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# taz.de -- Parteien in Ostdeutschland: Tief verwurzelter Populismus
> Erst die AfD, jetzt das BSW: Das ostdeutsche Parteiensystem koppelt sich
> zunehmend ab. Die Wurzeln dieser Entfremdung vom Gesamtstaat reichen
> tief.
Bild: Wahlplakate der AfD und des BSW in Borkwalde, Brandenburg
In den Neunziger- und Nullerjahren haben PolitikwissenschaftsstudentInnen
gelernt: Das ostdeutsche Parteiensystem wird sich allmählich dem im Westen
angleichen. Die Linkspartei, früher PDS, galt als ostdeutscher Sonderfall,
der durch den Faktor Zeit allmählich von selbst verschwinden werde. Und die
Regierungsbeteiligungen der SPD der vergangenen Jahrzehnte führte man als
Beweis dafür an, dass sich selbst eine westdeutsche Partei, die nach 1989
komplett neu aus dem Boden gestampft werden musste, etablieren kann.
Inzwischen ist klar: Die Angleichungstheorie kann man getrost in den
Schredder geben. Seit 2014 gehen die Ergebnisse der AfD, die in drei
Ostländern offiziell als rechtsextrem eingestuft ist, nach oben. Und das
neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat bei den Europawahlen im Osten aus
dem Stand zweistellige Ergebnisse geholt; nach allen Umfragen dürften sich
die Zahlen bei den drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und
Brandenburg verfestigen.
Der Niedergang der Linkspartei wiederum kommt mit größerer Wucht als
prognostiziert. Die SPD kratzt bedrohlich nahe an der Fünfprozenthürde –
wer dies vor 15 Jahren prognostiziert hätte, wäre vermutlich ausgelacht
worden –, und die Grünen verharren als StudentInnenpartei in den
Innenstadtvierteln von Leipzig, Dresden und Jena. Darüber hinaus sieht es
karg aus.
Die ostdeutsche Parteienlandschaft wird heute dominiert von der AfD, dem
BSW und der CDU. Linke und SPD können noch von ihrem
MinisterpräsidentInnenbonus in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg
beziehungsweise Thüringen profitieren. Aber wie lange noch?
Nüchtern betrachtet hat sich das ostdeutsche Parteiensystem nach über 30
Jahren ehrlich gemacht. Die niedrige Wahlbeteiligung der Vergangenheit hat
verdeckt, dass die etablierten Parteien jenseits der CDU nur scheinbar
stark waren. Ein Ergebnis von 28 Prozent bei einer früher typisch
ostdeutschen Wahlbeteiligung von um die 50 Prozent sagte wenig aus über den
realen Rückhalt in der Gesamtheit der Wahlberechtigten. Seit einigen Jahren
geht die Wahlbeteiligung im Osten nach oben – aber nicht zugunsten der
linken und Mitte-links-Parteien.
Warum unterscheidet sich die ostdeutsche Parteienlandschaft so fundamental
von der westdeutschen? Besonders das BSW als neues Phänomen gibt Aufschluss
darüber, weil es dabei ist, sich zum Repräsentanten der Befindlichkeiten
und Mentalitäten der ostdeutschen Mitte zu entwickeln. Die Partei bindet
WählerInnen, denen die AfD zu radikal ist und die CDU zu sehr Staatspartei.
Natürlich ist der Russlandversteher-Faktor des BSW mitentscheidend, den die
CDU als durch und durch westdeutsch-transatlantisch geprägte Partei im
Osten nicht bieten kann und will.
Aber darüber hinaus [1][richtet sich das BSW an ein spezifisch ostdeutsches
Milieu], das an Werte wie Leistung, Eigentum, Regeln und soziale
Gerechtigkeit glaubt, sich aber vom Staat betrogen oder drangsaliert sieht.
Man definiert sich als Teil der Mitte, fühlt sich aber zugleich
ausgeschlossen. Deshalb verfängt hier der „Die da oben“-Populismus
Wagenknechts.
## Prekäre Mitte
Auffallend ist: Die Fanbasis des BSW [2][machen überdurchschnittlich häufig
Kleinunternehmer und Angestellte in der Privatwirtschaft] aus. Es ist ein
Milieu, das die Regeln der westdeutschen Marktwirtschaft durchaus
verinnerlicht, aber ökonomisch mehr zu kämpfen hat, weil es bei Krisen
weniger auf geerbtes oder erwirtschaftetes old money zurückgreifen kann.
Wenn bei einem westdeutschen Kleinunternehmen oder einer
Mittelschichtsfamilie eine Steuernachzahlung des Finanzamts oder höhere
Energierechnungen eintrudeln, können diese in der Regel aus Rücklagen
bezahlt werden – in Ostdeutschland kann so etwas wegen der geringeren
Kapitalbasis schnell bedrohlich sein. Das erklärt, warum das Wettern Sahra
Wagenknechts gegen hohe Energiepreise so verfängt.
Dazu: Sie fordert Entlastungen für den Mittelstand und [3][einen höheren
Mindestlohn]. Im Osten ist dies kein Widerspruch, denn es gehört zum
kollektiven ostdeutschen Erfahrungsschatz, dass man schnell durch den Rost
des Sozialsystems fallen kann. Insofern hat das BSW eine Marktlücke
besetzt, die sowohl die neoliberalen Parteien FDP und CDU als auch die
etatistischen Parteien SPD und Linke ignoriert haben.
## Gegen „Berlin“
Die Kritik, dass das BSW eine Retortenpartei mit Top-down-Strukturen sei,
verfängt ebenfalls nicht. Die SPD wird noch in 10 Jahren vergeblich
versuchen, im Erzgebirge ein funktionierendes Ortsvereinssystem aufzubauen
– Wagenknecht und ihre Strategen haben kühl erkannt, dass man mit
klassischem Parteiaufbau nicht weit kommt im Osten: Das
Demokratieverständnis ist hier direkter, plebiszitärer, weniger an
herkömmlicher Parteiarbeit orientiert, [4][wie der Soziologe Steffen Mau
feststellt].
Und was der gemeinsame Nenner von AfD und BSW – bei allen gravierenden
Unterschieden – ist: Sie eint, dass sie sich als populistische Stimme gegen
den Bund in Berlin und dessen Politik wenden: gegen die Coronapolitik und
die Ukraine-Unterstützung, gegen ungeregelte Migration, gegen als gängelnd
wahrgenommene Heizungsgesetze, gegen „Genderwahn“. Hier wird eine
Entfremdung vom Gesamtstaat deutlich, die mit den Jahren offenbar stärker
und nicht kleiner geworden ist.
Die gute Nachricht ist: Parteibindungen sind zwischen Warnemünde und Suhl
schwächer ausgeprägt; eine Partei kann schnell als neuer strahlender Stern
auftauchen, aber im Fall von Enttäuschungen bei einer Regierungsbeteiligung
auch ebenso schnell wieder verglühen. Doch fest steht: Das ostdeutsche
politische System funktioniert fundamental anders. Was das für den
vielbeschworenen inneren Zusammenhalt der Republik bedeutet und wie den
Ursachen des ostdeutschen Populismus beizukommen ist, darüber muss dringend
geredet werden.
24 Aug 2024
## LINKS
[1] /Niedergang-der-Linkspartei/!6016387
[2] /Wagenknecht-Partei-gegruendet/!5982170
[3] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw17-de-mindestlohn-9997…
[4] https://www.zeit.de/2024/26/steffen-mau-ostdeutschland-westdeutschland-unte…
## AUTOREN
Gunnar Hinck
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