| # taz.de -- Klasse und Familie: Das Prinzip Clan-Herrschaft | |
| > Der Liberalismus wollte Klasse als soziale Struktur überwinden. Aber nun | |
| > definieren die Rechten Klasse neu, und Familie soll wieder heilig werden. | |
| Bild: Willkommenskultur: Ein Familienfreund auf einer AFD-Kundgebung 2017 in Ma… | |
| Ich habe, nenn es Glück oder Pech, eine mehr oder weniger intensive | |
| Beziehung zu Familienbanden höchster sozialer Divergenz. Honoré de Balzac | |
| oder Emile Zola könnten neidisch geworden sein ob solcher Vielfalt in einem | |
| Familienroman: Da sind Bauern und Handwerker, Bourgeois, komplett mit | |
| Unternehmen und Reichtum, Kleinbürger jeder Art, von Beamten bis zu | |
| berufsmäßigen Dissidenten. Auch einen katholischen Pfarrer und eine | |
| protestantische Ordensfrau (doch, das gibt’s!) gehören zu den Lebensweisen, | |
| die von einem imaginären Zentrum ausgehen. Familie ist eben Schicksal, | |
| irgendwie. | |
| In den Einzelteilen dieses unsicheren Netzes, gemeinhin „Kleinfamilie“ | |
| genannt, wird freilich das andere Schicksal verwaltet, gepflegt, | |
| verabscheut: das Schicksal der Klasse. Und so brechen noch im | |
| feuchtfröhlichsten oder sentimentalsten Zusammentreffen (vorzugsweise bei | |
| Hochzeiten und Todesfällen) einer Familie gern auch wieder [1][die | |
| Klassengegensätze] auf, mal in Form übertriebener Rücksichtnahme, mal in | |
| Form schierer Verachtung. Dass jeder Mensch [2][zugleich einer Klasse und | |
| einer Familie] angehört, ist Stoff für Dramen und Komödien genug. Im | |
| Theater und im Kino müssen wir über das lachen, woran wir im wirklichen | |
| Leben fast verzweifeln können. | |
| Was daraus befreit, ist [3][die unvergleichliche Individualität]. Familie | |
| hin und Klasse her, ich bin schließlich immer noch ich, the one and only | |
| Schorsch. Dreimal also wurde dieser Kerl „konstruiert“, durch seine | |
| Familie, durch seine Klasse und durch seine Biografie. Und die wiederum | |
| wurde maßgeblich durch seine Versuche geprägt, sich der einen oder der | |
| anderen Ordnung der Welt zu versichern oder sich ihr zu entziehen. Das | |
| Dreieck von Familie, Klasse und Individualität jedenfalls ist nicht so | |
| stabil, wie es Religionen, Regierungen und Ideologien gern hätten. Die | |
| Familie kann mich mal (diese bornierten und korrupten Arschlöcher!) Und die | |
| Klasse… äh, welcher Klasse gehöre ich eigentlich an? Schließlich verlief | |
| auch mein Sozial- und Erwerbsleben alles andere als linear. | |
| Man durchlief proletarische, prekäre, gegenkulturelle und kleinbürgerliche | |
| Stadien, nur um dann genau dort zu landen, wo man am wenigsten hinwollte: | |
| mittenmang in der Mittelschicht. Hier kann man vielleicht ein bisschen | |
| Ironie pflegen, aber mit dem Klassenbewusstsein ist es nicht weit her. | |
| Deswegen entwickelte sich hier die Tendenz, in moralischem Eifer sich um | |
| die Angelegenheiten anderer Klassen, anderer Länder und anderer Systeme zu | |
| kümmern. Weil man am eigenen Ort keinen rechten Sinn findet, muss er wohl | |
| irgendwo da draußen liegen. | |
| ## Liberalismus, Klasse, Familie | |
| Das dazugehörige System nennt man Liberalismus. Es besagt, dass dieses | |
| Individuum, genauer gesagt seine Freiheit und sein Besitz das Zentrum aller | |
| Bemühungen um die Ordnung der Welt sei. Sowohl die Familie als auch die | |
| Klasse, wenn man im Liberalismus überhaupt von so etwas spricht, sollen | |
