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# taz.de -- Streitgespräch über den Osten: Was war die DDR?
> Ein Unrechtsstaat oder eine heimelige Diktatur? Ein Streitgespräch
> zwischen der Schriftstellerin Anne Rabe und der Historikerin Katja Hoyer.
Bild: Frühe Nostalgie? Berlin, Prenzlauer Berg, 2. Oktober 1990: Ein Mann schw…
Debatten über Ostdeutschland kommen in Wellen. 2023 waren es Bücher, die
den Diskurs neu entfachten. Zwei Perspektiven stehen sich dabei gegenüber:
Eine, die die DDR und das Ostdeutschland der 90er Jahre vor allem als eine
Geschichte von Gewalt und Unterdrückung erzählt. Und eine andere, die
zeigen will, dass nicht alles schlecht war in der DDR.
Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, steht mit „Die Möglichkeit von Glück“
für die erste Gruppe. Ihr Roman erzählt die Geschichte einer systemtreuen
Familie, in der [1][Prügel und Demütigungen] zum Alltag gehören. Er stand
auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von den Kritiken
gefeiert.
Katja Hoyer, 1985 in Guben geboren, steht mit „Diesseits der Mauer“ für die
zweite Gruppe. Hoyer ist Historikerin, sie lebt und forscht in
Großbritannien. Sie hat ein Sachbuch geschrieben, eine Chronik der DDR.
Darin verknüpft Hoyer Zeitzeugengespräche mit historischer Einordnung. Sie
schreibt vom Aufbau der Staatssicherheit, aber auch von den beliebten
Bluejeans, vom Trabbi und vom staatlich organisierten Urlaubssystem. Diese
Gleichzeitigkeit hat Hoyer [2][viel Kritik eingebracht], auch von Anne
Rabe.
taz: Frau Hoyer, Frau Rabe, was war die DDR aus Ihrer Sicht?
Katja Hoyer: Die DDR war ein Land, in dem Menschen ganz unterschiedlich
gelebt haben. Natürlich war sie eine Diktatur, aber das heißt nicht, dass
man alles, was in ihr entstanden ist, unkritisch entwerten muss.
Anne Rabe: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Vor allem aber ist
sie nicht vorbei. Sie prägt uns weiter und ist nur mangelhaft
aufgearbeitet. Was fehlt, ist ein gesellschaftlicher Konsens über das, was
damals passiert ist – so, wie wir ihn für den Nationalsozialismus haben.
Das ist einer der Gründe, warum die AfD heute mit „Vollende die Wende“
Politik machen kann. Sie nutzt aus, dass wir nie richtig hinterfragt haben,
was die DDR war und was sie mit uns gemacht hat.
taz: Ihre Bücher setzen sich sehr unterschiedlich mit der DDR-Geschichte
auseinander. Wie bewerten Sie das Buch der jeweils anderen?
Hoyer: Das Buch von Anne Rabe ist eindringlich geschrieben. Bei der
Universalität der Gewalt im Osten, von der sie erzählt, gehe ich allerdings
nicht mit. Ja, es hat in der DDR Gewalt gegeben, viele haben sie erlebt.
Aber damit die gesamte ostdeutsche Gesellschaft erklären zu wollen, geht
mir zu weit.
Rabe: Ich finde gut, dass mit Katja Hoyer eine weitere jüngere Perspektive
zum Thema DDR aufgetaucht ist. Aber mir fehlt darin vieles, zum Beispiel
der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Man kann die DDR-Geschichte nicht
beschreiben, ohne zu erzählen, wie in Torgau Kinder und Jugendliche gequält
wurden, die als schwer erziehbar galten oder nicht in das Bild der
sozialistischen Gesellschaft passten. Von einer Chronik, wie Sie sie
geschrieben haben, erwarte ich, dass darin auch die Abgründe Platz finden.
