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# taz.de -- Stimmung in Ostdeutschland: Mein Vater und die Grünen
> Vom ostdeutschen Zeitgeist scheinen die Grünen aktuell meilenweit
> entfernt zu sein. Unserem Autor kommt diese Situation bekannt vor.
Bild: Ziesar in Brandenburg 1992, die ersten Westautos sind angekommen
Drei Landtagswahlen im Osten und zweimal sind die Grünen aus Parlamenten
geflogen, in denen sie ohnehin eigentlich nie wirklich angekommen waren.
Das hatte personelle Konsequenzen, aber das Problem bleibt ungelöst. Grüne
Weltrettung und ostdeutsche Lebensrealitäten, das passt nicht. Obwohl die
Grünen mit „Bündnis 90“ als einzige Partei eine Reminiszenz an die
ostdeutsche Bürgerbewegung im eigenen Namen tragen, wird der Partei das
nicht gedankt. Und das wird auch so bleiben. Es ist Zeit für eine radikale
Neujustierung.
Der allgemeine Trend in den Analysen ist momentan eine Pauschalisierung:
Demnach sind die Ostdeutschen mit einer Rakete aus dem sozialistischen
Alltag in das materialistische Zeitalter geschossen worden. Seit 30 Jahren
fleißig arbeitend, erkennt man sehr wohl an, es geht aufwärts: Die
Einkommen steigen, die Ausstattung der Haushalte mit Konsumgütern ist
statistisch sehr gut, Reisen und andere Annehmlichkeiten können nicht
geleugnet werden und sind im Bericht des Ostbeauftragten genau erfasst und
nachzulesen.
Bei genauerer Betrachtung stellte man aber auch fest: Im Westen wurde noch
mehr verdient, und obwohl es auf der Karriereleiter im Osten aufwärts ging,
an der Spitze sitzt immer einer aus dem Westen. Die Autos im Westen sind
immer noch dicker und größer. Und wenn es mit der Wirtschaft mal eng wird,
dann werden die Standorte im Osten eben als erste geschlossen.
Eine saturierte Gesetztheit wie im Westen konnte sich da im Osten bisher
[1][nicht wirklich ausbreiten]. Der Wohlstand ist zwar da und erlebbar, er
erscheint aber fragil. Man traut dem ökonomischen Frieden nicht so recht,
es riecht noch zu sehr nach Almosen und einer immer noch zu erbringenden
Dankbarkeit.
Und dann kommen da die Grünen um die Ecke. Kaum hat man endlich das größere
Auto, die Flugreise und das schönere Haus, dann soll das schon alles wieder
verkehrt sein. Die Grünen in Ostdeutschland, das ist genauso absurd wie
damals die Grünen im Westdeutschland der 1980er Jahre.
## Kulturschock
Daher kurz zurückgespult an den Anfang der Grünen im Westen: Schon beim
Besuch des Mehringhofs in Kreuzberg, einem Zentrum mit Betrieben in
Selbstverwaltung, fuhr ihm der Schrecken in die Glieder, weil dort eine
Veranstaltung zur Einführung einer sozialistischen Einheitsrente
angekündigt wurde – für meinen Vater ein Graus! Die kulturellen Beigaben im
ehemals besetzten Fabrikgebäude, wie das Frühstück bis 17 Uhr, schreckten
da schon weniger.
Viel irritierter war er aber, als wir zu einer der ersten alternativen
Bäckereien liefen und es dort erst ab 10 Uhr frische Brötchen gab. Als
gelernter Müller und Bäcker war die Nacht für ihn früher um 3 Uhr zu Ende
gewesen, dafür gab’s die Brötchen schon um 6 Uhr. Zudem musste er
feststellen, dass an seinem um die Ecke abgestellten Mercedes der Stern
abgerissen war. Das war damals in Berlin so üblich.
Mein Vater war am Ende seines ersten Berlin-Aufenthalts so etwas wie
traumatisiert. Die konventionelle Welt des Westens und das wilde Berlin mit
der AL, das passte in den 1980er Jahren überhaupt nicht zusammen.
## Sicherheit erlaubt Versöhnung
Mein Vater besuchte mich dann aber doch jedes Jahr und am Ende seiner Tage
hatte er gar so etwas wie Verständnis dafür, dass es neben seiner eigenen
Welt auch noch eine andere gab.
Mein Vater lebte aber im Westen schon so etwas wie das postmaterialistische
Zeitalter. Er hatte mit seinen Fahrzeugen beim kleinen Lloyd angefangen und
war über Opel und BMW am Ende zu seinem Mercedes gekommen. Haus und
Grundstück gehörten ihm, alles schuldenfrei, keine Hypothek mehr drauf. Er
hatte nichts geschenkt bekommen, etwas Vorzeigbares und Anerkanntes
geleistet und aus dieser Selbstsicherheit konnte er eine Souveränität
entwickeln, die am Ende sogar die Grünen zuließ.
Diese Kultur der saturierten Sicherheit [2][gibt es im Osten so nicht], sie
entwickelt sich erst und braucht dazu noch sehr viele Jahre. Es gibt auch
noch keine eigenen Referenzpunkte zur Justierung des Geleisteten. Es ist
immer noch der Westen, [3][der Maß und Richtung vorgibt]. Und da kommen die
Ideen der postmaterialistischen Grünen natürlich nicht wirklich gut an und
stoßen auf [4][dasselbe Unverständnis] wie damals in Berlin.
## Bottom-up statt Top-down!
Grüne sind immer eine Bedrohung materialistischer Werte wie Auto, Eigenheim
mit Ölheizung. Denn wenn die großen Klimafragen aufgerissen werden und die
vortragenden Menschen selbst wie von Zauberhand von materiellen Zwängen
befreit erscheinen, wirkt das irritierend. Wie machen die das ohne Auto und
ohne Ölheizung? Es ist so, dass die Menschen auch im Osten den Klimawandel
nicht ignorieren. Aber man fragt sich bei den Grünen: Können die über
Wasser laufen? Haben die keine Schwäche? Wo wohnen die eigentlich und
fahren die wirklich alle mit dem Fahrrad?
Die Inhalte der Grünen werden und müssen auch von den anderen Parteien
übernommen werden. Denn es wird schon bald ums nackte Überleben auf diesem
Planeten gehen. Aber es bleibt beim Clash der Kulturen zwischen der
vorherrschenden materialistischen und der postmaterialistischen Welt.
Die Grünen müssten sich vom Flächenwahlkampf und von der Idee einer
Volkspartei im Osten auf Jahrzehnte verabschieden. Stattdessen sollten sie
sich als Freie Wähler in der Nische neu fokussieren, dort, wo sie Resonanz
finden, dort, wo die Lebensentwürfe auch gelebt und von anderen beobachtet
werden können. Bottom-up statt Top-down!
25 Oct 2024
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## AUTOREN
Andreas Knie
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