| dafür nur Hilfsmittel sein. Das hört sich zunächst mal ganz okay an, | |
| zumindest so lange, als genug für alle da ist und der Staat – in | |
| Deutschland laut Grundgesetz dazu verpflichtet – die ärgsten Ungleichheiten | |
| fürsorglich bearbeitet. Aber [4][nach und nach wird dieser Liberalismus] | |
| gegenüber der familiären wie gegenüber der Klassenstruktur blind. Am | |
| liebsten erklärt er alles, was nicht direkt mit individueller Freiheit und | |
| Besitz zu tun hat, zum kulturellen Außenbezirk, in den sich ein anständiger | |
| Liberaler nie ohne wissenschaftliche Begleitung zu begeben hat. In | |
| Krisenzeiten oder unter einer Regierung zum Beispiel, die schon im Namen | |
| die Pointe ihres schlechten Witzes verrät, gelangen die inneren | |
| Schwierigkeiten des Liberalismus wieder an die politische Oberfläche. | |
| Nun erinnert ein Häufchen versprengter Linker an die Klasse und die Kämpfe, | |
| die mit ihr und für sie geführt werden, derzeit offensichtlich von oben und | |
| käme gern wieder auf das Sein zu sprechen, das bekanntlich das Bewusstsein | |
| bestimmt. Ein rechter Mainstream drängt indes in die genau entgegengesetzte | |
| Richtung: Die Familie soll wieder heilig werden. Mehr noch, wir sollen alle | |
| nur noch eine große Familie sein, und diese Familie soll den Namen „Volk“ | |
| tragen. Und das eine soll das andere errichten: Nach einer der mittlerweile | |
| verbreiteten Untersuchungen zum Verhalten anti-demokratischer | |
| (antiliberaler!) Rechter und ihres Nachwuchses kommen die jugendlichen | |
| Neofaschisten mit der rechten Bewegung am meisten vermittels ihrer Familie | |
| in Kontakt und am ausgeprägtesten scheint dabei die Funktion des Vaters zu | |
| sein. | |
| Der [5][Liberalismus in seiner jetzigen Form] – nennen wir ihn den | |
| verblödeten Liberalismus – steht dieser Entwicklung ratlos gegenüber: In | |
| der politisch-ökonomischen Wirklichkeit wird die Struktur einer gnadenlosen | |
| Klassengesellschaft wieder errichtet, die der Liberalismus in seiner | |
| Verbindung von Demokratie und Kapitalismus zu überwinden versprach, und in | |
| der politisch-mythologischen Reaktion wird die Struktur des Familiären als | |
| Ordnungsmacht gefordert. | |
| ## Selbst die Mafia ist familiär organisiert | |
| Tatsächlich funktioniert ja auch die Mafia nur, insofern sie „familiär“ | |
| organisiert ist, hierarchisch aber auch schützend. Und die | |
| Organisationsstruktur der populistischen Rechten offenbart, wenn sie einen | |
| Bereich der Macht okkupiert haben, ihre familiäre Struktur: Donald Trump, | |
| Giorgia Meloni oder Marine Le Pen. Sie alle festigen ihre Macht, indem sie | |
| ihre Familienmitglieder in einflussreiche Positionen hieven. An die Stelle | |
| der liberalen Meritokratie und der demokratischen Wahl tritt das Prinzip | |
| einer „Clan-Herrschaft“: Das Prinzip Familie, als Herrschaftspraxis und | |
| zugleich als völkischer Wunschtraum, triumphiert über die Prinzipien Klasse | |
| und Individualität. | |
| Der Liberalismus, wie wir uns an ihn gewöhnt haben, hat die Fähigkeit | |
| verloren, zwischen familiärer und Klassenstruktur einer Gesellschaft zu | |
| vermitteln. Das Dreieck ist zerbrochen. Und damit die innere Stabilität | |
| einer Zivilgesellschaft, die sich in der Tat als Zivilisationsprojekt | |
| verstand. Wird Zeit, sich [6][etwas Neues] auszudenken. | |
| 28 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Georg Seeßlen | |
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