Was mich auch irritiert, ist, wie Sie einzelne Ereignisse deuten, etwa den
Mauerbau. Sie schreiben, das Ziel der Mauer sei es gewesen, Menschen zu
schützen. Sie sollten damit von der Grenze abgehalten, weiteres
Blutvergießen sollte verhindert werden. Das ist mir zu nah an der
Rechtfertigung des Regimes.
taz: Frau Hoyer, die Kritik, Ihre Erzählung sei zu nah an dem Narrativ der
SED, formuliert nicht nur Frau Rabe. Wie nehmen Sie das wahr?
Hoyer: Das steht so nicht in meinem Buch. Die Mauer wurde gebaut, um die
Massenflucht in den Westen zu stoppen. Die Mauertoten, etwa die Geschichte
von Peter Fechter oder die unmenschliche Verhöhnung von DDR-Flüchtling
Günter Litfin, finden viel Platz im Buch. Andererseits habe ich aber auch
mit Menschen gesprochen, die weit von der Mauer weg gelebt haben. Die haben
mir gesagt, die Mauer habe sie nicht tangiert. Hätte ich diese Geschichten
ignorieren sollen, weil sie nicht in das Narrativ von der
Allgegenwärtigkeit der Mauer passen? Ich verstehe, dass man wütend ist,
wenn man selbst Schlimmes in der DDR erlebt hat. Aber diese Geschichten
gibt es eben auch.
Rabe: In meinem Buch kommt der Mauerbau auch nicht vor, weil ich in den
Aufzeichnungen, die meinem Buch zugrunde liegen, nichts darüber gefunden
habe. Ich kann also bestätigen, dass Leute in der Provinz das Gefühl
hatten, die Mauer tangiere sie nicht.
Hoyer: Viel Widerspruch zu meinem Buch kam von ehemaligen Dissidenten. Sie
sagen auch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft zwischen 1953 und 1989
nicht aufgelehnt hat. Die bisherige DDR-Aufarbeitung hat dennoch aus
moralischen und geschichtspolitischen Gründen immer die Bürgerrechtler in
den Mittelpunkt der DDR-Geschichte gestellt. Und jetzt komme ich und stelle
die Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt – weil die Bürgerrechtler eben
damals nur ein kleiner Teil der Gesellschaft waren.
Rabe: Es stimmt, dass sich die Mehrheitsgesellschaft dem Regime angedient
oder sich ihm sogar unterworfen hat. Das könnte man aber auch als Kritik an
dieser Gesellschaft formulieren. Und dazu passt wieder die Geschichte vom
Mauerbau, der viele Leute angeblich nicht tangiert hat. Das ist eine
Selbstlüge.
taz: Inwiefern?
Rabe: Natürlich waren auch die Menschen, die sich mit dem System arrangiert
haben, von der Politik und der Unterdrückung des Staates betroffen. Das hat
sie geformt. Der Alltag in den Schulen, die Indoktrinierung oder das
Vorführen etwa von kirchlichen Kindern, die vor der Klasse bloßgestellt
wurden. Das sind ja Dinge, von denen viele sagen mögen, das habe sie nicht
betroffen. Aber das stimmt nicht. Mein Ansatz ist es, diese Selbstlüge zu
hinterfragen. Alltag und Diktatur lassen sich nicht voneinander trennen.
Hoyer: Ich trenne Diktatur und Alltag auch nicht. Im Gegenteil: Ich stelle
Anekdoten der Menschen voran und zeige dann, wie sie von der Politik und
den Verhältnissen geprägt waren. Als Historikerin war es mir wichtig, zu
verstehen und zu erklären. Das mag in Deutschland befremdlich wirken, weil
hier aus guten historischen Gründen sehr moralisch über Geschichte
gesprochen wird. Aber ich bin Historikerin, ich versuche die Geschichte aus
sich selbst heraus zu analysieren.
