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# taz.de -- Sahra Wagenknecht: Potenzial für eine Retro-BRD-Partei
> Wagenknechts Pläne muss man nicht mögen. Aber sie könnte von der
> linksliberalen Überheblichkeit gegenüber den vermeintlich „Abgehängten“
> profitieren.
Bild: Sahra Wagnknecht bei der Pressekonferenz zur Gründung des Vereins „Bü…
Wie entstehen eigentlich neue Parteien, und unter welchen Bedingungen
werden sie dauerhaft erfolgreich? Diese Fragen sind wieder aktuell, seit
Sahra Wagenknecht mit ihrer Parteigründung Ernst macht. Die Spitze ihrer
Ex-Partei ist empört und verschweigt dabei, dass sie Wagenknecht noch bei
der Bundestagswahl 2021 [1][gern als Zugpferd für die Linkspartei im
Wahlkampf einsetzte], obwohl der Riss damals schon deutlich war.
Erfolgreiche Parteien entstehen entlang eines neu auftauchenden
gesellschaftlichen Konflikts. Ein Blick zurück: Die Grünen etablierten
sich, weil vor über 40 Jahren keine der anderen Parteien die ökologische
Frage richtig ernst nahm, und das noch zu einem Zeitpunkt, als Flüsse
Kloaken glichen und Smog in Großstädten nichts Ungewöhnliches war. Die
Piratenpartei hingegen verglühte ziemlich schnell, weil Digital- und
Softwarethemen dann doch nicht für eine nennenswerte Zahl von WählerInnen
relevant waren.
Das Zuschneiden auf eine Person – Wagenknecht – wirkt auf den ersten Blick
gewagt und für Deutschland untypisch. Doch gibt es nüchtern betrachtet
Potenzial für charismatische PopulistInnen, und das schon seit Langem.
Gerhard Schröder stieg auf, [2][weil er seine Popularität aus der
Bevölkerung] und ziemlich vielen Medien zog, aber nicht old school aus dem
eigenen Parteiapparat. Aber anders als Wagenknecht konnte Schröder damit
seine eigene Partei kapern.
Wie jede begnadete Populistin macht Wagenknecht Dinge größer, als sie sind,
die aber einen wahren Kern haben. Wenn sie über die
Latte-macchiato-mit-Hafermilch-Fraktion in Berlin-Mitte lästert, spricht
sie den Bevölkerungsteil an, der auf dem Dorf oder in der Kleinstadt lebt,
in einem klassischen Job in der Industrie oder in der Verwaltung arbeitet
oder einen Handwerksbetrieb besitzt, einen Diesel fährt, die neuesten
informellen Sprachregeln lächerlich findet und gern nach Mallorca fliegt.
Und lieber Filterkaffee mit Kaffeesahne trinkt.
Es sind diejenigen, denen die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen
Entwicklungen – Ökotransformation, Globalisierung – einfach zu schnell
gehen oder die sie ganz ablehnen. Das ist in der Tat ein gesellschaftlicher
Konflikt.
Profitieren dürfte Wagenknecht auch von einer paternalistischen
Überheblichkeit, mit der diesen Milieus begegnet wird, etwa wenn – auch
linke – Medien von [3][den „Abgehängten“ sprechen], die man „mitnehmen…
denen man das mit der Wärmepumpe einfach noch mal genauer erklären muss.
So, als wären sie kleine Kinder, die man an die Hand nimmt und die
Nachhilfeunterricht brauchen.
## Facharbeiter und Post-SED-Milieu
Wagenknechts Formel geht, vereinfacht gesagt, so: ein bisschen Kulturkampf
plus Retro-BRD-Modell plus klassische Umverteilung und billiges russisches
Gas. Strategisch gesehen ist das nicht blöd: Im Westen dürfte sie den
Facharbeiter ansprechen, der sich früher als rechter SPD-Wähler sah; im
Osten das Post-SED-Milieu, das wirtschaftspolitisch links, kulturell aber
eher konservativ denkt. Deren Weltbild kann man aus guten Gründen ablehnen.
Aber der Spaltungsvorwurf greift zu kurz – man nennt es Demokratie, wenn
neue Parteien Stimmungslagen aufnehmen und sich zur Wahl stellen.
Wagenknechts Weg von der innerparteilichen Dissidentin zur Parteigründerin
ist auch ein Lehrstück in Mediendemokratie. Die Medien haben sie erst groß
gemacht: Skurril ist es, wenn in Features über Wagenknecht-Aufritte vom
„großen Medienauflauf“ berichtet wird – aber der jeweilige Journalist mit
seiner Präsenz ja mit zu diesem Medienauflauf beigetragen hat.
Wagenknecht war in den neunziger und nuller Jahren eine eher schüchterne,
tastende Person; [4][im Interview mit dem Journalisten Günter Gaus 2004 –
im Netz zu finden] – redete sie lieber nachdenklich über Hegel und den
Menschen im Sozialismus, als gewagte Thesen über das Tagesgeschehen von
sich zu geben.
## Lieber nicht Röttgen
Heute wird sie in Talkshows für die Rolle „Streitbar und charismatisch als
Kontrapunkt zu Norbert Röttgen“ gebucht. Und sie gefällt sich in der Rolle
– eine klassische Wechselwirkung zwischen den Erwartungen anderer und der
eigenen Lust, im Scheinwerferlicht zu stehen. Auch dadurch ist sie immer
populistischer, rhetorisch härter geworden: Wenn sie die Ampel als
„wahrscheinlich schlechteste Regierung“ der Bundesrepublik bezeichnet, weiß
sie sicherlich selbst, dass das Quatsch ist.
Abregen und Gelassenheit sind zu empfehlen. Wenn die Wagenknecht-Partei
tatsächlich Erfolg haben sollte, würde sich eine Repräsentationslücke im
Parteiensystem schließen. Und sie dürfte die AfD kleiner machen – gut so.
Wenn nicht, wird sich die Partei als Strohfeuer erwiesen haben. Der
Lackmustest wird kommen, bei den Wahlen im nächsten Jahr.
28 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2021/07/12/wiss-j12.html
[2] /Vor-der-Scholz-Wahl-zum-Kanzler/!5809695
[3] https://www.sueddeutsche.de/kultur/abgehaengte-bevoelkerungsgruppen-afd-wae…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=qVZi7UdS-qA
## AUTOREN
Gunnar Hinck
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Amira Mohamed Ali
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