# taz.de -- 35 Jahre Deutsche Einheit: Feierlich wieder auseinander vereinigt | |
> Umfragen belegen wieder wachsende Fremdheitsgefühle unter Deutschen. | |
> Tiefergehende mentale Ursachen erfassen die Demoskopen dabei nicht. | |
Bild: Dresdner feiern ausgelassen und hoffnungsvoll die Deutsche Wiedervereinig… | |
Dresden taz | Auch der frühere Bundeskanzler Willy Brandt ahnte nicht, was | |
kommen würde, als er am Tag nach dem Mauerfall im November 1989 den | |
vielzitierten Satz sprach: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“. | |
Immerhin ahnte Brandt einen längeren Prozess. Der Satz gilt 36 Jahre später | |
immer noch, falls man einen Sinn des „Zusammenwachsens“ weiterhin | |
unterstellt. Das halten [1][laut MDR-Umfrage] weiterhin drei Viertel für | |
wünschenswert. | |
Vier Tage vor dem Jahrestag des formalen Beitritts der DDR zur | |
Bundesrepublik [2][schockierte das Forsa-Meinungsforschungsinstitut] mit | |
einer deprimierenden Umfrage. Nur noch ein reichliches Drittel aller | |
Deutschen konstatiert ein solches Zusammenwachsen zu einem Volk. Für 61 | |
Prozent überwiegt eher das Trennende, im Osten empfinden es sogar drei | |
Viertel so. | |
Vor allem Ältere, in der Generation U30 fühlt erwartungsgemäß fast die | |
Hälfte gesamtdeutsch. Das Onlineportal „MDR fragt“ mit 25.280 Teilnehmern | |
kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Für zwei Drittel hat der 3. Oktober | |
keine oder nur eine geringe emotionale Bedeutung. Nach wie vor bezeichnen | |
sich 55 Prozent zuerst als ostdeutsch, obschon zwei Drittel für sich | |
persönlich mehr Chancen durch den Mauerfall sehen. | |
Nach einem Zustimmungshöhepunkt 2019 wird der Stand des deutschen | |
Vereinigungsprozesses tendenziell immer negativer beurteilt. Damals sah | |
noch etwas mehr als die Hälfte die Einheit auf gutem Weg. Ist es Zufall, | |
dass im selben Jahr der Solidarpaktes II zur Finanzierung der Einheit | |
auslief? | |
## Saarbrücken liegt nicht im Osten | |
Entsprechend gering ist auch 2025 sowohl das private wie das öffentliche | |
Interesse an einem irgendwie erwärmenden Gedenktag. Die offizielle zentrale | |
Einheitsfeier findet in diesem Jahr im polizeilich höchstgesicherten | |
Saarbrücken statt, es reden die üblichen Verdächtigen. Landtage öffnen nach | |
geschlossenen Feierstunden. Sonst aber gilt dieser Feiertag den | |
allermeisten in erster Linie als Brückentag eines verlängerten Wochenendes. | |
In Dresden beispielsweise lädt nur die Stiftung Frauenkirche im Schatten | |
des kommerziellen Herbstmarktes vor der Kirche zu einem [3][„Markt der | |
Demokratie“] ein. Dem 17. Juni, dem Gedenktag der Original-Bundesrepublik | |
an den von der Sowjetunion niedergeschlagenen Aufstand in der DDR 1953, | |
erging es ähnlich. Wer als hoffnungsvoller und noch ein bisschen naiver | |
Ossi den 3. Oktober 1990 auf den Canstatter Wasen in Stuttgart erlebte, | |
kann hinsichtlich der Einheitsbegeisterung nunmehr eine vollständige | |
Ost-Westangleichung melden. Es war damals ein Rummeltag wie jeder andere, | |
das Vereinigungsereignis bemerkte kaum jemand, und das Feuerwerk um | |
Mitternacht wirkte künstlich aufgesetzt. | |
Keineswegs im Widerspruch zu äußerer Passivität bleibt aber dieser deutsche | |
Irgendwie-Zusammenschmeißprozess ein nervendes Thema. Belegt durch eher | |
leise Selbstverständigungs- und Selbstermunterungsbemühungen Ost einerseits | |
und eine Flut von Erklärungsbüchern und Interviews andererseits. „Dein | |
Ossi, das unbekannte Wesen“, um es mit den Sex-Aufklärungsfilmchen Oswalt | |
Kolles aus den 1960-ern zu sagen. | |
Wolfgang Engler, Dirk Oschmann, Katja Hoyer, Ilko-Sascha Kowalczuk oder | |
Steffen Mau heißen die derzeit vielleicht bekanntesten Propheten und | |
Exegeten. Ihre Bücher werden massenhaft gekauft. Ein junges, gerade | |
30-jähriges Schreibtalent wie der Görlitzer Lukas Rietzschel hat diese | |
Rolle als gefragter Ost-Erklärer inzwischen gründlich satt und möchte am | |
liebsten „das alles hinter sich lassen“. | |
## Oasen im Osten | |
Nicht minder oft als empathischer Übersetzer ostdeutscher Fremdgedanken | |
bemüht wird Frank Richter. Katholischer Priester an der Dresdner Hofkirche, | |
Wegbereiter des friedlichen Herbstes 89, Streitschlichter beim | |
polarisierten Dresdner Zerstörungsgedenken, Direktor der sächsischen | |
Landeszentrale für politische Bildung, SPD-Landtagsabgeordneter und nun | |
wieder im Raum Merseburg zu seinen Ursprüngen als Prediger zurückgekehrt. | |
Am 1. Oktober stellte er in Dresden den von ihm editierten Sammelband | |
„Oasen im Osten“ vor. 40 Autoren beschreiben 23 Orte der Stille, der | |
Zuflucht, der Gemeinschaft, des Engagements, geschützte Räume, aus denen | |
wieder Kraft wachsen kann. Offensichtlich gärt eine Sehnsucht nach solchen | |