Rabe: Sie sagen, dass die Geschichte der DDR bisher immer aus der
Perspektive der Bürgerrechtler und der [3][Opfer der Diktatur] erzählt
wird. Ich bin mir da nicht sicher. Es ist ja einerseits so, dass die
Forschung zur DDR unglaublich weit ist. Da ist viel Geld geflossen, vieles
ist gut erforscht. Andererseits kommt dieses Wissen nicht in der
Gesellschaft an. Viele Leute trennen weiterhin zwischen Alltag und
Diktatur. Ein Klassikersatz aus meiner Kindheit, den ich heute noch oft
höre, ist: Wenn man sich nichts zuschulden hat kommen lassen, hatte man
auch keine Probleme. Übersetzt bedeutet das: Wer einen Konflikt mit einem
System hatte, war selber schuld. Was mir total fehlt in unserer
ostdeutschen Aufarbeitung sind die Geschichten von Opfergruppen, die nichts
mit der Stasi zu tun hatten. Wie etwa die Opfer der [4][Erziehungsgewalt in
den Jugendwerkhöfen].
taz: Frau Rabe, Katja Hoyer kritisiert an Ihrem Roman, dass Sie von einer
individuellen Geschichte der Gewalt auf die ganze Gesellschaft, ja sogar
auf Ostdeutschland heute schließen. Hat sie Recht?
Rabe: So ist mein Buch nicht gemeint. Ich habe bewusst eine sehr spezielle
Familie gewählt, eine systemtreue, mit Parteimitgliedern und Funktionären.
Natürlich waren nicht alle Familien so, nicht in allen gab es Gewalt. Und
natürlich gab es Gewalt auch in Westdeutschland. Aber dort gab es eben nach
den Skandalen an der Odenwaldschule oder am Canisius-Kolleg Debatten um
Erziehungsgewalt. Opfergruppen haben sich gegründet, Interessensverbände,
Vereine. In Ostdeutschland gibt es das fast gar nicht, weil die Opfer das
Gefühl haben, in dieser Gesellschaft keine Verbündeten zu finden, die sie
unterstützen. Sie stoßen auf die alten Narrative von „Selber schuld“ oder
„Das gab es bei uns nicht“.
taz: Sie sind beide Mitte der 80er Jahre geboren, haben nicht mehr viel DDR
erlebt. Wie nehmen ältere Generationen Ihre Bücher wahr?
Rabe: Ich erlebe häufig, dass uns Jüngeren unterstellt wird, wir können
darüber nicht sprechen. In keiner anderen historischen Frage wird die
Zeitzeugenschaft so hoch gehängt.
Hoyer: Wie wichtig die Zeitzeugenschaft beim Thema DDR ist, erlebe ich
auch. Bei Lesungen kochen immer wieder Emotionen auf allen Seiten hoch. Es
ist eben doch noch die eigene Geschichte für Millionen von Menschen.
taz: Sind Ihre Bücher symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der DDR
in Ihrer Generation?
Rabe: Wir stehen vor dem Problem, dass unsere Eltern- und
Großelterngeneration eine gewisse Gefolgschaft fordert. Viele Diskussionen
werden schnell existenziell. Da geht es nicht mehr um Inhalte, sondern
darum, abzuklopfen: Bist du noch eine von uns? Konflikte werden in
Ostdeutschland immer noch als etwas Gefährliches gesehen, Widerspruch geht
sofort an die Substanz. Das ist auch eine Folge der Diktatur, in der man
keine freien Diskussionen führen konnte, wie Westdeutschland das mit den
Achtundsechzigern erlebt hat. Das trägt sich [5][bis heute fort]. Ich will
das nicht mitmachen. Deswegen erzähle ich radikal aus der Perspektive der
Nachgeborenen. Ich stelle die Selbstlügen der Älteren infrage.
Hoyer: Mein Ansatz war ein anderer. Ich lebe seit 2011 in Großbritannien.
