# taz.de -- 34 Jahre deutsche Einheit: Geteilte Wahrnehmung | |
> Ohne radikale Ehrlichkeit bleibt das „Zukunftszentrum deutsche Einheit“ | |
> nur ein Placebo. Für verlogene Narrative ist heute kein Platz. | |
Bild: Tag der Deutschen Einheit: In Berlin wurde am 3. Oktober 1990 innig gefei… | |
Am 3. Oktober 1990 besuche ich in Stuttgart die Cannstatter Wasen. In | |
Berlin wird am Reichstag die deutsche Vereinigung bejubelt. Naiv erwarte | |
ich, dass es auch auf den Wasen so etwas wie eine Einheitsfeier geben wird. | |
Seit einem halben Jahr wird damals in der Deutschen Verlagsanstalt unsere | |
bürgerbewegte Wochenzeitungsneugründung Sachsenspiegel zusammengestellt und | |
gedruckt. Dieser Abend auf dem [1][Volksfest] aber unterscheidet sich in | |
nichts von allen anderen auf den Wasen. | |
Kaum jemand ist beim Bier ansprechbar auf diesen historischen Tag. Meinen | |
kritischen Bericht druckt die westdeutsch verlegte Ostzeitung nicht. In der | |
völlig asymmetrischen Wahrnehmung dieses Vereinigungstages waren schon die | |
folgenden 35 Jahre angelegt. Aber nun winken endlich die lang beschworene | |
innere Einheit und tiefes gegenseitiges Verständnis. Denn in Halle wird ein | |
Tempel der Einheit errichtet, ein [2][Mekka der frohen gemeinsamen | |
Zukunft]. | |
Das am 18. Mai 2022 im Bundestag grundsätzlich beschlossene | |
„Zukunftszentrum Deutsche Einheit“ muss seiner Bestimmung nach ein | |
himmelsstürmender Bau werden! Vorläufige Baukosten von 200 Millionen Euro | |
und ein künftiges Jahresbudget von 42, 5 Millionen – mindestens. Wenige | |
hundert Meter vom vorgesehenen Bauplatz entfernt aber weiß ein Drittel der | |
spontan angesprochenen Hallenser noch nichts von der bald aufgehenden Saat | |
deutschen Gemeinschaftsglücks. | |
Die anderen erwarten am wenigsten einen Effekt für vertiefte deutsche | |
Einheitsgefühle. Die kommen vielleicht, wenn die Enkel groß sind, sagen die | |
Ü70er. „Die Jugend hat andere Probleme“, meinen die U20er. Doch ein | |
vermuteter lokaler Fördereffekt ist willkommen. Zuverlässig stellt sich der | |
Ossi-Dankbarkeitsreflex ein, wenn jemand Millionen und 200 Arbeitsplätze | |
mitbringt, um etwas Schönes zu bauen. | |
## Eigentlich gar kein Bedarf | |
Wo träfe man heute noch Ostdeutsche, die eine Heroisierung ihres | |
Aufbegehrens im Herbst 1989 wünschten? Vielleicht ahnen manche inzwischen, | |
wie naiv sie bis zur Währungsunion 1990 waren. Warum sollte es einem 32 | |
Jahre danach beschlossenen „Zukunftszentrum“ also anders ergehen als der | |
bereits 2007 beschlossenen und jetzt erst im Bau befindlichen Berliner | |
„[3][Einheitswippe“] oder dem Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig? In | |
beiden Fällen signalisierten endlose Debatten, dass eigentlich gar kein | |
Bedarf besteht. | |
„Jetzt wissen wir, wo die Brandmauer verläuft“, flachsten wir nach der | |
[4][Europawahl am 9. Juni]. Nämlich blau-schwarz exakt entlang der | |
ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Nicht nur politische Stimmungen, auch | |
alle sozioökonomischen Daten werden nach wie vor getrennt erfasst. Drei | |
Viertel der etwa 25.000 Umfrageteilnehmer von „[5][MDR fragt]“ sahen im | |
vorigen Jahr weiterhin strukturelle Ost-West-Unterschiede. 6 Prozent mehr | |
als 2022. Das Projekt Deutsche Einheit ist für sie unvollendet. 55 Prozent | |
geben zuerst „ostdeutsch“ als ihre gefühlte Identität an. | |
Das alles soll das „Zukunftszentrum“ auffangen. Anfang Oktober beginnt die | |
Auswertung des Architekturwettbewerbs. Die ersten 3,1 Millionen Euro | |
