneignen kann?
## Der Osten gehört dem Westen
Die Ostidentität ist keine Erscheinung, die demnächst abzustreifen ist. Es
wäre eine Illusion zu glauben, dass an dem Tag im fernen Jahr 2029, an dem
die Bundesrepublik in Halle an der Saale ihr Zukunftszentrum Deutsche
Einheit eröffnet, die Ostidentität ins Museum kommt. Nein, Ostidentität
wächst nach, zumindest so lange, wie die soziale Frage falsch oder nicht
beantwortet ist. Sie ist nämlich kein Ausdruck einer Opferrolle, sondern
Realität. Und die Realität heißt: Der Osten gehört dem Westen, im Sinne
von: Er ist sein Eigentum. Es gibt keine Region [5][in Westeuropa], wo den
Menschen, die dort wohnen, [6][so wenig Grund und Boden und Immobilien
gehören wie in Ostdeutschland]. Die Erfahrung, im eigenen Haus nur Mieter
zu sein, lässt die, denen aus welchen Gründen auch immer eine Kündigung
droht, immerhin Schutz im Mieterverein zu suchen. Der Mieterverein als eine
Art Schutz ist in meinem metaphorischen Denken Teil der Ostidentität.
Dazu folgende kleine Geschichte. Ein Mann, ein Westdeutscher, sympathisch,
sozial, Kulturmäzen, aber auch ein wenig einäugig, denn er übersieht bis
heute etwas Entscheidendes: Eigentumsverhältnisse. 1990 besuchte ein Mann
aus Westdeutschland [7][das sächsische Chemnitz] – und verliebte sich bei
seinen Streifzügen durch die Stadt in eine der schönsten Villen dort. Dazu
muss man wissen, dass in den 1920er Jahren in Chemnitz große Architekten
gewirkt haben. Chemnitz, Deutschlands Stadt mit dem größten
Bruttosozialprodukt in der Zwischenkriegszeit, konnte sich damals die
besten Architekten leisten. Jedenfalls sah der Mann eine Villa und
erkundigte sich, wie sie zu erwerben sei.
Aber da gab es schon jemanden mit einem ebenso heftigen Kaufwunsch. Der
war nicht nur der Altmieter, sondern auch ein alter Mieter. Er hatte sich
auf die Möglichkeit, das Haus zu kaufen, eingestellt und etwas Geld zur
Seite gelegt, zehn- oder zwanzigtausend Mark. Ostmark. Damit war im Sommer
1990, kurz vor der Währungsunion, kein Haus mehr zu kaufen. Also war der
Altmieter raus aus dem Spiel, das für ihn keines war. Gekauft hatte der
Haus der Westdeutsche, der viel mehr und in D-Mark zahlen konnte.
## Besitzlos zu sein, gehört zur Ostidentität
Als 1990 und in den nächsten Jahren nach dem Gesetz Rückgabe vor
Entschädigung gehandelt wurde und die Treuhand Tausende Klein-, Mittel- und
Großbetriebe zum Verkauf ausschrieb, reichte bei Ostdeutschen das Geld zum
Kauf nicht. Zwar war der Umtausch von Ostmark in Westmark mit 2:1 durchaus
fair, aber das Geld war vierzig Jahre lang woandershin gewandert. So kam es
– sicher nicht einmal mit Vorsatz –, dass der Osten bald komplett dem
Westen gehörte. Und irgendwann reimte sich Miete auf Profite.
In der Erfahrung, [8][Besitzloser zu sein, steckt ein großes Stück
Ostidentität.] Sie klebte nicht nur hartnäckig an den Fersen der
Wendegeneration, sondern hängte sich auch an ihre Kinder und vermutlich
demnächst an ihre Enkel.
In derselben Ausgabe der taz, in der Simone Schmollack über die
Ostidentität schrieb, las ich einen Artikel einer Theaterfrau über ihre
Erfahrungen in der sächsischen Provinz. Immer öfter erlebt sie, wovor ich
mich auch fürchte: dass die AfD ihre neuen Mehrheiten in den Kommunen dazu
nutzt, die Förderung von Kulturprojekten, die ihr nicht passen,
runterzufahren oder zu stoppen. Sie wünscht sich „eine Umverteilung von
westdeutschem Kapital aus Erbschaften, um für Zukünfte einzustehen und
progressive Kräfte zu unterstützen“.
Ich bekenne meine Sympathie für die Worte [9][der Theatermacherin Anna
Stiede], die diesen Wunsch formuliert hat. Ich glaube aber auch, dass eher
ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ihren Worten folgt.
Es gibt nur [10][eine Marlene Engelhorn], jene Millionenerbin, die ihr Geld
verschenken will. Solange die Nicht-Reichen im Osten unter sich bleiben,
trägt die Ostidentität resiliente Züge.
29 Aug 2024
## LINKS
[1] /Wahlen-in-Ostdeutschland/!6026467
[2] https://www.chbeck.de/kowalczuk-freiheitsschock/product/36959133
[3] /Fuenf-Monate-AfD-Landrat-in-Thueringen/!5978732
[4] /Soziologe-zu-deutschem-Ost-West-Konflikt/!6015104
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentums…
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155713/umfrage/anteil-der-bu…
[7] /Kulturaktivist-ueber-Chemnitz/!6026598
[8] /Lohnluecke-zwischen-Osten-und-Westen/!5948367
[9] /Kultur-in-Ostdeutschland/!6024571
[10] /Umverteilung-gegen-Armut/!5982912
## AUTOREN
Michael Hametner
## TAGS
Wahlen in Ostdeutschland 2024
Schwerpunkt Ostdeutschland
Immobilien
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Social-Auswahl
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Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Literatur
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