Ich bin in erster Linie deutsch und britisch und dann erst ostdeutsch. Ich
habe das Buch als Historikerin geschrieben, nicht um die DDR in ein
besseres Licht zu rücken, sondern um zu zeigen, dass sie keine
Gegengeschichte zur BRD ist, sondern ein Kapitel in einer gesamtdeutschen
Geschichte.
taz: Frau Hoyer, Ihr Buch ist in den deutschen Feuilletons scharf
kritisiert worden. Ihres, Frau Rabe, wurde dagegen gefeiert. Im
persönlichen Gespräch mit Ostdeutschen erlebe ich es häufig andersherum: Da
ist das Buch von Frau Hoyer eher das, in dem sich Ostdeutsche wiederfinden.
Wie erklären Sie sich die Diskrepanz?
Hoyer: Ich denke, das liegt an dem Ansatz, die DDR zu erklären. Ich kriege
auch viele Zuschriften von Lesern, auch aus Westdeutschland, die schreiben,
dass sie durch mein Buch zum ersten Mal einen Zugang zur DDR gefunden
haben. Viele haben aufgehört, Dokumentationen über die DDR zu gucken, weil
sie sich denken können, was ihnen darin erzählt wird. Man kann die DDR
nicht nur über die Mauer und Stasi verstehen.
taz: Wie muss die Ostdebatte aus Ihrer Sicht laufen, damit sie konstruktiv
ist? Frau Rabe hatte am Anfang des Gesprächs einen Konsens gefordert.
Braucht es den, Frau Hoyer?
Hoyer: Auf Konsens zu drängen fände ich falsch. Geschichte lebt von
Diskussion. Wer entscheidet denn, was dieser Konsens ist, und was passiert
mit den Menschen, die ihn nicht teilen? Die trauen sich dann nicht mehr
offen mitzureden. Das habe ich in meinen Zeitzeugengesprächen erlebt.
Einige wollten nicht mal unter ihrem richtigen Namen sprechen. Die Art und
Weise, wie seit 1990 auch von der offiziellen Aufarbeitungspolitik her
gearbeitet worden ist, hat viele Menschen ausgeschlossen – eben die, die
nicht nur negative Erinnerungen an die DDR haben. Dann fühlen sich diese
Menschen angegriffen, ziehen sich zurück, werden wütend. Das hat dazu
geführt, dass sich einige eingeigelt haben in ein „Wir gegen Die“-Gefühl.
Wir brauchen keinen Konsens, sondern Debatten, in denen alle mitreden
können.
Rabe: Das ist nicht der Konsens, den ich meine. Ich meine eher, dass viele
Menschen noch zu wenig wissen. Nehmen wir das Thema Jugendwerkhöfe. In
meinen Lesungen frage ich oft, wer weiß, was das war. Dann sagen achtzig
oder neunzig Prozent, dass sie davon nie gehört haben. Das kann doch nicht
sein. Das zeigt, dass die Aufarbeitung gescheitert ist. Mit Konsens meine
ich, dass wir alle wissen, dass es in der DDR furchtbare, abgrundtiefe
Verbrechen gab. Und wenn wir das anerkennen, dann führen wir hoffentlich
Diskussionen darüber, was das aus uns gemacht hat und keine Diskussionen
mehr darüber, dass Gewalt an Schulen in der DDR viel früher verboten wurde
als in der BRD. Denn es ist völlig egal, ob DDR-Lehrer ihren Schülern noch
Backpfeifen geben durften, wenn Kinder am Ende in solchen Anstalten wie
Torgau landen konnten. Man muss die Vergangenheit schon kennen, um aus ihr
lernen zu können.
Zum 35. Jubiläum des Mauerfalls veröffentlicht Kulturprojekte Berlin ein
Buch zum Thema Freiheit. Dieses Interview ist in dem Band enthalten. Das
Buch wird zum Mauerfall-Jubiläum kostenfrei erhältlich sein.
10 Nov 2024
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## AUTOREN
Anne Fromm
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