Topoi. 20 Lesungen sind bereits vereinbart, darunter einige im Westen. Wo | |
man gar nicht wissen kann, dass die Oase, die Nische die hauptsächliche | |
Lebensform der DDR war und ihre subkulturelle Kreativität begründete. | |
Umfragen wie die von Forsa oder des MDR heben fast ausschließlich auf | |
materialistische Aspekte der innerdeutschen Ungleichheit ab. So wie die | |
„Revolutionäre“ des Herbstes 1989 zuerst nach der D-Mark riefen und weniger | |
nach der Freiheit. In der Tat indizieren alle sozioökonomischen Daten ein | |
anhaltendes Gefälle bei Löhnen, Renten, Vermögen, Bruttoinlandsprodukt, ja | |
sogar bei den Kreditzinsen. Aber das hätten die Ossis doch ahnen können! | |
Denn das auf dem Matthäusevangelium beruhende Grundgesetz des Kapitalismus | |
„Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ kursierte als flotter | |
Spruch auch schon in der DDR. | |
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb schloss schon am Tag seines Berichtes | |
über die deprimierende Forsa-Umfrage die Kommentarfunktion. Zu viele | |
Regelverstöße, im Klartext Sudeleien. Ein indirekter Hinweis darauf, dass | |
Demoskopen die tieferen Beweggründe, die emotionalen Aspekte nicht | |
abfragen. | |
Bei Buchpräsentationen wie der von Frank Richter kann man sie studieren. | |
Zumindest in der Generation, die Vor- und Nachwende noch vergleichen kann, | |
verständigt man sich über Codizes in einer Ostsprache. | |
Trotzig-emanzipatorische Wortwahl, die die SED-Funktionäre damals auch | |
nicht verstanden. Obschon kaum jemand bestreitet, dass äußerlich vieles | |
toll geworden ist in 35 Jahren, schwingt dabei eine stille | |
Gewinn-Verlust-Bilanz mit. Dabei wirken nicht nur die gebrochenen | |
Biografien in den angeblich blühenden Landschaften nach der Währungsunion. | |
## Unterschätzte Brüche | |
Die mentalen Brüche werden meist unterschätzt, meinte auch der langjährige | |
Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow in der ARD-Diskussionssendung | |
„Mitreden“ am Donnerstagabend. Aus Nachbarn werden Fremde, aus Kollegen | |
Konkurrenten. Die perverse Grenzmauer relativiert sich, weil sie inzwischen | |
gerade in der westlichen Welt als probates Mittel der Abschottung nach | |
innen und außen gilt und weil längst millionenfach neue Zäune und Mäuerchen | |
die Besitztümer schützen. | |
Antiquierte Begriffe wie Lebensfreude oder Zuversicht gehören schon gar | |
nicht mehr in den Duden. Ja, die Dächer sind inzwischen dicht und ein | |
schnelles Auto steht vor der Tür. Aber für die renovierte Wohnung muss man | |
einen immer größeren Teil seines Einkommens abzweigen, und oft war man vor | |
40 Jahren mit dem Trabi schneller am Fahrziel. | |
Zu taz-Bildungsreisen in die ostdeutschen Länder kommen die aufgeklärtesten | |
und interessiertesten Westdeutschen. Demgegenüber lernt man aber auch die | |
60-jährige bayerische promovierte Studienrätin kennen, die den berüchtigten | |
Jugendwerkhof Torgau mit der gesamten DDR gleichsetzt und überzeugt ist, | |
dass Ferienheime an der Ostsee ausschließlich Funktionären vorbehalten | |
waren. Ein 20-Jähriger, der sich betont als Wessi bezeichnet, ätzt gegen | |
die Theaterkritik an einem einseitigen Doku-Stück über Torgau und spricht | |
dem Ostfossil die Kenntnis seines eigenen Lebensraums ab. | |
Sowohl West-Ignoranz als auch DDR-Verklärung setzen sich erwiesenermaßen in | |
der zweiten Generation fort. Sollte das von den Hallensern nur verspottete | |
und 250 Millionen teure „Zukunftszentrum Deutsche Einheit“ je zu einer | |
nützlichen Arbeit gelangen, müsste es sich zu radikaler Ehrlichkeit | |
jenseits des Master-Narrativs durchringen. | |
3 Oct 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/ostwest-einheit-demokrat… | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/umfrage-35-prozent-der-menschen-halten-ost-u… | |
[3] https://kirche-dresden.de/news/markt-der-demokratie-am-freitag-3-oktober-20… | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
## TAGS | |
Deutsche Einheit | |
Tag der Deutschen Einheit | |
Saarbrücken | |
DDR | |
GNS | |
Tag der Deutschen Einheit | |
Wahlen in Ostdeutschland 2024 | |
Deutsche Einheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Scholz in Schwerin: „Deutsche Einheit unvollendet“ | |
Bei einer zentralen Feier im Mecklenburgischen Staatstheater findet Kanzler | |
Scholz mahnende, aber auch lobende Worte. | |
34 Jahre deutsche Einheit: Geteilte Wahrnehmung | |
Ohne radikale Ehrlichkeit bleibt das „Zukunftszentrum deutsche Einheit“ nur | |
ein Placebo. Für verlogene Narrative ist heute kein Platz. | |
Gegendemo zum Einheitsfest in Hamburg: Ein Plakat verschwindet | |
Wie angekündigt darf Deutschland nicht als „ein Stück Scheiße“ bezeichnet | |
werden. Doch der Protest gegen die Einheitsfeier bleibt friedlich. |