fließen für Büros und Personal, darunter der kunstaffine Geschäftsführer | |
[6][Michael Marten]. Wir leben in einer Zeit, die sich nur noch mit | |
kleineren Übeln tröstet. Also gilt es ab 2030 mit den Aufgabenschwerpunkten | |
Kultur, Dialog und Wissenschaft zu beweisen, dass es sich nicht nur um ein | |
Placebo handelt. Nach dem vorläufigen Konzept soll es vor allem um | |
Austausch mit den europäischen Nachbarn gehen. Ein vorbildlicher Ansatz. | |
Dialog und Wissenschaft aber müssen von radikaler Ehrlichkeit geprägt sein, | |
will dieses künstliche Einheitsmekka von Relevanz sen und auf Akzeptanz | |
stoßen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung [7][Carsten Schneider] hat | |
immerhin „Lust auf Provokation, um Leute aus scheinbaren Sicherheiten und | |
Urteilen herauszuholen“. Es gehe „nicht um deutsch-deutsches | |
Händchenhalten“. Einen „geschützten Raum für offene Streitkultur“ soll… | |
Zukunftszentrum bereitstellen. | |
## Keine beglückende Erfolgsgeschichte | |
Eine Illusion, solange sich das gesellschaftliche Klima nicht bessert. Hört | |
jemand noch etwas vom 2020 mit hohem Anspruch gegründeten „Institut für | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt“? In der akademischen Nische ist keine | |
Massenrelevanz zu erreichen. Die Vorstellung, eine Oma aus Bayern würde mit | |
dem ICE und ein Opa aus der Uckermark mit dem Bummelzug nach Halle | |
anreisen, um Vereinigungskummer auszutauschen, ist allenfalls amüsant. | |
Hat es vor 30 Jahren übrigens alles schon gegeben, als „Erzählwerkstätten�… | |
Konjunktur hatten. Eine von „13 deutschen Geschichten“, erschienen 1998 in | |
der Hamburger Körber-Stiftung, ist die meine. Man saß monatlich einen Abend | |
zusammen, nahm sich freundlich zur Kenntnis und verabschiedete sich wieder. | |
Zu radikaler Ehrlichkeit in der Forschung würde auch die Infragestellung | |
des Narrativs gehören, wonach die Wiedervereinigung eine überwiegend | |
beglückende Erfolgsgeschichte sei. | |
Ebenso die Legende, der Aufbau Ost sei ausschließlich durch großzügige | |
westdeutsche Spenden finanziert worden und nicht unterm Strich ein | |
Nullsummenspiel. Irrtümer der „Wir sind ein Volk“-Rufer 1989 und die daraus | |
folgenden mentalen Brüche und Entwurzelungen müssten massenpsychologisch | |
analysiert werden. „Umbruchserfahrungen sichtbar machen“ will das Konzept. | |
Muss man nicht, sieht doch jeder. | |
Transformationsforschung im osteuropäischen Vergleich ist gewiss ein | |
wichtiges, aber kein neues Thema. 140 Lehrstühle in Deutschland befassen | |
sich bereits damit. Auf die Kernfrage, ob es einen Vorteil für die | |
DDR-Bürger bedeutete, die reiche Bundesrepublik West umarmen zu dürfen, | |
gibt es noch keine schlüssige Antwort. | |
Immerhin: Es soll nicht nur um deutsche Einheitsduselei gehen. | |
Lustigerweise spricht der Entwurf von einem „Knotenpunkt“. Angemessener | |
wäre wohl ein „Entknotungspunkt“. | |
3 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.cannstatter-volksfest.de/de/landing-page/ | |
[2] /Begegnungszentrum-Deutsche-Einheit/!5912775 | |
[3] /Denkmal-fuer-die-deutsche-Einheit/!5824792 | |
[4] /Ergebnis-der-Europawahl-in-Deutschland/!6015596 | |
[5] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/umfrage-meinung-ost… | |
[6] https://www.burg-halle.de/hochschule/information/aktuelles/a/michael-marten… | |
[7] https://www.ostbeauftragter.de/ostb-de/aktuelles/gemeinsam-in-die-zukunft-2… | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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